Erdbeeren
2
1929
Der
Glasermeister schickte mich
um Schnaps. Ich fragte den Schneider: „Meister, soll ich gehn? Ihr
Schwager
schickt mich.“
Es
war meine Pflicht, den
Schneider zu fragen. Es kränkte den Glaser Er besaß, wie alle Glaser,
einen
Diamanten zum Schneiden der Scheiben. Der schneidet die Scheiben wie
Butter,
sagte er. Ich war damals überzeugt, daß ein Diamant-und sei es auch
einer zum
Glasschneiden – einen unschätzbaren Wert besitze. Ich verstand nicht,
warum der
Glaser diesen Stein nicht verkaufte, um ein reicher Mann zu werden und
in einem
Palast zu wohnen.
Wenn
ich ihn fragte: „Warum
verkaufen Sie Ihren Stein nicht?“, so sagte er: „Wovon soll ich denn
leben?“
Und er lebte doch von seinem Schwager.
Eines
Tages ging der Diamant
verloren.
„Kroj
hat ihn gestohlen!“ sagte
der Glasermeister.
Es
war ein Winterabend, ich lag
auf meiner Ofenbank, die mein Bett war. Die Petroleumlampe war nahe am
Erlöschen. Es stank nach Rauch und Fett und dem Urin der Kinder. Man
hörte den
Wind. Es klang wie das Schleifen von Stahl an Steinen. So hart fuhr er
über den
gefrorenen Schnee. Er wetzte die Häuser. Unser Ofen begann zu erkalten.
Es war
eine jener traurigen Stunden, in denen der Mensch fühlt,
wie die Wärme unaufhaltsam
entweicht, wie die Kälte durch den Schornstein in den Ofen gleitet, ein
Eisklumpen. In solchen Stunden bildet man sich ein, daß trotz allem
dieser
letzte Rest der Wärme noch bleiben könnte. Die Kälte wird im
Schornstein
steckenbleiben. Man klammert sich an den Ofen. Man drückt ihn an
sich. Man
gibt ihm, um ihn zu
ermuntern, von seiner Eigenwärme. Man weiß dennoch, daß nichts mehr
helfen
kann.
Der
Glaser holte die
Petroleumkanne - sie stand unter der Ofenbank -, goß neue Nahrung in
die Lampe,
es wurde hell, als wäre es sechs Uhr abends, und mein Meister, der
Schneider,
saß da und rührte sich nicht. Die Bewegungen des Glasers waren langsam
und
präzise, von einem einzigen Gedanken gelenkt, wie eine Truppe von einem
Feldherrn.
Ich
wußte, was kommen würde, und
rührte mich nicht. Ich war nicht erschrocken, nicht gekränkt. Mich
schmerzte
nicht der Verdacht des Glasers, sondern die Feigheit des Schneiders.
Ja,
ich bewunderte den Glaser.
Seine Bedachtsamkeit war von einer inneren Freude erhellt. In seinem
gelben
weichen Angesicht, das aus dem Kitt für Fensterscheiben gemacht schien,
spielte
eine stille, versonnene, süße Heiterkeit. Er sah mich nicht an. Aber er
dachte
unaufhörlich an mich. Ich fühlte es. Seine Gedanken umklammerten mich
wie böse,
weiche, unerbittliche Schlingpflanzen.
Er
brachte die Lampe vorsichtig
an meine Ofenbank. „Steh auf!“ sagte er.
Er
durchsuchte meinen Ranzen,
mein Leintuch mit schleichenden, stillen Fingern. Seine Hände waren wie
Füße in
Strümpfen.
Seine
Heiterkeit löste sich auf.
Das gelbe, weiche, breite Angesicht war von spärlichen blonden
Haarstappeln
bewachsen. Ich zählte sie. Es waren achtundvierzig.
Er
fand nichts auf meiner
Ofenbank und nichts in meinen Taschen. Er kehrte sie um, ihr Inneres
hing
schlaff, gelb, schmutzig an meinem Rock und an meinen Hosen. Alle meine
Habseligkeiten lagen auf dem Tisch. Ich schämte mich meiner
rechtmäßigen Güter
mehr, als wenn man den Diamanten gefunden hätte. Im hellen Schein der
wiedererwachten, mit doppelter Kraft leuchtenden, bis zum Rand
gefüllten Lampe
lagen meine Scheren, zwei runde Kieselsteine, eine flache grüne Kreide,
ein
Taschenspiegel, ein schweres Messer mit stehender Klinge und einer Öse
am Griff
und ein braunes, gleichmäßig gerilltes Horn.
„Ein
Raubmörder!“ rief der Glaser
und wog mein Messer in den Händen.
„Hinaus,
hinaus, hinaus!“ schrie
er auf einmal. Er schrie dieses Wort wohl zwölfmal hintereinander. Er
hatte den
ganzen Wortschatz vergessen und nur dieses eine Wort behalten.
Ich
sah den Schneider an. Er fing
eine Fliege, eine matte, graue Winterfliege, hielt sie an den Flügeln
fest und
zählte ihre krank zappelnden Füße.
Dann
zog ich den kurzen Pelz
meines Vaters an, schob alle meine Gegenstände in die Taschen und ging.
Nach
einigen Minuten hörte ich
meinen Namen rufen. Es war der Schneider. Er lief, gebückt und schief,
seine
Rockschöße wehten im Wind. Ich erwartete ihn. Er drückte mir einen
kleinen
Beutel in die Hand. Es war sein Geldbeutel aus runzligem, kaltem Leder
mit
verrostetem Schloß.
Mir
scheint, daß der Schneider
damals geweint hat.
Unsere
Stadt war in den
Winternächten grausam. Der Schnee war eine Maske über ihrer
Niedrigkeit. Er
erstickte die zankenden Stimmen, die aus den Häusern kamen. Jedes Haus
trug
braune geschlossene Fensterläden mit schmalen gelben Lichtstreifen. An
manchen
Straßenecken brannten tanzende rote Flämmchen in gelben
Petroleum-Laternen. Der
Schnee leuchtete sanft und schmerzend zugleich. Der Wind bürstete die
Dächer,
der weiße Staub flog auf. Der Wind lag wie eine kalte Hand
vor dem Mund. Tief unter dem
Schnee lagen die Holzplatten, aus denen bei uns der Bürgersteig
bestand. Man
trat bis zum Knie in den Schnee.
Es
schneite immer noch. Ich
konnte den Himmel nicht sehn. Kein Tor war offen. Zwei alte Männer
gingen
lautlos. Sie trugen lange Stöcke. Ich ging die Straße entlang, die zum
Friedhof
führte. Ich wollte eigentlich in die umgekehrte Richtung - zum Bahnhof.
Aber
ich muß damals die Richtungen verwechselt haben. Vielleicht dachte ich,
daß der
Bahnhof erst am Morgen geöffnet würde, indessen ein Friedhof den ganzen
Tag und die ganze Nacht
offen sein müßte.
Es
brannte Licht in der
Totenkammer. Der alte Pantalejmon schlief neben den Toten. Ich kannte
ihn, er
kannte mich auch. Denn es war in unserer Stadt Sitte, zum Friedhof
spazierenzugehn. (Andere Städte haben Gärten und Parks. Wir hatten
einen
Friedhof. Die Kinder spielten zwischen den Gräbern. Die Alten saßen auf
den
Steinen und rochen die Erde, die aus unsern Ahnen bestand und die sehr
fett
war.
Ich
ging in die Totenkammer. Es
lag da die Leiche eines Bettlers, der am nächsten Tag begraben werden
sollte.
Ich weckte Pantalejmon.
Er
hatte einen tiefen Schlaf, wie
alle Krankenwärter und Totengräber. Er glaubte, daß der tote Bettler
ihn wecke,
und er sagte im Halbschlaf: „Sei ruhig, Peter Onucha, morgen wirst du
begraben!“
Als
er die Augen aufschlug - er
hatte so kleine Augen zwischen dichtem Haar-, Brauen- und
Wimperngestrüpp, daß
man nicht wissen konnte, ob er sie schon aufgeschlagen hatte -,
erkannte er
mich. „Der Schneider hat mich hinausgeworfen!“ sagte ich zu
Pantalejmon.
Pantalejmon
setzte sich. Seine
Beine umspannte ein dickes, rohes Katzenfell.
Seine
Pelzweste war offen.
„Du
hast gestohlen!“ sagte
Pantalejmon.
Ich
erklärte ihm die Geschichte.
Ich schwor, daß ich den Diamanten nicht gestohlen hatte.
Pantalejmon
aber flüsterte mir
ins Ohr: „Wo hast du den Diamanten versteckt, du Schlauer! Du kluges
Bürschchen! Wo hast du ihn versteckt? Mir kannst du es sagen!“
In
dieser Nacht lernte ich, daß
es keinen Sinn hat, die Wahrheit zu sagen, und daß es leichter ist,
einem
Ungläubigen Gott zu erklären als einem Ehrlichen einen Diebstahl und
einem Dieb
Ehrlichkeit.
Denn
Pantalejmon war ein Dieb.
Ich
nehme es ihm nicht übel, daß
er ein Dieb war. War er denn überhaupt einer, wenn er doch gar nicht
stahl? Wer
würde nicht stehlen, wenn er nur könnte?
Ich
nehme Pantalejmon auch seinen
Verdacht nicht übel. Ich habe es ihm zu danken, daß ich nicht erfroren
und
verhungert bin. Ich blieb bei ihm und half ihm, Gräber graben und
Steine
schmücken. An Totensonntagen teilten wir das Trinkgeld und den Erlös
für die Kerzen.
Ich
begann, die Toten zu lieben
und von allen Lebenden nur Pantalejmon. Ich schlief in seinem Haus, und
mein
Bett war wieder eine Ofenbank. Ich hatte viel zu tun, um zwischen
Pantalejmon,
seiner Frau und seinen drei Kindern Frieden zu stiften.
Pantalejmons
Frau achtete ihren
Mann nicht. Sie verließ ihn auch nicht, obwohl sie immer drohte, für 10
Jahre
wegzugehn. Pantalejmon war keine Autorität. Seine Frau schlug ihn. Er
ließ sich
schlagen.
Mehrere
Persönlichkeiten hatten
schon versucht, die Ehe Pantalejmons zu bessern. Unter ihnen war die
vornehmste
der Herr Graf, unser Graf. So nannten wir den Herrn, der nahe der Stadt
ein
Schloß bewohnte und jeden Tag durch die Straßen der Stadt wanderte, als
wäre er
kein Graf.
Er
war ein guter Mensch, er
liebte alle Menschen und besonders Pantalejmon.
Pantalejmon
ging im Schloß aus
und ein, er bediente den Grafen, er putzte die Fußböden und die Anzüge
und
besorgte auch delikatere Aufträge.
Der
Graf hatte zwar einige
Diener, aber nur einen Freund: Pantalejmon.
Einmal
im Jahr verließ der Graf
sein Schloß. Er fuhr nach Paris, nach Nizza und Monte Carlo. Seine
Abwesenheit
dauerte drei Monate.
In
dieser Zeit lag Pantalejmon im
Schloß auf der Lauer, er spähte die Lakaien aus, den Gutsverwalter, die
Mägde,
und er schrieb mit seiner kurzen, breiten Hand, die wie ein Spaten war,
jede
Woche Berichte an den Grafen.
Wenn
Pantalejmon ein ganz
gewöhnlicher Dieb gewesen wäre, so hätte
er das ganze Schloß stehlen
können, er war aber ein Dieb, der nicht
stahl. Das war es.
Unser
Graf war von sehr altem
Adel und mit einigen regierenden Häusern in Europa verwandt. Sein
Wappen
bestand aus drei Lilien, die ihre Köpfchen aneinanderschmiegten. Flach,
breit,
zweiseitig geschliffen lag über ihnen ein Schwert.
Der
Graf war ungefähr sechzig
Jahre alt. Er trug immer blaue Anzüge und dunkelblaue Überzieher,
Lackschuhe,
Gamaschen, weiße Handschuhe und einen Regenschirm. Wozu brauchte er
einen? Wenn
es regnete, fuhr er in seinem lackierten dunkelblauen Wagen spazieren.
Die
wenigen Schritte, die er von der Terrasse seines Hauses bis zum Wagen
zurückzulegen hatte, begleitete ihn ein Diener mit einem Schirm. Ich
sah oft,
wie der Lakai, der etwas kleiner gewachsen war als sein Herr, den Arm
hochreckte, mit dem Schirm den ganzen Umfang des Grafen deckte und sich
selbst
den Wassern preisgab. Ja, auch wenn der Graf im Wagen saß und in der
kurzen
Zeit, in der die Pferde anzogen und der Kutscher die Peitsche aus dem
Futteral
zog, stand der Diener mit zugeklapptem Regenschirm, ohne Hut und
triefend,
einige Schritte
vor dem Wagen. Ins Haus
kehrte er dann ungeschützt zurück, den Regenschirm im Arm, langsam, als
wäre er
unempfindlich gegen Wasser, als strahlte die Sonne am Himmel. Es gab
Zeiten, in
denen mir der Diener noch gräflicher erschien als der Graf.
An
schönen Frühlingsnachmittagen
saß der Graf auf der Terrasse des einzigen Kaffeehauses, das unsere
Stadt
besaß, aß Kuchen und plauderte mit Kavallerieoffizieren. Er hatte
Beziehungen
zur Armee, seine Söhne waren Offiziere, er selbst war ein Kenner von
Pferden,
er besaß deren zwölf, und er ritt manchmal einen Schimmel. Den jungen
Offizieren sagte der Graf: Du. Alle grüßten ihn militärisch wie einen
General. Der
Graf salutierte, obwohl er in Zivil war. Er legte nur zwei Finger an
den Rand
seines Zylinders.
Jeden
Freitagmorgen versammelten
sich vor seinem Schloß die Armen unserer Stadt. Der Graf trat auf den
Balkon
und warf Kleingeld hinunter. Er ließ etwa eine halbe Stunde Geld
regnen, dann
winkte er mit der Hand. Alle Bettler riefen dreimal: Hoch lebe der Herr
Graf! –
und zogen ab.
Eine
Frau Gräfin gab es nicht.
Sie war schon lange tot. Dagegen lebte im Schloß eine Dame, die beinahe
eine
Gräfin war, die Witwe nach einem Dragonermajor, der in einem Duell
gefallen
war. Man sagte, der Graf werde sie heiraten. Aber seine Söhne kamen
immer zu
Besuch, wenn die Heirat bevorstand, und die Majorswitwe ward keine
Gräfin.
Es
ist vielleicht gut, daß sie
keine Gräfin geworden ist. Ich sah einmal, wie sie einen Diener schlug,
weil er
mit mir gesprochen und ihre Klingel nicht gehört hatte. Die Armen wären
am Freitag
nicht mehr vor das Schloß gekommen. Der Herr Graf hätte nicht mehr
allein nach
Paris, Nizza und Monte Carlo fahren können. Wer weiß, was aus
Pantalejmon und
mir geworden wäre. Ich selbst habe nämlich unserm Grafen viel
zu verdanken. Ich werde
später noch darauf zurückkommen.
Für
uns alle tat der Graf sehr
viel Gutes. Er achtete darauf, daß aus unserer Stadt nur die
Allerstärksten zum
Militär genommen wurden und nur solche, die nichts zu verlieren hatten.
Jedes
Jahr, wenn die Musterungskommission kam, gingen die
Stellungspflichtigen zum Grafen.
Er lud die Herren von der Kommission ein, sprach mit dem Major, dem
Militärarzt
und warnte sie. Er gab ihnen schöne und schwere Weine und eine Liste
aller
jungen Leute, die sie assentieren durften.
Seine
Methode war nicht immer
zuverlässig. Es gibt eine gewisse Art von Majoren, die sich nichts aus
Grafen
machen und Listen zerreißen.
Deshalb
schien es unsern jungen
Leuten geboten, sich vor der Assentierung auch zu plagen, Gifte
einzunehmen,
die Herzen zu schwächen, Lungenentzündungen zu bekommen, häßliche
Augenkrankheiten und mancherlei Gebrechen. Ja, bei einigen war der
Widerwille
gegen das Militär so groß, daß sie sich die Füße verkrüppeln und Finger
abhacken
ließen. Ich kannte einen rothaarigen Schlosser, der sich die Sehnen an
den Füßen hatte durchschneiden
lassen. Er war sein Leben lang lahm. Ich kannte einen Dachdecker, der
sein
linkes Auge so lange mit scharfen Flüssigkeiten behandelt hatte, bis es
blind
geworden war.
Die
Kommission kam jedes Jahr im
März, sie kam, wie in den Bergen ein Föhn kommt, um den Frühling
anzukündigen.
Dann begannen die jungen Männer, die sich auf den Grafen nicht
verließen,
schwarzen Kaffee zu trinken, mit Mädchen zu schlafen, die Nächte über
zu
wandern. Manche badeten im kalten Wasser, bekamen eine
Lungenentzündung, die
Schwindsucht, sie starben plötzlich oder langsam. Aber sie wurden keine
Soldaten. Die Klügsten wanderten nach Amerika aus.
Um
nach Amerika zu kommen,
brauchte man nicht nur viel Geld, sondern auch falsche Papiere. Einige
Männer
beschäftigten sich mit der Beförderung junger Männer nach Amerika und
mit der
Herstellung falscher Papiere. Sie verdienten viel. Sie waren nicht
zuverlässig.
Im letzten Augenblick, wenn man schon in der Eisenbahn saß und ehe man
noch die
Grenzen des Landes verlassen hatte, schickten sie ein Telegramm an die
Behörde,
und man kam ins Zuchthaus und nicht nach Amerika.
Mit
den Auswanderungsagenten
mußte man gut leben. Man konnte ihnen ihre Vergehen gegen das Gesetz
nicht
nachweisen, aber auch, wenn man es gekonnt hätte, wäre ihnen nichts
geschehen.
Denn sie lebten in unserer Stadt und waren also gefeit gegen jede
Verfolgung.
Bei
uns lebten die Wahnsinnigen,
die Verbrecher, die Unschuldigen, die Törichten, die Klugen, und alle
in
gleicher Freiheit.
Die
Polizei kam zu den Eltern
eines Deserteurs und fragte sie nach Briefen des Verschollenen. Darauf
sagten
die Eltern, ihr Sohn wäre ohne ihr Wissen vom Haus fortgereist und
familiäre
Beziehungen bestünden nicht mehr. Die Polizei schrieb das in ein
Protokoll und sprach
nie mehr davon.