lifedays-seite

moment in time


Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Erdbeeren 2
1929


Der Glasermeister schickte mich um Schnaps. Ich fragte den Schneider: „Meister, soll ich gehn? Ihr Schwager schickt mich.“
 
Es war meine Pflicht, den Schneider zu fragen. Es kränkte den Glaser Er besaß, wie alle Glaser, einen Diamanten zum Schneiden der Scheiben. Der schneidet die Scheiben wie Butter, sagte er. Ich war damals überzeugt, daß ein Diamant-und sei es auch einer zum Glasschneiden – einen unschätzbaren Wert besitze. Ich verstand nicht, warum der Glaser diesen Stein nicht verkaufte, um ein reicher Mann zu werden und in einem Palast zu wohnen.
 
Wenn ich ihn fragte: „Warum verkaufen Sie Ihren Stein nicht?“, so sagte er: „Wovon soll ich denn leben?“ Und er lebte doch von seinem Schwager.
 
Eines Tages ging der Diamant verloren.

„Kroj hat ihn gestohlen!“ sagte der Glasermeister.
 
Es war ein Winterabend, ich lag auf meiner Ofenbank, die mein Bett war. Die Petroleumlampe war nahe am Erlöschen. Es stank nach Rauch und Fett und dem Urin der Kinder. Man hörte den Wind. Es klang wie das Schleifen von Stahl an Steinen. So hart fuhr er über den gefrorenen Schnee. Er wetzte die Häuser. Unser Ofen begann zu erkalten. Es war eine jener traurigen Stunden, in denen der Mensch fühlt, wie die Wärme unaufhaltsam entweicht, wie die Kälte durch den Schornstein in den Ofen gleitet, ein Eisklumpen. In solchen Stunden bildet man sich ein, daß trotz allem dieser letzte Rest der Wärme noch bleiben könnte. Die Kälte wird im Schornstein steckenbleiben. Man klammert sich an den Ofen. Man drückt ihn an sich.  Man gibt ihm, um ihn zu ermuntern, von seiner Eigenwärme. Man weiß dennoch, daß nichts mehr helfen kann.
 
Der Glaser holte die Petroleumkanne - sie stand unter der Ofenbank -, goß neue Nahrung in die Lampe, es wurde hell, als wäre es sechs Uhr abends, und mein Meister, der Schneider, saß da und rührte sich nicht. Die Bewegungen des Glasers waren langsam und präzise, von einem einzigen Gedanken gelenkt, wie eine Truppe von einem Feldherrn.
 
Ich wußte, was kommen würde, und rührte mich nicht. Ich war nicht erschrocken, nicht gekränkt. Mich schmerzte nicht der Verdacht des Glasers, sondern die Feigheit des Schneiders.
 
Ja, ich bewunderte den Glaser. Seine Bedachtsamkeit war von einer inneren Freude erhellt. In seinem gelben weichen Angesicht, das aus dem Kitt für Fensterscheiben gemacht schien, spielte eine stille, versonnene, süße Heiterkeit. Er sah mich nicht an. Aber er dachte unaufhörlich an mich. Ich fühlte es. Seine Gedanken umklammerten mich wie böse, weiche, unerbittliche Schlingpflanzen.
 
Er brachte die Lampe vorsichtig an meine Ofenbank. „Steh auf!“ sagte er.
 
Er durchsuchte meinen Ranzen, mein Leintuch mit schleichenden, stillen Fingern. Seine Hände waren wie Füße in Strümpfen.
 
Seine Heiterkeit löste sich auf. Das gelbe, weiche, breite Angesicht war von spärlichen blonden Haarstappeln bewachsen. Ich zählte sie. Es waren achtundvierzig.
 
Er fand nichts auf meiner Ofenbank und nichts in meinen Taschen. Er kehrte sie um, ihr Inneres hing schlaff, gelb, schmutzig an meinem Rock und an meinen Hosen. Alle meine Habseligkeiten lagen auf dem Tisch. Ich schämte mich meiner rechtmäßigen Güter mehr, als wenn man den Diamanten gefunden hätte. Im hellen Schein der wiedererwachten, mit doppelter Kraft leuchtenden, bis zum Rand gefüllten Lampe lagen meine Scheren, zwei runde Kieselsteine, eine flache grüne Kreide, ein Taschenspiegel, ein schweres Messer mit stehender Klinge und einer Öse am Griff und ein braunes, gleichmäßig gerilltes Horn.

„Ein Raubmörder!“ rief der Glaser und wog mein Messer in den Händen.
 
„Hinaus, hinaus, hinaus!“ schrie er auf einmal. Er schrie dieses Wort wohl zwölfmal hintereinander. Er hatte den ganzen Wortschatz vergessen und nur dieses eine Wort behalten.
 
Ich sah den Schneider an. Er fing eine Fliege, eine matte, graue Winterfliege, hielt sie an den Flügeln fest und zählte ihre krank zappelnden Füße.
 
Dann zog ich den kurzen Pelz meines Vaters an, schob alle meine Gegenstände in die Taschen und ging.
 
Nach einigen Minuten hörte ich meinen Namen rufen. Es war der Schneider. Er lief, gebückt und schief, seine Rockschöße wehten im Wind. Ich erwartete ihn. Er drückte mir einen kleinen Beutel in die Hand. Es war sein Geldbeutel aus runzligem, kaltem Leder mit verrostetem Schloß.
 
Mir scheint, daß der Schneider damals geweint hat.
 
Unsere Stadt war in den Winternächten grausam. Der Schnee war eine Maske über ihrer Niedrigkeit. Er erstickte die zankenden Stimmen, die aus den Häusern kamen. Jedes Haus trug braune geschlossene Fensterläden mit schmalen gelben Lichtstreifen. An manchen Straßenecken brannten tanzende rote Flämmchen in gelben Petroleum-Laternen. Der Schnee leuchtete sanft und schmerzend zugleich. Der Wind bürstete die Dächer, der weiße Staub flog auf. Der Wind lag wie eine kalte Hand vor dem Mund. Tief unter dem Schnee lagen die Holzplatten, aus denen bei uns der Bürgersteig bestand. Man trat bis zum Knie in den Schnee.
 
Es schneite immer noch. Ich konnte den Himmel nicht sehn. Kein Tor war offen. Zwei alte Männer gingen lautlos. Sie trugen lange Stöcke. Ich ging die Straße entlang, die zum Friedhof führte. Ich wollte eigentlich in die umgekehrte Richtung - zum Bahnhof. Aber ich muß damals die Richtungen verwechselt haben. Vielleicht dachte ich, daß der Bahnhof erst am Morgen geöffnet würde, indessen ein Friedhof den ganzen Tag und die ganze Nacht offen sein müßte.
 
Es brannte Licht in der Totenkammer. Der alte Pantalejmon schlief neben den Toten. Ich kannte ihn, er kannte mich auch. Denn es war in unserer Stadt Sitte, zum Friedhof spazierenzugehn. (Andere Städte haben Gärten und Parks. Wir hatten einen Friedhof. Die Kinder spielten zwischen den Gräbern. Die Alten saßen auf den Steinen und rochen die Erde, die aus unsern Ahnen bestand und die sehr fett war.
 
Ich ging in die Totenkammer. Es lag da die Leiche eines Bettlers, der am nächsten Tag begraben werden sollte. Ich weckte Pantalejmon.
 
Er hatte einen tiefen Schlaf, wie alle Krankenwärter und Totengräber. Er glaubte, daß der tote Bettler ihn wecke, und er sagte im Halbschlaf: „Sei ruhig, Peter Onucha, morgen wirst du begraben!“
 
Als er die Augen aufschlug - er hatte so kleine Augen zwischen dichtem Haar-, Brauen- und Wimperngestrüpp, daß man nicht wissen konnte, ob er sie schon aufgeschlagen hatte -, erkannte er mich. „Der Schneider hat mich hinausgeworfen!“ sagte ich zu Pantalejmon.
 
Pantalejmon setzte sich. Seine Beine umspannte ein dickes, rohes Katzenfell.
Seine Pelzweste war offen.
 
„Du hast gestohlen!“ sagte Pantalejmon.
 
Ich erklärte ihm die Geschichte. Ich schwor, daß ich den Diamanten nicht gestohlen hatte.
 
Pantalejmon aber flüsterte mir ins Ohr: „Wo hast du den Diamanten versteckt, du Schlauer! Du kluges Bürschchen! Wo hast du ihn versteckt? Mir kannst du es sagen!“
 
In dieser Nacht lernte ich, daß es keinen Sinn hat, die Wahrheit zu sagen, und daß es leichter ist, einem Ungläubigen Gott zu erklären als einem Ehrlichen einen Diebstahl und einem Dieb Ehrlichkeit.
 
Denn Pantalejmon war ein Dieb.
 
Ich nehme es ihm nicht übel, daß er ein Dieb war. War er denn überhaupt einer, wenn er doch gar nicht stahl? Wer würde nicht stehlen, wenn er nur könnte?
 
Ich nehme Pantalejmon auch seinen Verdacht nicht übel. Ich habe es ihm zu danken, daß ich nicht erfroren und verhungert bin. Ich blieb bei ihm und half ihm, Gräber graben und Steine schmücken. An Totensonntagen teilten wir das Trinkgeld und den Erlös für die Kerzen.
 
Ich begann, die Toten zu lieben und von allen Lebenden nur Pantalejmon. Ich schlief in seinem Haus, und mein Bett war wieder eine Ofenbank. Ich hatte viel zu tun, um zwischen Pantalejmon, seiner Frau und seinen drei Kindern Frieden zu stiften.
 
Pantalejmons Frau achtete ihren Mann nicht. Sie verließ ihn auch nicht, obwohl sie immer drohte, für 10 Jahre wegzugehn. Pantalejmon war keine Autorität. Seine Frau schlug ihn. Er ließ sich schlagen.
 
Mehrere Persönlichkeiten hatten schon versucht, die Ehe Pantalejmons zu bessern. Unter ihnen war die vornehmste der Herr Graf, unser Graf. So nannten wir den Herrn, der nahe der Stadt ein Schloß bewohnte und jeden Tag durch die Straßen der Stadt wanderte, als wäre er kein Graf.
 
Er war ein guter Mensch, er liebte alle Menschen und besonders Pantalejmon.

Pantalejmon ging im Schloß aus und ein, er bediente den Grafen, er putzte die Fußböden und die Anzüge und besorgte auch delikatere Aufträge.
 
Der Graf hatte zwar einige Diener, aber nur einen Freund: Pantalejmon.
 
Einmal im Jahr verließ der Graf sein Schloß. Er fuhr nach Paris, nach Nizza und Monte Carlo. Seine Abwesenheit dauerte drei Monate.
 
In dieser Zeit lag Pantalejmon im Schloß auf der Lauer, er spähte die Lakaien aus, den Gutsverwalter, die Mägde, und er schrieb mit seiner kurzen, breiten Hand, die wie ein Spaten war, jede Woche Berichte an den Grafen.
 
Wenn Pantalejmon ein ganz gewöhnlicher Dieb gewesen wäre, so hätte er das ganze Schloß stehlen können, er war aber ein Dieb, der nicht stahl. Das war es.
 
Unser Graf war von sehr altem Adel und mit einigen regierenden Häusern in Europa verwandt. Sein Wappen bestand aus drei Lilien, die ihre Köpfchen aneinanderschmiegten. Flach, breit, zweiseitig geschliffen lag über ihnen ein Schwert.
 
Der Graf war ungefähr sechzig Jahre alt. Er trug immer blaue Anzüge und dunkelblaue Überzieher, Lackschuhe, Gamaschen, weiße Handschuhe und einen Regenschirm. Wozu brauchte er einen? Wenn es regnete, fuhr er in seinem lackierten dunkelblauen Wagen spazieren. Die wenigen Schritte, die er von der Terrasse seines Hauses bis zum Wagen zurückzulegen hatte, begleitete ihn ein Diener mit einem Schirm. Ich sah oft, wie der Lakai, der etwas kleiner gewachsen war als sein Herr, den Arm hochreckte, mit dem Schirm den ganzen Umfang des Grafen deckte und sich selbst den Wassern preisgab. Ja, auch wenn der Graf im Wagen saß und in der kurzen Zeit, in der die Pferde anzogen und der Kutscher die Peitsche aus dem Futteral zog, stand der Diener mit zugeklapptem Regenschirm, ohne Hut und triefend, einige Schritte vor dem Wagen. Ins Haus kehrte er dann ungeschützt zurück, den Regenschirm im Arm, langsam, als wäre er unempfindlich gegen Wasser, als strahlte die Sonne am Himmel. Es gab Zeiten, in denen mir der Diener noch gräflicher erschien als der Graf.
 
An schönen Frühlingsnachmittagen saß der Graf auf der Terrasse des einzigen Kaffeehauses, das unsere Stadt besaß, aß Kuchen und plauderte mit Kavallerieoffizieren. Er hatte Beziehungen zur Armee, seine Söhne waren Offiziere, er selbst war ein Kenner von Pferden, er besaß deren zwölf, und er ritt manchmal einen Schimmel. Den jungen Offizieren sagte der Graf: Du. Alle grüßten ihn militärisch wie einen General. Der Graf salutierte, obwohl er in Zivil war. Er legte nur zwei Finger an den Rand seines Zylinders.
 
Jeden Freitagmorgen versammelten sich vor seinem Schloß die Armen unserer Stadt. Der Graf trat auf den Balkon und warf Kleingeld hinunter. Er ließ etwa eine halbe Stunde Geld regnen, dann winkte er mit der Hand. Alle Bettler riefen dreimal: Hoch lebe der Herr Graf! – und zogen ab.
 
Eine Frau Gräfin gab es nicht. Sie war schon lange tot. Dagegen lebte im Schloß eine Dame, die beinahe eine Gräfin war, die Witwe nach einem Dragonermajor, der in einem Duell gefallen war. Man sagte, der Graf werde sie heiraten. Aber seine Söhne kamen immer zu Besuch, wenn die Heirat bevorstand, und die Majorswitwe ward keine Gräfin.
 
Es ist vielleicht gut, daß sie keine Gräfin geworden ist. Ich sah einmal, wie sie einen Diener schlug, weil er mit mir gesprochen und ihre Klingel nicht gehört hatte. Die Armen wären am Freitag nicht mehr vor das Schloß gekommen. Der Herr Graf hätte nicht mehr allein nach Paris, Nizza und Monte Carlo fahren können. Wer weiß, was aus Pantalejmon und mir geworden wäre. Ich selbst habe nämlich unserm Grafen viel zu verdanken. Ich werde später noch darauf zurückkommen.
 
Für uns alle tat der Graf sehr viel Gutes. Er achtete darauf, daß aus unserer Stadt nur die Allerstärksten zum Militär genommen wurden und nur solche, die nichts zu verlieren hatten. Jedes Jahr, wenn die Musterungskommission kam, gingen die Stellungspflichtigen zum Grafen. Er lud die Herren von der Kommission ein, sprach mit dem Major, dem Militärarzt und warnte sie. Er gab ihnen schöne und schwere Weine und eine Liste aller jungen Leute, die sie assentieren durften.
 
Seine Methode war nicht immer zuverlässig. Es gibt eine gewisse Art von Majoren, die sich nichts aus Grafen machen und Listen zerreißen.
 
Deshalb schien es unsern jungen Leuten geboten, sich vor der Assentierung auch zu plagen, Gifte einzunehmen, die Herzen zu schwächen, Lungenentzündungen zu bekommen, häßliche Augenkrankheiten und mancherlei Gebrechen. Ja, bei einigen war der Widerwille gegen das Militär so groß, daß sie sich die Füße verkrüppeln und Finger abhacken ließen. Ich kannte einen rothaarigen Schlosser, der sich die Sehnen an den Füßen hatte durchschneiden lassen. Er war sein Leben lang lahm. Ich kannte einen Dachdecker, der sein linkes Auge so lange mit scharfen Flüssigkeiten behandelt hatte, bis es blind geworden war.
 
Die Kommission kam jedes Jahr im März, sie kam, wie in den Bergen ein Föhn kommt, um den Frühling anzukündigen. Dann begannen die jungen Männer, die sich auf den Grafen nicht verließen, schwarzen Kaffee zu trinken, mit Mädchen zu schlafen, die Nächte über zu wandern. Manche badeten im kalten Wasser, bekamen eine Lungenentzündung, die Schwindsucht, sie starben plötzlich oder langsam. Aber sie wurden keine Soldaten. Die Klügsten wanderten nach Amerika aus.
 
Um nach Amerika zu kommen, brauchte man nicht nur viel Geld, sondern auch falsche Papiere. Einige Männer beschäftigten sich mit der Beförderung junger Männer nach Amerika und mit der Herstellung falscher Papiere. Sie verdienten viel. Sie waren nicht zuverlässig. Im letzten Augenblick, wenn man schon in der Eisenbahn saß und ehe man noch die Grenzen des Landes verlassen hatte, schickten sie ein Telegramm an die Behörde, und man kam ins Zuchthaus und nicht nach Amerika.
 
Mit den Auswanderungsagenten mußte man gut leben. Man konnte ihnen ihre Vergehen gegen das Gesetz nicht nachweisen, aber auch, wenn man es gekonnt hätte, wäre ihnen nichts geschehen. Denn sie lebten in unserer Stadt und waren also gefeit gegen jede Verfolgung.
 
Bei uns lebten die Wahnsinnigen, die Verbrecher, die Unschuldigen, die Törichten, die Klugen, und alle in gleicher Freiheit.
 
Die Polizei kam zu den Eltern eines Deserteurs und fragte sie nach Briefen des Verschollenen. Darauf sagten die Eltern, ihr Sohn wäre ohne ihr Wissen vom Haus fortgereist und familiäre Beziehungen bestünden nicht mehr. Die Polizei schrieb das in ein Protokoll und sprach nie mehr davon.
 
 





   lifedays-seite - moment in time