lifedays-seite

moment in time


Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Erdbeeren 3
1929

 
Die Menschen in unserer Stadt hatten ein Bedürfnis nach Schönheit und nach Werken der Kunst. Seit undenklichen Zeiten gab es bei uns  einen kleinen Park, in dem Kastanienbäume blühten, sehr alte ehrwürdige, dicke Bäume, deren Kronen der Magistrat manchmal schneiden ließ und in deren Schatten an heißen Sommertagen die Menschen schlafen. Der Park war rund, ein Kreis ohne Feld, mit dem Zirkel ausgemessen, von einem hölzernen, graugestrichenen Zaun umgeben, auf den man überhaupt hätte verzichten können - so wenig war es ein Zaun. Er war eher ein hölzerner Ring, an manchen Stellen weich, zersplittert, verfault, an andern zerbrochen, aber im Ganzen immer noch vorhanden, ein lockerer Gürtel an den Hüften des Parks. Er konnte weder Hunden den Eintritt wehren noch den Gassenjungen, die niemals einen der offiziellen Eingänge benutzten. Es war lediglich die Ordnungsliebe unserer Leute, die ihnen geboten hatte, durch eine Linie von mehr symbolischer Bedeutung den Park von der Straße abzugrenzen.
 
In der Mitte des Parks stand eine kleine hölzerne Bude mit schrägem Giebel, an dessen Ende ein Wetterfähnchen angebracht war. Auch diese Wetterfahne war zwecklos. Der Wind drang niemals durch das dichte Blätterdach der Kastanien. Die Windfahne hatte nichts zu tun.
 
Dennoch richteten sich manche nach ihr. Denn es kam vor, daß sie aus rätselhafter Ursache heute nach Westen gerichtet war und morgen nach Norden. Ich glaube, daß irgend jemand sich die Mühe nahm, die Wetterfahne unserer Stadt nach der jeweiligen Windrichtung zu regulieren. Es wird einer von den vielen Verrückten gewesen sein, die bei uns öffentliche Funktionen ausübten.
 
Der wirkliche Zweck der hölzernen Bude war ein anderer: Sie war eigentlich ein Erfrischungspavillon, sie spendete Eis und Sodawasser mit und ohne Sirup und wurde von einer schönen, stattlichen, blonden Frau verwaltet, bei der ich und andere die Liebe gelernt haben. Das Sodawasser, das sie ausschenkte, muß von einer besonderen Art gewesen sein, oder die jungen Männer meiner Heimat waren es.
 
Unser Pavillon war manchmal geschlossen, an Stunden, in denen man es gar nicht erwartet hatte. Mitten am Tage, zu einer Zeit, in der in allen anderen Städten der Welt Sodawasser getrunken wird, war unser Pavillon geschlossen, taub, grau, schweigsam. Die Vögel zwitscherten über ihm in den Kronen. Er war ein verwunschener Pavillon. Kein Geräusch drang aus seinem Innern. Man sah kein Schloß an seiner Tür, er war von innen zugemacht worden.
 
Wann er geöffnet würde, wußte niemand. Aber nach einer Stunde, oder nach zwei, oder nach drei mußte er wieder offen sein. Er war es wirklich. Ein Zauber öffnete und schloß ihn. Niemals sah man, wann es geschah. Auch die jungen Männer, derentwegen er sich schloß, wußten nicht, wieso sie auf einmal eingesperrt waren. Sie hatten auch keine Zeit, auf die Tür zu achten.
 
Der Pavillon war die einzige Zierde unseres Parks und unserer Stadt. Eines Tages schien er unserm Bürgermeister zu gering und der Bedeutung unserer Heimat nicht entsprechend. Infolgedessen errichtete man einen Turm aus roten und gelben Ziegelsteinen, mit einer Uhr, deren Zifferblatt jeden Abend beleuchtet wurde. Nachträglich baute man einen kleinen Laden in den Turm ein, eine Frau siedelte sich dort an und verkaufte Blumen. Es war eine schöne, stattliche, blonde Frau, aber der Blumenladen war immer offen.
 
Das Bedürfnis nach Sodawasser war größer als das nach Blumenschmuck. Die Blumenfrau, die sich unsern Gewohnheiten nicht anpassen konnte, blieb unbeachtet, sie erkrankte bald, sie starb jung. Ihren Laden erbte der Ehemann unserer Blonden, der einzige Hausierer der Stadt, der mit alten Uhren handelte, ein hagerer Mann mit einem Aug'.
 
Zehn Jahre lang hatte er Geschäfte im Gehen gemacht. In seiner Linken lag immer ein Dutzend verdorbener Uhren. Die schweren Ketten aus Nickel und Neusilber hingen an der Hand wie metallene Riemen einer Nagaika. Am Montag war Schweinemarkt. Die Bauern kamen, verdienten Geld und brauchten Schmuck. Unser Hausierer ging von einem Bauernwagen zum andern, schüttelte die Uhren, damit sie tickten, und bot sie den Bauern an.
 
Jetzt wurde er ein vornehmer Kaufmann, er setzte sich in den Blumenladen, hing die Uhren an die Fensterscheibe und ließ die Bauern zu sich kommen. Unser schöner Turm war profaniert. Die Bauern kamen, schleppten die Schweine hinter sich her, sie trugen schmutzige Stiefel, und unser Bürgermeister dachte über ein neues Verschönerungsmittel nach.
 
Alle bedeutenden Städte der Welt haben Monumente. In unserer Stadt war keines.
 
In unserer ganzen Geschichte hätte man umsonst nach einer Persönlichkeit gesucht, die eines Denkmals würdig gewesen wäre.
 
Nicht daß es uns an großen Männern gefehlt hätte! Ich habe einige am Anfang meiner Erzählung erwähnt. Aber nicht einer unter ihnen, der in der Heimat gewirkt hatte und in lebendiger Erinnerung geblieben war! Nicht einer unter ihnen, der nicht bedenkliche Züge eines Empörers, eines Unzufriedenen, eines Revolutionärs getragen hat! Alle hatten die Autorität gehaßt. Die Autorität konnte sich nicht bei ihnen durch ein Denkmal bedanken. Alle hatten die Heimat verlassen. Die Heimat durfte ihnen nicht dafür dankbar sein.
 
Man hätte unserm Herrn Graf ein Denkmal setzen können. Dagegen wehrten sich die Abergläubischen. Sie sagten, ein Denkmal für einen Lebendigen beschwöre dessen Tod und der lebende Graf sei wertvoller als einer aus Stein.
 
Die Abergläubischen wären vielleicht überstimmt worden, wenn wir Geld genug gehabt hätten. Wir hatten nicht viel. Unser Bürgermeister bedurfte zur Errichtung eines Denkmals der Unterstützung, und er mußte den Grafen um ein Darlehen bitten.
 
Wie aber kann man den Grafen um Geld bitten, für ein Denkmal, das

Unsere Stadt wußte keinen Rat. Man suchte in den Chroniken nach großen und würdigen Männern. Man fand einen berühmten Rabbiner. Leider verbietet die jüdische Religion Denkmäler, und außerdem repräsentiert ein Rabbiner nicht genügend.
 
In unserer Stadt lebte ein Dichter. Er schrieb in keiner der Landessprachen.
Er schrieb lateinische Gedichte.
 
Er hieß Raphael Stoklos, beinahe wie ein Grieche. In seiner Jugend wollte er Universitätsprofessor werden. Wenn man aber in einer Stadt geboren ist, die so weit von Universitätsstädten entfernt ist, wenn man kein Geld hat und nicht genug Lebenskunde, bleibt man ein lateinischer Dichter.
  
Stoklos gab Unterricht in alten und neuen Sprachen. Dafür zahlte man ihm ein Zimmer und alle Mahlzeiten. Denn er selbst konnte mit Geld nicht umgehn.
 
Schon war der Magistrat nahe daran, den lebenden Dichter zu verewigen. Da kam Stoklos selbst auf einen Ausweg: Ein berühmter Schriftsteller und Gelehrter des 17. Jahrhunderts war in der Nähe unserer Stadt, in einem immerhin sechs Meilen entfernten Dorf, geboren worden.
 
Damals war unsere Stadt auch noch ein Dorf gewesen. Da sie aber inzwischen die einzige Stadt im Umkreis von zehn Meilen geworden war - gehörte nicht jenes Dorf zu ihr, gehörte nicht jener berühmte Mann zu ihr?
 
Zwar hatte auch er, wie es in seiner Zeit Sitte gewesen war, lateinisch geschrieben. Aber er war schon ebenso lange tot wie seine Sprache. Er stand in der Literaturgeschichte und im Lexikon. Er war berühmt.
 
Unser Graf lieh Geld, man gab einem Steinmetz den Auftrag. Stoklos verschaffte einen Kupferstich, das Porträt des Berühmten.
 
Der Steinmetz schuf einen großen Mann mit Brille, einem flatternden Mantel, einem Buch in der Hand, einer Feder hinterm Ohr. Das war unser Denkmal.
 
Es stand auf einem Sockel aus falschem Marmor. Um den Sockel grünte ein kleiner Rasen. Um den Rasen lief ein rotes Drahtgeflecht. Später pflanzte man Stiefmütterchen auf den Rasen, schöne, große Stiefmütterchen mit weichen, klugen Gesichtern.
 
Wir hatten nun ein Denkmal. Wir standen und saßen davor und betrachteten die Züge unseres großen Landsmannes.
 
Er hatte immer dieselbe Seite seines Buches aufgeschlagen.
 
Im Herbst befürchtete man die schädliche Wirkung der Nässe und der Fröste für den teuren Stein. Man baute ein hohes hölzernes Haus und stülpte es über das Denkmal.
 
Den ganzen Winter lang bis zum April stand unser großer Gelehrter hinter Brettern. Er schlief einen Winterschlaf wie manche Tiere.
 
Wenn der Frühling kam, begann ein Hämmern im Park, man entfernte das Futteral vom Denkmal. Es war auch eines unserer Frühlingssymptome.
 
Das Denkmal ist schon frei! Es wird Frühling! - sagten die Leute im April.  [ ... ]
 
Pantalejmon und ich, wir vergaßen ihn nicht.
 
Eines Tages fand Pantalejmon auf dem Friedhof einen Erhängten. Es war ein Landstreicher, bei uns unbekannt. Er verursachte eine Aufregung in unserer Stadt und selbst in der Umgebung. Denn es geschah nicht alle Tage, wie man sich denken kann, daß einer Selbstmord beging, in einer Welt, in der es niemandem schwerfällt zu leben.

Pantalejmon schnitt den Toten nicht sofort ab. Er holte mich zuerst. Ich schälte gerade Kartoffeln, da kam Pantalejmon und sagte: „Da hängt einer!“
 
„Warum hast du ihn nicht abgeschnitten?“ fragte ich.
 
Pantalejmon antwortete nicht.
 
Wir gingen nun zusammen. Auf dem dünnen Ast eines einsamen Fichtenbaums - weit und breit gab es nur Kreuze und Grabsteine - hing ein dünner Mann. Seine Zungen spitze war blau. Sie lag im linken Mundwinkel wie bei manchen Idioten. Die Füße des Mannes berührten fast den Boden. Ein Brotsack, gefüllt, und eine Blechschale, die leise klapperte, wenn ein Wind die Zweige bewegte, hingen an den Hüften des Mannes.
 
Warum hat er den Brotsack nicht abgelegt? fragte ich mich. Warum hat er die Blechschale nicht abgelegt? Da sein Brotsack noch gefüllt war, warum ging er in den Tod? Einen Tag hätte er noch leben können! Zwei Tage hätte er noch gelebt!
 
Warum geht einer aus dem Leben wie im Winter aus einem Zimmer, in dem kein Ofen steht? Macht die Tür hinter sich zu und streckt uns trotzig und kindisch die Zunge heraus?
 
Ich hatte schon viele Tote gesehn, die in ihren weißen und schmutzigen Betten gestorben waren - die Toten, die in die Kammer kamen, ehe sie zur Erde gingen. Sie alle hatten nichts mehr vom Leben gehabt, sie waren schon Bestandteile des Friedhofs, es war, als wären sie schon lange Jahre vorher tot gewesen, ehe man sie zu uns gebracht hatte.
 
Hier hing ein Toter aufrecht, als lebte er. Sein Fuß bewegte sich, als wollte er noch wandern. Brotsack und Kleider trug die Leiche.
 
Ich faßte damals den Entschluß, niemals Selbstmord zu begehn. [ ... ]
 
Es war unmöglich zu sterben, auf einem Ast zu hängen und von Pantalejmon gefunden zu werden.
 
Übrigens war's für Pantalejmon ein Glück. Man weiß, wie sehr begehrt die Stricke sind, an denen sich jemand erhängt hat. Sie bringen Glück, es ist kein Zweifel.
 
Es war Pantalejmons erster Gedanke, einen Käufer für den Strick zu finden. Wer sollte ihn kaufen? Wer sollte ihn für viel Geld kaufen?
 
Die Reichen sind gewöhnlich nicht abergläubisch. Sie kaufen goldene Ketten und Perlenschnüre, aber keine Stricke aus Hanf. Außerdem haben sie auch ohne jede Anstrengung viel Glück.
 
Blieb der Graf, der ein Reicher war, aber sicherlich auch ein Abergläubischer.

Allein, es war gerade jene Zeit im Jahr, in der unser Herr Graf seine Reise ins Unbekannte unternommen hatte.
 
„Wir könnten“, sagte ich zu Pantalejmon, „den Strick zerschneiden und die einzelnen Teile verkaufen!“
 
„Du bist ein kluges Bürschchen!“ sagte Pantalejmon. „Du hast auch den Diamant versteckt!“
 
Wir zerschnitten den Strick. Die Käufer kamen. Man begrub den Selbstmörder feierlich, ohne Geistlichen, unter dem Baum, auf dem er sich erhängt hatte. Unser Dichter hielt eine Rede auf den unbekannten Fremden, der fern der Heimat, ein Einsamer, Ausgestoßener vielleicht, gestorben war, wer weiß, warum. Sein Schicksal war nicht nur tragisch, es war mehr, nämlich unbekannt.







   lifedays-seite - moment in time