Erdbeeren
3
1929
Die
Menschen in unserer Stadt
hatten ein Bedürfnis nach Schönheit und nach Werken der Kunst. Seit
undenklichen Zeiten gab es bei uns einen
kleinen Park, in dem Kastanienbäume blühten, sehr alte ehrwürdige,
dicke Bäume,
deren Kronen der Magistrat manchmal schneiden ließ und in deren
Schatten an
heißen Sommertagen die Menschen schlafen. Der Park war rund, ein Kreis
ohne
Feld, mit dem Zirkel ausgemessen, von einem hölzernen, graugestrichenen
Zaun
umgeben, auf den man überhaupt hätte verzichten können - so wenig war
es ein Zaun.
Er war eher ein hölzerner Ring, an manchen Stellen weich, zersplittert,
verfault,
an andern zerbrochen, aber im Ganzen immer noch vorhanden, ein lockerer
Gürtel
an den Hüften des Parks. Er konnte weder Hunden den Eintritt wehren
noch den
Gassenjungen, die niemals einen der offiziellen Eingänge benutzten. Es
war
lediglich die Ordnungsliebe unserer Leute, die ihnen geboten hatte,
durch eine
Linie von mehr symbolischer Bedeutung den Park von der Straße
abzugrenzen.
In
der Mitte des Parks stand eine
kleine hölzerne Bude mit schrägem Giebel, an dessen Ende ein
Wetterfähnchen
angebracht war. Auch diese Wetterfahne war zwecklos. Der Wind drang
niemals
durch das dichte Blätterdach der Kastanien. Die Windfahne hatte nichts
zu tun.
Dennoch
richteten sich manche
nach ihr. Denn es kam vor, daß sie aus rätselhafter Ursache heute nach
Westen
gerichtet war und morgen nach Norden. Ich glaube, daß irgend jemand
sich die
Mühe nahm, die Wetterfahne unserer Stadt nach der jeweiligen
Windrichtung zu
regulieren. Es wird einer von den vielen Verrückten gewesen sein, die
bei uns
öffentliche Funktionen ausübten.
Der
wirkliche Zweck der hölzernen
Bude war ein anderer: Sie war eigentlich ein Erfrischungspavillon, sie
spendete
Eis und Sodawasser mit und ohne Sirup und wurde von einer schönen,
stattlichen,
blonden Frau verwaltet, bei der ich und andere die Liebe gelernt haben.
Das Sodawasser,
das sie ausschenkte, muß von einer besonderen Art gewesen sein, oder
die jungen
Männer meiner Heimat waren es.
Unser
Pavillon war manchmal
geschlossen, an Stunden, in denen man es gar nicht erwartet hatte.
Mitten am
Tage, zu einer Zeit, in der in allen anderen Städten der Welt
Sodawasser
getrunken wird, war unser Pavillon geschlossen, taub, grau, schweigsam.
Die
Vögel zwitscherten über ihm in den Kronen. Er war ein verwunschener
Pavillon.
Kein Geräusch drang aus seinem Innern. Man sah kein Schloß an seiner
Tür, er
war von innen zugemacht worden.
Wann
er geöffnet würde, wußte
niemand. Aber nach einer Stunde, oder nach zwei, oder nach drei mußte
er wieder
offen sein. Er war es wirklich. Ein Zauber öffnete und schloß ihn.
Niemals sah
man, wann es geschah. Auch die jungen Männer, derentwegen er sich
schloß, wußten
nicht, wieso sie auf einmal eingesperrt waren. Sie hatten auch keine
Zeit, auf
die Tür zu achten.
Der
Pavillon war die einzige
Zierde unseres Parks und unserer Stadt. Eines Tages schien er unserm
Bürgermeister zu gering und der Bedeutung unserer Heimat nicht
entsprechend.
Infolgedessen errichtete man einen Turm aus roten und gelben
Ziegelsteinen, mit
einer Uhr, deren Zifferblatt jeden Abend beleuchtet wurde. Nachträglich
baute
man einen kleinen Laden in den Turm ein, eine Frau siedelte sich dort
an und
verkaufte Blumen. Es war eine schöne, stattliche, blonde Frau, aber der
Blumenladen war immer offen.
Das
Bedürfnis nach Sodawasser war
größer als das nach Blumenschmuck. Die Blumenfrau, die sich unsern
Gewohnheiten
nicht anpassen konnte, blieb unbeachtet, sie erkrankte bald, sie starb
jung. Ihren
Laden erbte der Ehemann unserer Blonden, der einzige Hausierer der
Stadt, der
mit alten Uhren handelte, ein hagerer Mann mit einem Aug'.
Zehn
Jahre lang hatte er
Geschäfte im Gehen gemacht. In seiner Linken lag immer ein Dutzend
verdorbener
Uhren. Die schweren Ketten aus Nickel und Neusilber hingen an der Hand
wie
metallene Riemen einer Nagaika. Am Montag war Schweinemarkt. Die Bauern
kamen, verdienten
Geld und brauchten Schmuck. Unser Hausierer ging von einem Bauernwagen
zum
andern, schüttelte die Uhren, damit sie tickten, und bot sie den Bauern
an.
Jetzt
wurde er ein vornehmer
Kaufmann, er setzte sich in den Blumenladen, hing die Uhren an die
Fensterscheibe und ließ die Bauern zu sich kommen. Unser schöner Turm
war
profaniert. Die Bauern kamen, schleppten die Schweine hinter sich her,
sie
trugen schmutzige Stiefel, und unser Bürgermeister dachte über ein
neues Verschönerungsmittel
nach.
Alle
bedeutenden Städte der Welt
haben Monumente. In unserer Stadt war keines.
In
unserer ganzen Geschichte hätte
man umsonst nach einer Persönlichkeit gesucht, die eines Denkmals
würdig
gewesen wäre.
Nicht
daß es uns an großen
Männern gefehlt hätte! Ich habe einige am Anfang meiner Erzählung
erwähnt. Aber
nicht einer unter ihnen, der in der Heimat gewirkt hatte und in
lebendiger
Erinnerung geblieben war! Nicht einer unter ihnen, der nicht
bedenkliche Züge
eines Empörers, eines Unzufriedenen, eines Revolutionärs getragen hat!
Alle
hatten die Autorität gehaßt. Die Autorität konnte sich nicht bei ihnen
durch
ein Denkmal bedanken. Alle hatten die Heimat verlassen. Die Heimat
durfte ihnen
nicht dafür dankbar sein.
Man
hätte unserm Herrn Graf ein
Denkmal setzen können. Dagegen wehrten sich die Abergläubischen. Sie
sagten,
ein Denkmal für einen Lebendigen beschwöre dessen Tod und der lebende
Graf sei
wertvoller als einer aus Stein.
Die
Abergläubischen wären
vielleicht überstimmt worden, wenn wir Geld genug gehabt hätten. Wir
hatten
nicht viel. Unser Bürgermeister bedurfte zur Errichtung eines Denkmals
der
Unterstützung, und er mußte den Grafen um ein Darlehen bitten.
Wie
aber kann man den Grafen um
Geld bitten, für ein Denkmal, das
Unsere
Stadt wußte keinen Rat.
Man suchte in den Chroniken nach großen und würdigen Männern. Man fand
einen
berühmten Rabbiner. Leider verbietet die jüdische Religion Denkmäler,
und
außerdem repräsentiert ein Rabbiner nicht genügend.
In
unserer Stadt lebte ein
Dichter. Er schrieb in keiner der Landessprachen.
Er
schrieb lateinische Gedichte.
Er
hieß Raphael Stoklos, beinahe
wie ein Grieche. In seiner Jugend wollte er Universitätsprofessor
werden. Wenn
man aber in einer Stadt geboren ist, die so weit von
Universitätsstädten
entfernt ist, wenn man kein Geld hat und nicht genug Lebenskunde,
bleibt man
ein lateinischer Dichter.
Stoklos
gab Unterricht in alten
und neuen Sprachen. Dafür zahlte man ihm ein Zimmer und alle
Mahlzeiten. Denn
er selbst konnte mit Geld nicht umgehn.
Schon
war der Magistrat nahe
daran, den lebenden Dichter zu verewigen. Da kam Stoklos selbst auf
einen
Ausweg: Ein berühmter Schriftsteller und Gelehrter des 17. Jahrhunderts
war in
der Nähe unserer Stadt, in einem immerhin sechs Meilen entfernten Dorf,
geboren
worden.
Damals
war unsere Stadt auch noch
ein Dorf gewesen. Da sie aber inzwischen die einzige Stadt im Umkreis
von zehn
Meilen geworden war - gehörte nicht jenes Dorf zu ihr, gehörte nicht
jener
berühmte Mann zu ihr?
Zwar
hatte auch er, wie es in
seiner Zeit Sitte gewesen war, lateinisch geschrieben. Aber er war
schon ebenso
lange tot wie seine Sprache. Er stand in der Literaturgeschichte und im
Lexikon. Er war berühmt.
Unser
Graf lieh Geld, man gab
einem Steinmetz den Auftrag. Stoklos verschaffte einen Kupferstich, das
Porträt
des Berühmten.
Der
Steinmetz schuf einen großen
Mann mit Brille, einem flatternden Mantel, einem Buch in der Hand,
einer Feder
hinterm Ohr. Das war unser Denkmal.
Es
stand auf einem Sockel aus
falschem Marmor. Um den Sockel grünte ein kleiner Rasen. Um den Rasen
lief ein
rotes Drahtgeflecht. Später pflanzte man Stiefmütterchen auf den Rasen,
schöne,
große Stiefmütterchen mit weichen, klugen Gesichtern.
Wir
hatten nun ein Denkmal. Wir
standen und saßen davor und betrachteten die Züge unseres großen
Landsmannes.
Er
hatte immer dieselbe Seite
seines Buches aufgeschlagen.
Im
Herbst befürchtete man die
schädliche Wirkung der Nässe und der Fröste für den teuren Stein. Man
baute ein
hohes hölzernes Haus und stülpte es über das Denkmal.
Den
ganzen Winter lang bis zum
April stand unser großer Gelehrter hinter Brettern. Er schlief einen
Winterschlaf wie manche Tiere.
Wenn
der Frühling kam, begann ein
Hämmern im Park, man entfernte das Futteral vom Denkmal. Es war auch
eines
unserer Frühlingssymptome.
Das
Denkmal ist schon frei! Es
wird Frühling! - sagten die Leute im April. [ ... ]
Pantalejmon
und ich, wir vergaßen
ihn nicht.
Eines
Tages fand Pantalejmon auf
dem Friedhof einen Erhängten. Es war ein Landstreicher, bei uns
unbekannt. Er
verursachte eine Aufregung in unserer Stadt und selbst in der Umgebung.
Denn es
geschah nicht alle Tage, wie man sich denken kann, daß einer Selbstmord
beging,
in einer Welt, in der es niemandem schwerfällt zu leben.
Pantalejmon
schnitt den Toten
nicht sofort ab. Er holte mich zuerst. Ich schälte gerade Kartoffeln,
da kam
Pantalejmon und sagte: „Da hängt einer!“
„Warum
hast du ihn nicht
abgeschnitten?“ fragte ich.
Pantalejmon
antwortete nicht.
Wir
gingen nun zusammen. Auf dem
dünnen Ast eines einsamen Fichtenbaums - weit und breit gab es nur
Kreuze und
Grabsteine - hing ein dünner Mann. Seine Zungen spitze war blau. Sie
lag im
linken Mundwinkel wie bei manchen Idioten. Die Füße des Mannes
berührten fast den
Boden. Ein Brotsack, gefüllt, und eine Blechschale, die leise
klapperte, wenn
ein Wind die Zweige bewegte, hingen an den Hüften des Mannes.
Warum
hat er den Brotsack nicht
abgelegt? fragte ich mich. Warum hat er die Blechschale nicht abgelegt?
Da sein
Brotsack noch gefüllt war, warum ging er in den Tod? Einen Tag hätte er
noch
leben können! Zwei Tage hätte er noch gelebt!
Warum
geht einer aus dem Leben
wie im Winter aus einem Zimmer, in dem kein Ofen steht? Macht die Tür
hinter
sich zu und streckt uns trotzig und kindisch die Zunge heraus?
Ich
hatte schon viele Tote
gesehn, die in ihren weißen und schmutzigen Betten gestorben waren -
die Toten,
die in die Kammer kamen, ehe sie zur Erde gingen. Sie alle hatten
nichts mehr
vom Leben gehabt, sie waren schon Bestandteile des Friedhofs, es war,
als wären
sie schon lange Jahre vorher tot gewesen, ehe man sie zu uns gebracht
hatte.
Hier
hing ein Toter aufrecht, als
lebte er. Sein Fuß bewegte sich, als wollte er noch wandern. Brotsack
und
Kleider trug die Leiche.
Ich
faßte damals den Entschluß,
niemals Selbstmord zu begehn. [ ... ]
Es
war unmöglich zu sterben, auf
einem Ast zu hängen und von Pantalejmon gefunden zu werden.
Übrigens
war's für Pantalejmon
ein Glück. Man weiß, wie sehr begehrt die Stricke sind, an denen sich
jemand
erhängt hat. Sie bringen Glück, es ist kein Zweifel.
Es
war Pantalejmons erster
Gedanke, einen Käufer für den Strick zu finden. Wer sollte ihn kaufen?
Wer
sollte ihn für viel Geld kaufen?
Die
Reichen sind gewöhnlich nicht
abergläubisch. Sie kaufen goldene Ketten und Perlenschnüre, aber keine
Stricke
aus Hanf. Außerdem haben sie auch ohne jede Anstrengung viel Glück.
Blieb
der Graf, der ein Reicher
war, aber sicherlich auch ein Abergläubischer.
Allein,
es war gerade jene Zeit
im Jahr, in der unser Herr Graf seine Reise ins Unbekannte unternommen
hatte.
„Wir
könnten“, sagte ich zu
Pantalejmon, „den Strick zerschneiden und die einzelnen Teile
verkaufen!“
„Du
bist ein kluges Bürschchen!“
sagte Pantalejmon. „Du hast auch den
Diamant versteckt!“
Wir
zerschnitten den Strick. Die
Käufer kamen. Man begrub den Selbstmörder feierlich, ohne Geistlichen,
unter
dem Baum, auf dem er sich erhängt hatte. Unser Dichter hielt eine Rede
auf den
unbekannten Fremden, der fern der Heimat, ein Einsamer, Ausgestoßener
vielleicht,
gestorben war, wer weiß, warum. Sein Schicksal war nicht nur tragisch,
es war
mehr, nämlich unbekannt.