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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Erdbeeren 4
1929


Sofort nach dem Begräbnis kamen die Käufer. Am Abend desselben Tages hatten wir viel Geld in der Schublade und kein Stückchen Strick mehr.
 
Der Frau Pantalejmons erzählten wir nichts von unsern Einnahmen. Wir beschlossen, reich zu werden, der Strick hatte uns mutig gemacht, und das klingende Geld, das wir zählten, erheiterte uns wie Schnaps.
 
„Wenn ich morgen noch einen Erhängten finde?“ sagte Pantalejmon.
 
„Die Leute erhängen sich so selten!“ sagte er. „Der Geistliche jagt ihnen einen Schrecken ein. Sie kommen nicht in den Himmel. Woher weiß es der Pfaffe? Man ist im Leben eingesperrt und muß warten, bis Gott den Kerker aufschließt und man in die Freiheit kommt.
 
Wenn aber jemand sich erhängt, auf einem schönen Fichtenbaum, im Sommer, wenn die Vögel zwitschern, der Himmel blau ist und die Fliegen summen, so jagen die Teufel die arme Seele in die Hölle.
 
Wahrscheinlich aber ist das alles gar nicht wahr! Die Leute kommen in die Hölle, ob sie auf den Tod warten oder ob sie sich ihn holen! Es ist alles ganz gleich.
 
Was ist die Folge von all dem?! Daß ich noch hundert Jahre warten kann, ehe ich noch einen so schönen Strick bekomme!“
 
Plötzlich war es mir, als ob mir jemand einen Finger nach dem Ofen ausgestreckt hätte. Ich erblickte den Strick, an dem man die billigen Särge in die Gräber hinunterließ.
 
Ich nahm ein Messer, zerschnitt den Strick und legte die Teile vor Pantalejmon. „Wir werden diesen Strick verkaufen!“ sagte ich.
 
„Wenn er aber kein Glück bringt?“ fragte Pantalejmon.
 
„Ich glaube“, sagte ich, „daß alle Stricke Glück bringen!“
 
Ich hatte wahrscheinlich recht. Fortwährend kamen die Leute, wir verkauften ganz winzige Stückchen, und immer wieder zerschnitten wir neue Stricke.
 
Ich kaufte mir eine neue Pelzmütze und ein Paar Stiefel, Pantalejmon bekam eine Weste. Seiner Frau schenkte er Korallen.
 
Wir waren sehr reich.
 
Ich hätte in die Welt fahren können, nach der ich mich sehnte.
 
„Warte auf den Grafen!“ sagte Pantalejmon, „er wird dir gewiß sagen, wohin du fahren kannst!“
 
Der Sommer lag da und wartete auf sein Ende. Im Herbst mußten die Fremden kommen, die Hopfenhändler aus Österreich, Deutschland, aus England, die reichen Männer, von denen viele Menschen in unserer Stadt lebten.
 
Der Sommer lag da und gebar verschiedene Krankheiten. Vom faulen Obst bekamen die Menschen Bauchweh und starben, in den Brunnen trocknete das Wasser, ein paar Nadelwälder begannen zu brennen, die trockenen Gräser der Steppe entzündeten sich. In den Nächten war der Horizont gerötet, ein beizender Dunst lag in der Luft.
 
Immer neue Gäste kamen in die Totenkammer. Die Behörden ließen ausrufen, daß es gefährlich sei, Wasser zu trinken. Wir tranken heißen Tee, aßen keine Kirschen, nicht einmal die sauren. Birnen und Äpfel waren noch nicht reif.
 
Viele gingen ins Dampfbad, um die Gifte auszuschwitzen. Frau Bardach, die Besitzerin, hatte so viel zu tun, daß sie erkrankte. Nach zwei Wochen war auch sie tot, man begrub sie auf dem jüdischen Friedhof, noch ehe ihr Sohn gekommen war, ihr Sohn, der aus der weiten Welt nur ein paarmal im Jahr schrieb.
 
Sein Onkel, der Bruder der Frau Bardach, war ein reicher Holzhändler in Wien. Wolf, sein Neffe, war noch als Knabe über die Grenze zu seinem Onkel gefahren.
 
Man sagte, er sei ein großer Verteidiger geworden, ein berühmter Mann. Alle waren neugierig, ihn zu sehn.
 
Er kam. Er war wirklich sehenswert. Dieser Herr sollte der Sohn unserer Stadt sein?
 
Wolf Bardach war nicht nur dick, breit, mit funkelnden Brillengläsern mitten im Gesicht, mit einem grauen steifen Hut auf dem Kopf, mit glänzenden roten Backen - Bardach trug auch eine helle karierte Hose. Es war die erste Hose dieser Art in unserer Stadt, nicht einmal der Graf besaß dergleichen.
 
Bardach erbte ein großes Vermögen. Dampfbäder sind ein gutes Geschäft. Wenn Bardach geblieben wäre, um das Geschäft seiner Mutter weiter zu betreiben, so hätte er in einigen Jahren Millionen gemacht.
 
Es fehlte auch nicht an Ratgebern. Leute, die Wolf Bardach noch gekannt hatten, als er ein ganz kleiner Junge war, kamen zu ihm und machten Vorschläge. Wolf Bardach lebte im Hotel, ach, in was für einem Hotel!
 
Denn wir hatten natürlich ein Hotel, am Ende der Straße, die zum Bahnhof führte, stand es. Ein einfaches Häuschen, mit einer Schenke in der Mitte, mit einem lächerlichen Schild vor der Tür. Es stellte einen dicken Ritter vor, der ein Bierkrügel in der hocherhobenen Rechten hielt und dessen Panzer sich vergeblich bemühte, den vorspringenden Bauch zurückzuhalten.
 
Dieses Hotel hatte nicht mehr als drei Zimmer. In allen drei Zimmern standen schlechte Öfen. In keinem der drei Zimmer gab es ein Bett mit Matratzen. Alle Betten hatten Strohsäcke.
 
Ja, es wird auch Ungeziefer gegeben haben. Man nannte es das Hotel zur Wanze. In Wirklichkeit hieß es das Hotel zum trunkenen Bären. Dort wohnte der große Verteidiger Wolf Bardach, ein berühmter Mann, ein Mann in hellen karierten Hosen.
 
Er bewohnte alle drei Zimmer. Für die Fremden gab es kein Obdach mehr. Selbst reiche Leute, die in unsere Stadt kamen, mußten bei den zwei Bäckern übernachten, die ihre Betten vermieten konnten, weil sie in der Nacht backten.
 
Wahrscheinlich haben diese armseligen Verhältnisse des Verkehrswesens unserer Stadt den Herrn Verteidiger bewogen, ein neues Hotel zu errichten.
 
Er beschloß, ein Hotel nach amerikanischem Muster zu erbauen. Es sollte ein Hotel sein, wie es auch in New York stehen könnte.
 
Und man begann zu bauen.
 
Wolf Bardach verkaufte das Dampfbad und das Haus seiner Mutter.
 
Er kaufte fünf kleine Häuser und ließ sie niederreißen.
 
Nicht nur die Häuser kosteten Geld. Auch das Niederreißen kostete. Weil in jedem der fünf Häuser durchschnittlich drei Familien gelebt hatten und weil jede Familie viele Kinder hatte, mußte der Herr Bardach auch noch Baracken bauen, um alle obdachlosen Menschen unterzubringen.
 
Es gab also Arbeit in unserer Stadt. Die ältesten Männer, Männer mit weißen Bärten, die man höchstens zu Ofenreparaturen im Winter gerufen hatte, kletterten hurtig auf die Gerüste. Sie waren eine Art bärtiger Wiesel.
 
Auch ich fand Arbeit. Ich hatte ein Notizbuch, notierte Zentimeter und Meter und zählte Bretter, Pfosten, Ziegelsteine.
 
Ich war nicht der einzige. Mit mir standen einige intelligente junge Leute und notierten.
 
Es wäre sicherlich auch ohne uns gegangen.
 
Das Hotel bekam fünf Stockwerke. Es war das größte Haus im Umkreis von zehn Meilen.
 
Weiß, hoch, einsam ragte es über die Welt. Die alten Leute bei uns, die nichts vom Fortschritt hielten, waren erbost. Das Hotel erinnerte sie an den Turm von Babel.
 
Dennoch wuchs es munter.
 
Der Ingenieur, der es baute, stieg eines Tages auf das Gerüst, fiel hinunter und war zerschmettert.
 
Man begrub ihn in der Mitte zwischen dem christlichen und dem jüdischen Friedhof, weil man seine Konfession nicht mehr hatte feststellen können.
 
Sein Tod rief eine gewaltige Erregung hervor. Aber Bardach, ein moderner Mann, ließ sich durch nichts abhalten, er ließ einen neuen Ingenieur kommen und baute weiter.
 
Nach vier Monaten, der Schnee lag schon dicht auf den Straßen, mußte er innehalten.
 
Aber als die ersten Schwalben kamen, war Herr Bardach wieder bei uns. Man baute weiter.
 
An einem heißen Julitag war endlich das Werk fertig. Aber nun war auch das Geld zu Ende.
 
Gläubiger kamen. Schuldscheine kamen. Nur Reisende kamen nicht, und alle 200 Zimmer standen leer.
 
Um sich zu retten, errichtete man ein Kaffeehaus im Parterre, ein Kaffeehaus mit klassischer Musik. Aber es kamen keine Gäste.
 
Die Musik spielte vor leeren Tischen. Ein paar reiche Offiziere gingen hinein, spielten eine Partie Billard und gingen wieder fort.
 
Statt drinnen zu sitzen und das Leben zu genießen, standen die Einwohner unserer Stadt draußen, vor den Fenstern, die durch dichte grüne Vorhänge geschützt waren.
 
Die Bewohner unserer Stadt tranken ihren Kaffee zu Hause, gingen dann vor die Fenster, hörten die Musik und hatten nichts zu bezahlen. Diese billige Lebensweise konnte unsern Hotelbesitzer nicht retten. Er packte eines Tages in der Stille seine Koffer und war verschwunden.
 
Immerhin hatten wir etwas Geld verdient. Wir besaßen ein neues Hotel. Wenn die Reisenden kamen, wohnten sie dort, saßen auch im Kaffeehaus und hörten die Musik.
 
Aber im Sommer, im Frühling und im Winter blieb das große Haus leer. Ein Portier stand vor der Tür wie ein steinernes Ornament, unbeweglich. Er wurde sichtbar älter, seine goldenen Knöpfe wurden matt, sein schwarzer Frack färbte sich grünlich.
 
Von dem kühnen Erbauer hörte man nichts mehr. Das Dampfbad rauchte jeden Tag lustig gegen den Himmel. Es war stets in Betrieb, im Gegensatz zum Hotel und zum Cafe.
 
Unsere Stadt war arm. Ihre Einwohner hatten kein geregeltes Einkommen, sie lebten von Wundern. Es gab viele, die sich mit nichts beschäftigten. Sie machten Schulden. Bei wem aber liehen Sie? Auch die Geldverleiher hatten kein Geld. Man lebte von guten Gelegenheiten Immer wieder ereignete sich etwas, das die Leute mit Hoffnungen erfüllte. Der große Hotelbau hatte nur Enttäuschungen gebracht. Es kam ein Winter mit frühen und starken Frösten, er überfiel uns wie ein Mörder, Ende November gab es schon 25 Grad. Die Vögel fielen starr von den Bäumen, jeden Morgen konnte man sie auflesen. Der Schnee seufzte unter den Tritten, der Frost schnitt uns in die Haut mit tausend dünnen Bindfäden, die Öfen platzten vom vielen Holz, der Wind trieb den Rauch in die Schornsteine zurück, so daß wir in den Stuben fast erstickten. Wir konnten die Fenster nicht aufreißen, wir hatten sie schon mit Watte und Zeitungspapier verstopft. Die Fensterscheiben bekleideten sich mit dicken, undurchsichtigen Krusten aus Kristall, Winter, merkwürdigem gläsernem Gesträuch.
 
Die Armen wurden von unserm Herrn Grafen gespeist. Aber die nicht betteln durften, verhungerten, starben, man rannte oft mit Leichen durch die Gassen, die schwarzen Kutscher hieben auf die schwarzen Pferde ein, daß sie galoppierten, und die Hinterbliebenen liefen dem Toten nach, es war, als beeilten sich alle, die Toten und die Lebenden, noch schnell in die überfüllten Gräber zu gelangen. Kein Platz! kein Platz! - schrien die Raben. Diese gefräßigen Vögel hingen schwarz und schwer in den kahlen Ästen, beflügelte Früchte, sie schlugen mit den Flügeln und zankten sich laut, sie flogen vor die Häuser und pickten wie Spatzen an die gefrorenen Fenster, sie waren nah wie schlimme Nachrichten, sie waren fern wie böse Ahnungen, schwarz drohten sie auf schwarzen Ästen und auf dem weißen Schnee.
 
Wie schnell fielen die Abende über uns herein, Abende, die mit einem scharfen Wind kamen, mit glänzenden fernen Sternen auf einem Himmel aus blauem Frost, mit kurzen heftigen Dämmerungen in den Stuben, mit heulenden Teufeln in den Öfen, mit Gespenstern aus Nichts.
 
Eine halbe Stunde im Tag war die Sonne zu sehn. Sie war matt und weiß, von einer gefrorenen Fensterscheibe verhüllt. Die langen schweren Eiszapfen hingen von den tiefen Dächern, eine Art toter Troddeln.
 
Schmale Stege zeichneten sich im tiefen Schnee ab, Fußgänger gingen zwischen weißen hohen Schneedämmen. Es gab nichts Heiteres außer dem Klingeln der Schlittenglocken, sie läuteten fast wie Frühling. Der Frost gab ihnen ein kurzes, aber scharfes, gläsernes Echo, in der Ferne waren sie summende helle junge Fliegen.
 
Aus schwarzen Strichen auf weißer Ebene bestanden die Nadelwälder. Nebel verdeckte die Ferne und die Hügel, die Gewässer lagen gurgelnd unter dicken Fenstern, rings um die Brunnen erhoben sich Kreise aus geschliffenem, starkem, gefährlichem Glas.
 
In diesem Winter, der die Armen noch ärmer machte, erwarteten wir mit mehr Ungeduld als gewöhnlich den reichen Herrn Britz aus dem fernen Peking, den reichen Teehändler, dessen Schutzmarke (eine Waage, von einem Engel gehalten) in der ganzen Welt berühmt ist und den echt chinesischen Tee garantiert.
 
Wenn der Herr Britz kam, ging es allen besser. Er blieb zwei Wochen bei uns, er besuchte das Grab seines Vaters, er besuchte die toten Verwandten und die Lebenden, auch die fremden, bei den reichen Leuten wurde er eingeladen, und die Armen lud er zu sich.
 
Jeden Winter kam er, in der Mitte des Winters, wenn der Frost seine schärfste Stärke erreicht hatte, er kam wie ein Gesandter Gottes. Alle segneten sein Kommen und Gehn.
 
Ich weiß nicht, woher die Leute erfuhren, daß er kommen würde. Jedenfalls wußte man es eines Tages. Der Zug hielt nur Mittwoch bei uns. Und jeden Mittwoch dachten die Leute: Von heute in acht Tagen kommt er! Von heute in 14 Tagen kommt er!
 
 





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