Erdbeeren
4
1929
Sofort
nach dem Begräbnis kamen
die Käufer. Am Abend desselben Tages hatten wir viel Geld in der
Schublade und
kein Stückchen Strick mehr.
Der
Frau Pantalejmons erzählten
wir nichts von unsern Einnahmen. Wir beschlossen, reich zu werden, der
Strick
hatte uns mutig gemacht, und das klingende Geld, das wir zählten,
erheiterte
uns wie Schnaps.
„Wenn
ich morgen noch einen
Erhängten finde?“ sagte Pantalejmon.
„Die
Leute erhängen sich so
selten!“ sagte er. „Der Geistliche jagt ihnen einen Schrecken ein. Sie
kommen
nicht in den Himmel. Woher weiß es der Pfaffe? Man ist im Leben
eingesperrt und
muß warten, bis Gott den Kerker aufschließt und man in die Freiheit
kommt.
Wenn
aber jemand sich erhängt,
auf einem schönen Fichtenbaum, im Sommer, wenn die Vögel zwitschern,
der Himmel
blau ist und die Fliegen summen, so jagen die Teufel die arme Seele in
die
Hölle.
Wahrscheinlich
aber ist das alles
gar nicht wahr! Die Leute kommen in die Hölle, ob sie auf den Tod
warten oder
ob sie sich ihn holen! Es ist alles ganz gleich.
Was
ist die Folge von all dem?!
Daß ich noch hundert Jahre warten kann, ehe ich noch einen so schönen
Strick
bekomme!“
Plötzlich
war es mir, als ob mir
jemand einen Finger nach dem Ofen ausgestreckt hätte. Ich erblickte den
Strick,
an dem man die billigen Särge in die Gräber hinunterließ.
Ich
nahm ein Messer, zerschnitt
den Strick und legte die Teile vor Pantalejmon. „Wir werden diesen
Strick
verkaufen!“ sagte ich.
„Wenn
er aber kein Glück bringt?“
fragte Pantalejmon.
„Ich
glaube“, sagte ich, „daß
alle Stricke Glück bringen!“
Ich
hatte wahrscheinlich recht.
Fortwährend kamen die Leute, wir verkauften ganz winzige Stückchen, und
immer
wieder zerschnitten wir neue Stricke.
Ich
kaufte mir eine neue Pelzmütze
und ein Paar Stiefel, Pantalejmon bekam eine Weste. Seiner Frau
schenkte er
Korallen.
Wir
waren sehr reich.
Ich
hätte in die Welt fahren
können, nach der ich mich sehnte.
„Warte
auf den Grafen!“ sagte
Pantalejmon, „er wird dir gewiß sagen, wohin
du fahren kannst!“
Der
Sommer lag da und wartete auf
sein Ende. Im Herbst mußten die Fremden kommen, die Hopfenhändler aus
Österreich, Deutschland, aus England, die reichen Männer, von denen
viele
Menschen in unserer Stadt lebten.
Der
Sommer lag da und gebar
verschiedene Krankheiten. Vom faulen Obst bekamen die Menschen Bauchweh
und
starben, in den Brunnen trocknete das Wasser, ein paar Nadelwälder
begannen zu
brennen, die trockenen Gräser der Steppe entzündeten sich. In den
Nächten war der
Horizont gerötet, ein beizender Dunst lag in der Luft.
Immer
neue Gäste kamen in die
Totenkammer. Die Behörden ließen ausrufen, daß es gefährlich sei,
Wasser zu
trinken. Wir tranken heißen Tee, aßen keine Kirschen, nicht einmal die
sauren.
Birnen und Äpfel waren noch nicht reif.
Viele
gingen ins Dampfbad, um die
Gifte auszuschwitzen. Frau Bardach, die Besitzerin, hatte so viel zu
tun, daß
sie erkrankte. Nach zwei Wochen war auch sie tot, man begrub sie auf
dem
jüdischen Friedhof, noch ehe ihr Sohn gekommen war, ihr Sohn, der aus
der weiten
Welt nur ein paarmal im Jahr schrieb.
Sein
Onkel, der Bruder der Frau
Bardach, war ein reicher Holzhändler in Wien. Wolf, sein Neffe, war
noch als
Knabe über die Grenze zu seinem Onkel gefahren.
Man
sagte, er sei ein großer
Verteidiger geworden, ein berühmter Mann. Alle waren neugierig, ihn zu
sehn.
Er
kam. Er war wirklich
sehenswert. Dieser Herr sollte der Sohn unserer Stadt sein?
Wolf
Bardach war nicht nur dick,
breit, mit funkelnden Brillengläsern mitten im Gesicht, mit einem
grauen
steifen Hut auf dem Kopf, mit glänzenden roten Backen - Bardach trug
auch eine
helle karierte Hose. Es war die erste Hose dieser Art in unserer Stadt,
nicht
einmal der Graf besaß dergleichen.
Bardach
erbte ein großes
Vermögen. Dampfbäder sind ein gutes Geschäft. Wenn Bardach geblieben
wäre, um
das Geschäft seiner Mutter weiter zu betreiben, so hätte er in einigen
Jahren
Millionen gemacht.
Es
fehlte auch nicht an
Ratgebern. Leute, die Wolf Bardach noch gekannt hatten, als er ein ganz
kleiner
Junge war, kamen zu ihm und machten Vorschläge. Wolf Bardach lebte im
Hotel,
ach, in was für einem Hotel!
Denn
wir hatten natürlich ein
Hotel, am Ende der Straße, die zum Bahnhof führte, stand es. Ein
einfaches
Häuschen, mit einer Schenke in der Mitte, mit einem lächerlichen Schild
vor der
Tür. Es stellte einen dicken Ritter vor, der ein Bierkrügel in der
hocherhobenen Rechten hielt und dessen Panzer sich vergeblich bemühte,
den
vorspringenden Bauch zurückzuhalten.
Dieses
Hotel hatte nicht mehr als
drei Zimmer. In allen drei Zimmern standen schlechte Öfen. In keinem
der drei
Zimmer gab es ein Bett mit Matratzen. Alle Betten hatten Strohsäcke.
Ja,
es wird auch Ungeziefer
gegeben haben. Man nannte es das Hotel zur Wanze. In Wirklichkeit hieß
es das
Hotel zum trunkenen Bären. Dort wohnte der große Verteidiger Wolf
Bardach, ein
berühmter Mann, ein Mann in hellen karierten Hosen.
Er
bewohnte alle drei Zimmer. Für
die Fremden gab es kein Obdach mehr. Selbst reiche Leute, die in unsere
Stadt
kamen, mußten bei den zwei Bäckern übernachten, die ihre Betten
vermieten konnten,
weil sie in der Nacht backten.
Wahrscheinlich
haben diese
armseligen Verhältnisse des Verkehrswesens unserer
Stadt den Herrn
Verteidiger bewogen, ein neues Hotel zu errichten.
Er
beschloß, ein Hotel nach
amerikanischem Muster zu erbauen. Es sollte ein Hotel sein, wie es auch
in New
York stehen könnte.
Und
man begann zu bauen.
Wolf
Bardach verkaufte das
Dampfbad und das Haus seiner Mutter.
Er
kaufte fünf kleine Häuser und
ließ sie niederreißen.
Nicht
nur die Häuser kosteten
Geld. Auch das Niederreißen kostete. Weil in jedem der fünf Häuser
durchschnittlich drei Familien gelebt hatten und weil jede Familie
viele Kinder
hatte, mußte der Herr Bardach auch noch Baracken bauen, um alle
obdachlosen
Menschen unterzubringen.
Es
gab also Arbeit in unserer
Stadt. Die ältesten Männer, Männer mit weißen Bärten, die man höchstens
zu
Ofenreparaturen im Winter gerufen hatte, kletterten hurtig auf die
Gerüste. Sie
waren eine Art bärtiger Wiesel.
Auch
ich fand Arbeit. Ich hatte
ein Notizbuch, notierte Zentimeter und Meter und zählte Bretter,
Pfosten,
Ziegelsteine.
Ich
war nicht der einzige. Mit
mir standen einige intelligente junge Leute und notierten.
Es
wäre sicherlich auch ohne uns
gegangen.
Das
Hotel bekam fünf Stockwerke.
Es war das größte Haus im Umkreis von zehn Meilen.
Weiß,
hoch, einsam ragte es über
die Welt. Die alten Leute bei uns, die nichts vom Fortschritt hielten,
waren
erbost. Das Hotel erinnerte sie an den Turm von Babel.
Dennoch
wuchs es munter.
Der
Ingenieur, der es baute,
stieg eines Tages auf das Gerüst, fiel hinunter und war zerschmettert.
Man
begrub ihn in der Mitte
zwischen dem christlichen und dem jüdischen Friedhof, weil man seine
Konfession
nicht mehr hatte feststellen können.
Sein
Tod rief eine gewaltige
Erregung hervor. Aber Bardach, ein moderner Mann, ließ sich durch
nichts
abhalten, er ließ einen neuen Ingenieur kommen und baute weiter.
Nach
vier Monaten, der Schnee lag
schon dicht auf den Straßen, mußte er innehalten.
Aber
als die ersten Schwalben
kamen, war Herr Bardach wieder bei uns. Man baute weiter.
An
einem heißen Julitag war
endlich das Werk fertig. Aber nun war auch das Geld zu Ende.
Gläubiger
kamen. Schuldscheine
kamen. Nur Reisende kamen nicht, und alle 200 Zimmer standen leer.
Um
sich zu retten, errichtete man
ein Kaffeehaus im Parterre, ein Kaffeehaus mit
klassischer Musik. Aber es
kamen keine Gäste.
Die
Musik spielte vor leeren
Tischen. Ein paar reiche Offiziere gingen hinein, spielten eine Partie
Billard
und gingen wieder fort.
Statt
drinnen zu sitzen und das
Leben zu genießen, standen die Einwohner unserer Stadt draußen, vor den
Fenstern, die durch dichte grüne Vorhänge geschützt waren.
Die
Bewohner unserer Stadt
tranken ihren Kaffee zu Hause, gingen dann vor die Fenster, hörten die
Musik
und hatten nichts zu bezahlen. Diese billige Lebensweise konnte unsern
Hotelbesitzer nicht retten. Er packte eines Tages in der Stille seine
Koffer
und war verschwunden.
Immerhin
hatten wir etwas Geld
verdient. Wir besaßen ein neues Hotel. Wenn die Reisenden kamen,
wohnten sie
dort, saßen auch im Kaffeehaus und hörten die Musik.
Aber
im Sommer, im Frühling und
im Winter blieb das große Haus leer. Ein Portier stand vor der Tür wie
ein
steinernes Ornament, unbeweglich. Er wurde sichtbar älter, seine
goldenen
Knöpfe wurden matt, sein schwarzer Frack färbte sich grünlich.
Von
dem kühnen Erbauer hörte man
nichts mehr. Das Dampfbad rauchte jeden Tag lustig gegen den Himmel. Es
war
stets in Betrieb, im Gegensatz zum Hotel und zum Cafe.
Unsere
Stadt war arm. Ihre
Einwohner hatten kein geregeltes Einkommen, sie lebten von Wundern. Es
gab
viele, die sich mit nichts beschäftigten. Sie machten Schulden. Bei wem
aber
liehen Sie? Auch die Geldverleiher hatten kein Geld. Man lebte von
guten
Gelegenheiten Immer wieder ereignete sich etwas, das die Leute mit
Hoffnungen
erfüllte. Der große Hotelbau hatte nur Enttäuschungen gebracht. Es kam
ein Winter mit frühen und
starken Frösten, er überfiel uns wie ein Mörder, Ende November gab es
schon 25
Grad. Die Vögel fielen starr von den Bäumen, jeden Morgen konnte man
sie
auflesen. Der Schnee seufzte unter den Tritten, der Frost schnitt uns
in die
Haut mit tausend dünnen Bindfäden, die Öfen platzten vom vielen Holz,
der Wind
trieb den Rauch in die Schornsteine zurück, so daß wir in den Stuben
fast erstickten.
Wir konnten die Fenster nicht aufreißen, wir hatten sie schon mit Watte
und
Zeitungspapier verstopft. Die Fensterscheiben bekleideten sich mit
dicken,
undurchsichtigen Krusten aus Kristall, Winter, merkwürdigem gläsernem
Gesträuch.
Die
Armen wurden von unserm Herrn
Grafen gespeist. Aber die nicht betteln durften, verhungerten, starben,
man
rannte oft mit Leichen durch die Gassen, die schwarzen Kutscher hieben
auf die
schwarzen Pferde ein, daß sie galoppierten, und die Hinterbliebenen
liefen dem Toten
nach, es war, als beeilten sich alle, die Toten und die Lebenden, noch
schnell
in die überfüllten Gräber zu gelangen. Kein Platz! kein Platz!
- schrien die Raben. Diese
gefräßigen Vögel hingen schwarz und schwer in den kahlen Ästen,
beflügelte
Früchte, sie schlugen mit den Flügeln und zankten sich laut, sie flogen
vor die
Häuser und pickten wie Spatzen an die gefrorenen Fenster, sie waren nah
wie
schlimme Nachrichten, sie waren fern wie böse Ahnungen, schwarz drohten
sie auf
schwarzen Ästen und auf dem weißen Schnee.
Wie
schnell fielen die Abende
über uns herein, Abende, die mit einem scharfen Wind kamen, mit
glänzenden
fernen Sternen auf einem Himmel aus blauem Frost, mit kurzen heftigen
Dämmerungen in den Stuben, mit heulenden Teufeln in den Öfen, mit
Gespenstern
aus Nichts.
Eine
halbe Stunde im Tag war die
Sonne zu sehn. Sie war matt und weiß, von einer gefrorenen
Fensterscheibe
verhüllt. Die langen schweren Eiszapfen hingen von den tiefen Dächern,
eine Art
toter Troddeln.
Schmale
Stege zeichneten sich im
tiefen Schnee ab, Fußgänger gingen zwischen weißen hohen Schneedämmen.
Es gab
nichts Heiteres außer dem Klingeln der Schlittenglocken, sie läuteten
fast wie
Frühling. Der Frost gab ihnen ein kurzes, aber scharfes, gläsernes
Echo, in der
Ferne waren sie summende helle junge Fliegen.
Aus
schwarzen Strichen auf weißer
Ebene bestanden die Nadelwälder. Nebel verdeckte die Ferne und die
Hügel, die
Gewässer lagen gurgelnd unter dicken Fenstern, rings um die Brunnen
erhoben
sich Kreise aus geschliffenem, starkem, gefährlichem Glas.
In
diesem Winter, der die Armen
noch ärmer machte, erwarteten wir mit mehr Ungeduld als gewöhnlich den
reichen
Herrn Britz aus dem fernen Peking, den reichen Teehändler, dessen
Schutzmarke
(eine Waage, von einem Engel gehalten) in der ganzen Welt berühmt ist
und den
echt chinesischen Tee garantiert.
Wenn
der Herr Britz kam, ging es
allen besser. Er blieb zwei Wochen bei uns, er besuchte das Grab seines
Vaters,
er besuchte die toten Verwandten und die Lebenden, auch die fremden,
bei den
reichen Leuten wurde er eingeladen, und die Armen lud er zu sich.
Jeden
Winter kam er, in der Mitte
des Winters, wenn der Frost seine schärfste Stärke erreicht hatte, er
kam wie
ein Gesandter Gottes. Alle segneten sein Kommen und Gehn.
Ich
weiß nicht, woher die Leute
erfuhren, daß er kommen würde. Jedenfalls wußte man es eines Tages. Der
Zug
hielt nur Mittwoch bei uns. Und jeden Mittwoch dachten die Leute: Von
heute in
acht Tagen kommt er! Von heute in 14 Tagen kommt er!