Erdbeeren
5
1929
Der
Zug kam um fünf Uhr
fünfundzwanzig abends. Längst war in dieser Jahreszeit der tiefe Abend
schon in
der Welt, längst hätten die Fensterläden geschlossen sein müssen, die
Leute in
den Stuben. So aber war's nicht. Die Fensterläden waren noch offen, in
allen
Häusern brannte Licht; alle Fenster sahen illuminiert aus, blank
geputzt waren die
Laternen und gaben alles Licht her, das sie besaßen. Die Schlitten,
beladen
mit Menschen, glitten die
gerade Straße zum Bahnhof hinaus, warfen ihre dunkle Last ab, blieben
in einem
schönen geschwungenen Bogen stehen, blauer Rauch stieg aus den Nüstern
der
Pferde, die Hufe der Tiere krachten auf dem Eis, ungeduldiges Wiehern
kam aus
den Pferden, die Kutscher rieben sich die Hände und fuchtelten mit den
Armen,
die Leute standen am Büfett und erwärmten sich mit Schnaps und
stampften mit
den Stiefeln auf wie die Pferde.
Dann
kam der Portier, Eis hing an
seinem blonden Schnurrbart, er rief den Zug aus, Türen gingen auf, man
hörte
klingelnde Signale vom Bahnsteig her, der Zug lief ein, Dampf zischte
aus der
Lokomotive. Unter den Reisenden, die ausstiegen, war Herr Britz.
Wie
schön und stattlich war er!
Was trug er für einen Pelz aus Biber und Seals! Welch einen schönen
seidenen
Shawl hatte er um den Hals geschlungen!
Er
war nicht müde, sein
glattrasiertes Gesicht hatte keine Fältchen, seine Haut war rosig und
braun,
seine dunklen Augen blank und gut, seine großen, schlanken Hände
glitten leicht
aus den schweren Pelzhandschuhen und streckten sich allen entgegen.
Alle
Kutscher stritten sich um
ihn, jeder wollte mit ihm fahren. Hätte er doch alle seine Kinder
mitgebracht,
wie schön hätte er sie verteilen können in den vielen Schlitten! Er
hatte nicht
einmal viel Gepäck, nur einen einzigen Koffer! Er konnte sich nicht
spalten, er
konnte nicht mit zwei Füßen in zehn Schlitten stehn. Er setzte sich in
einen,
in den ersten, alle anderen fuhren hinterdrein, mit Schellengeläut!
Wenn er aus
dem Schlitten stieg, mußte er dennoch alle Kutscher bezahlen. Das
spielte
keine Rolle·! Er hatte ja
Geld!
Jetzt
hatten wir ja ein neues
Hotel, Herr Britz war zufrieden, als er den Komfort erlebte.
„Ihretwegen haben
wir es bauen lassen“, log der Bürgermeister beim festlichen Abendessen,
das die
Stadt veranstaltete.
Herr
Britz glaubte es vielleicht.
Er
mietete fünf Zimmer im ersten
Stock, er empfing Arme, verteilte Geld, fuhr jeden Tag in einem andern
Schlitten,
milderte die Strenge des Winters, schenkte Holz und Kohle, Brot und
Heringe,
Tee und Schmalz, kaufte den Kranken südliche Weine und wärmte die Welt
wie hundert
Sommer zusammen.
Wenn
er wegfuhr, ließ er
Glückliche zurück, aber er sah nicht mehr so frisch aus wie bei der
Ankunft, er
war müde und geknickt, seine Haut war blaß, seine guten Augen glänzten
nicht
mehr. So anstrengend ist die Wohltätigkeit.
In
diesem Jahr hatte uns Herr Britz so viel Geld zurückgelassen, daß wir
endlich eine Expedition in die unterirdischen Gänge ausrüsten konnten,
die
schon seit Jahren unsere Phantasie beschäftigten und von denen wir
eigentlich
eine Rettung aus unserer ewigen Geldnot erwarteten.
Die
unterirdischen Gänge, so hieß
es, wären im 17. Jahrhundert angelegt worden, führten von der Kirche,
die in
der Mitte der Stadt stand, bis zum Schloß des Grafen, an den Kellern
vieler
alter Häuser vorbei und enthielten eine große Menge von Gold- und
Silberschätzen, die man in vergangenen kriegerischen Zeiten vor
diversen Feinden verborgen hätte.
Unter
der Erde besaßen wir also
eine Menge Gold, nur auf der Oberfläche waren wir arm. Unsere
Ausgrabungen
konnten uns alle reich machen. Wir brauchten dann nicht mehr zu
arbeiten. Jeder
Bewohner unserer Stadt sollte so viel bekommen, um sein Leben ohne
Sorgen beschließen
und das seiner Kinder sichern zu können.
Es
hatte uns nur an Geld gefehlt,
um überhaupt zu den Schätzen zu gelangen. Dazu gehörten gewisse
Vorrichtungen,
dazu gehörten Gasmasken, Instrumente von besonderer Art, Lampen. Vor
allem
gehörten mutige Männer dazu, die imstande waren, ihr Leben aufs Spiel
zu setzen.
Sie mußte man teuer bezahlen. Die reichen Wohltäter unserer Stadt (der
Herr
Graf zum Beispiel) waren immer skeptisch gewesen. Sie glaubten nicht an
die unterirdischen
Schätze, sie glaubten auch nicht
an den wissenschaftlichen
Wert unserer alten Gänge.
Jetzt,
endlich, hatten wir Geld.
Als
der Frühling kam, gingen wir
den ganzen Tag in den Straßen herum und sprachen von den unterirdischen
Geheimnissen. Welch ein Gefühl, bei jedem Schritt, den man auf der
Straße
macht, zu glauben, man trete auf Gold und Edelsteine! Jeder Mensch, der
in
jenen Tagen in seinen Keller ging, um Leitern, Wein, Essig und andere
Dinge zu holen,
war von Ehrfurcht erfüllt. Jeder trug sich mit dem Gedanken, selbst zu
graben.
Manche taten es in stillen Nächten, viele klopften ihre Wände ab, um
hohle
Stellen zu entdecken. Man sprach schon davon, daß der und jener Schätze
in
seinen Kellern entdeckt habe. Jeder wurde mißtrauisch. Es kam eine
Zeit, in der
alle zu klagen begannen, es ginge ihnen schlecht, um nicht in den
Verdacht zu
geraten, daß sie Schätze entdeckt hätten. Aber je mehr die Menschen
klagten,
desto verdächtiger wurden
sie. Es war eine Zeit, in
der man den Bettlern nichts mehr schenkte, weil man glaubte, gerade sie
hätten
Gold und Silber gefunden und sie bettelten nur, um ihre Funde zu
verheimlichen.
Die Kaufläden standen leer, weil jedermann fürchtete, durch einen
Einkauf in den
Verdacht unerhofften Gewinns zu gelangen. Als die Leute merkten, daß
ihre
Klagen mit Mißtrauen angehört wurden, schwiegen sie und getrauten sich
überhaupt nicht mehr zu reden. Kaum, daß man die üblichen Grüße
wechselte. Wenn
zwei miteinander leise sprachen, zeigte man auf sie mit den Fingern und
ernannte
sie zu Millionären.
Eines
Tages kam ein Professor der
Geschichte mit Assistenten, Laternen, Gasmasken. An den Häusern klebten
Plakate, der Magistrat suchte mutige Männer und Arbeiter.
Pantalejmon
meldete sich und nahm
mich mit. Im Graben waren
wir Meister und an unterirdische Dinge vom Friedhof her gewöhnt. Wir
waren
Fachleute für Unterirdisches.
Unsern
Lohn verlangten wir im
voraus, denn wir fürchteten, in den Gängen umzukommen und umsonst zu
sterben.
Wir vergruben unsern Lohn beim vierten Grab in der alten Gräberreihe,
schrieben
ein Testament und steckten es in die Tasche. Pantalejmon vermachte den
Lohn dem
Grafen, nicht seiner Familie. Ich dachte lange nach, wem ich mein Geld
schenken
sollte. Ich besaß Erspartes für meine Reise in die Welt. Ich verschrieb
es
meinem Bruder, der nach Mexiko gegangen war.
Wir
standen um fünf Uhr früh auf,
es war der zehnte Mai, die Vögel zwitscherten. Wir waren zehn Mann mit
Harken
und Spaten. Wir bekamen hohe Stiefel, stiegen im Haus des Herrn
Jampoller in
den Keller, erbrachen eine zugenagelte Tür und standen am Beginn
unserer unterirdischen
Reise.
Ach!
wie stank es dort, ich kann
den Geruch nicht vergessen. Es stank nach alten Kartoffeln und faulem
Heu, nach
Pilzen, nach Schimmel und ein wenig nach herbstlichen Wäldern im Regen.
Wir
leuchteten mit unsern wissenschaftlichen Lampen den Weg und die Wände
ab. Wir
fanden Skelette, Truhen, der Professor notierte alles, es troff von den
steinernen Wänden, weißlicher Schleim lag auf ihnen, wir stießen auf
steinerne
Särge, auf Inschriften, aber wir fanden kein Gold, kein Silber,
keine Edelsteine.
Wir
hatten den ganzen Tag
gearbeitet, als wir wieder an die Oberfläche kamen, war es Abend, und
wir
befanden uns in der Nähe des Schlosses.
Wir
hatten wieder Geld verdient,
wir gruben es aus und legten es zum Ersparten.
Die
Stadt beruhigte sich, die
Menschen verloren das Mißtrauen, Handel und Wandel war wieder in den
Gassen,
und den Bettlern ging es besser.
Dennoch
irrte sich Herr Brandes.
Er
war vor zwanzig Jahren nach
London ausgewandert, er hatte Geld verdient, eine rote, sommersprossige
Engländerin geheiratet und einen Bauch mit einer schweren Uhrkette
bekommen.
Jetzt
kam er zurück, er hatte
Geld wie Heu, so sagten die Leute. Wozu kam er in unsere arme Stadt?
Warum
blieb er nicht in London?
Nein,
er kam zurück, ein Pionier
englischer Kultur. Er wollte uns zeigen, wie man in der Welt Geschäfte
macht.
Er kaufte einen freien Platz von der Gemeinde, er kaufte unsern „freien
Platz“,
auf dem wandernde Karussells, Menagerien, Zauberkünstler ihre Zelte
immer
aufschlugen, auf dem graues, trauriges Gras und gelbe Blümchen
wucherten und
der vom lieben Gott dazu bestimmt schien, unser freier Platz und nichts
mehr zu
sein.
Brandes
baute ein Haus, nicht so
hoch wie unser Hotel, aber immerhin ein einstöckiges Haus. Es hatte
wunderbarerweise keine Fenster. Die Leute wunderten sich nicht wenig.
Wie
wollte Brandes ohne Fenster auskommen? Lebten die Londoner in finstern
Stuben?
Als
das Gerüst verschwunden war
und die weißen Mauern dastanden, blind, ohne Fenster, glatt, ohne
Stukkatur und
Verzierungen - sie hatte man nämlich erwartet -, zweifelte niemand mehr
an der
Verrücktheit des Herrn Brandes.
So
verrückt, wie wir damals
glaubten, war aber Brandes nicht. Er hatte kein Wohnhaus gebaut,
sondern ein
Magazin, ein Warenhaus, er hatte so eines vielleicht einmal in London
gesehn!