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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Erdbeeren 5
1929

 
Der Zug kam um fünf Uhr fünfundzwanzig abends. Längst war in dieser Jahreszeit der tiefe Abend schon in der Welt, längst hätten die Fensterläden geschlossen sein müssen, die Leute in den Stuben. So aber war's nicht. Die Fensterläden waren noch offen, in allen Häusern brannte Licht; alle Fenster sahen illuminiert aus, blank geputzt waren die Laternen und gaben alles Licht her, das sie besaßen. Die Schlitten, beladen mit Menschen, glitten die gerade Straße zum Bahnhof hinaus, warfen ihre dunkle Last ab, blieben in einem schönen geschwungenen Bogen stehen, blauer Rauch stieg aus den Nüstern der Pferde, die Hufe der Tiere krachten auf dem Eis, ungeduldiges Wiehern kam aus den Pferden, die Kutscher rieben sich die Hände und fuchtelten mit den Armen, die Leute standen am Büfett und erwärmten sich mit Schnaps und stampften mit den Stiefeln auf wie die Pferde.
 
Dann kam der Portier, Eis hing an seinem blonden Schnurrbart, er rief den Zug aus, Türen gingen auf, man hörte klingelnde Signale vom Bahnsteig her, der Zug lief ein, Dampf zischte aus der Lokomotive. Unter den Reisenden, die ausstiegen, war Herr Britz.
 
Wie schön und stattlich war er! Was trug er für einen Pelz aus Biber und Seals! Welch einen schönen seidenen Shawl hatte er um den Hals geschlungen!
 
Er war nicht müde, sein glattrasiertes Gesicht hatte keine Fältchen, seine Haut war rosig und braun, seine dunklen Augen blank und gut, seine großen, schlanken Hände glitten leicht aus den schweren Pelzhandschuhen und streckten sich allen entgegen.
 
Alle Kutscher stritten sich um ihn, jeder wollte mit ihm fahren. Hätte er doch alle seine Kinder mitgebracht, wie schön hätte er sie verteilen können in den vielen Schlitten! Er hatte nicht einmal viel Gepäck, nur einen einzigen Koffer! Er konnte sich nicht spalten, er konnte nicht mit zwei Füßen in zehn Schlitten stehn. Er setzte sich in einen, in den ersten, alle anderen fuhren hinterdrein, mit Schellengeläut! Wenn er aus dem Schlitten stieg, mußte er dennoch alle Kutscher bezahlen. Das spielte keine Rolle·! Er hatte ja Geld!
 
Jetzt hatten wir ja ein neues Hotel, Herr Britz war zufrieden, als er den Komfort erlebte. „Ihretwegen haben wir es bauen lassen“, log der Bürgermeister beim festlichen Abendessen, das die Stadt veranstaltete.
 
Herr Britz glaubte es vielleicht.
 
Er mietete fünf Zimmer im ersten Stock, er empfing Arme, verteilte Geld, fuhr jeden Tag in einem andern Schlitten, milderte die Strenge des Winters, schenkte Holz und Kohle, Brot und Heringe, Tee und Schmalz, kaufte den Kranken südliche Weine und wärmte die Welt wie hundert Sommer zusammen.
 
Wenn er wegfuhr, ließ er Glückliche zurück, aber er sah nicht mehr so frisch aus wie bei der Ankunft, er war müde und geknickt, seine Haut war blaß, seine guten Augen glänzten nicht mehr. So anstrengend ist die Wohltätigkeit.
 
In diesem Jahr hatte uns Herr Britz so viel Geld zurückgelassen, daß wir endlich eine Expedition in die unterirdischen Gänge ausrüsten konnten, die schon seit Jahren unsere Phantasie beschäftigten und von denen wir eigentlich eine Rettung aus unserer ewigen Geldnot erwarteten.
 
Die unterirdischen Gänge, so hieß es, wären im 17. Jahrhundert angelegt worden, führten von der Kirche, die in der Mitte der Stadt stand, bis zum Schloß des Grafen, an den Kellern vieler alter Häuser vorbei und enthielten eine große Menge von Gold- und Silberschätzen, die man in vergangenen kriegerischen Zeiten vor diversen  Feinden verborgen hätte.
 
Unter der Erde besaßen wir also eine Menge Gold, nur auf der Oberfläche waren wir arm. Unsere Ausgrabungen konnten uns alle reich machen. Wir brauchten dann nicht mehr zu arbeiten. Jeder Bewohner unserer Stadt sollte so viel bekommen, um sein Leben ohne Sorgen beschließen und das seiner Kinder sichern zu können.
 
Es hatte uns nur an Geld gefehlt, um überhaupt zu den Schätzen zu gelangen. Dazu gehörten gewisse Vorrichtungen, dazu gehörten Gasmasken, Instrumente von besonderer Art, Lampen. Vor allem gehörten mutige Männer dazu, die imstande waren, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Sie mußte man teuer bezahlen. Die reichen Wohltäter unserer Stadt (der Herr Graf zum Beispiel) waren immer skeptisch gewesen. Sie glaubten nicht an die unterirdischen Schätze, sie glaubten auch nicht an den wissenschaftlichen Wert unserer alten Gänge.
 
Jetzt, endlich, hatten wir Geld.
 
Als der Frühling kam, gingen wir den ganzen Tag in den Straßen herum und sprachen von den unterirdischen Geheimnissen. Welch ein Gefühl, bei jedem Schritt, den man auf der Straße macht, zu glauben, man trete auf Gold und Edelsteine! Jeder Mensch, der in jenen Tagen in seinen Keller ging, um Leitern, Wein, Essig und andere Dinge zu holen, war von Ehrfurcht erfüllt. Jeder trug sich mit dem Gedanken, selbst zu graben. Manche taten es in stillen Nächten, viele klopften ihre Wände ab, um hohle Stellen zu entdecken. Man sprach schon davon, daß der und jener Schätze in seinen Kellern entdeckt habe. Jeder wurde mißtrauisch. Es kam eine Zeit, in der alle zu klagen begannen, es ginge ihnen schlecht, um nicht in den Verdacht zu geraten, daß sie Schätze entdeckt hätten. Aber je mehr die Menschen klagten, desto verdächtiger wurden sie. Es war eine Zeit, in der man den Bettlern nichts mehr schenkte, weil man glaubte, gerade sie hätten Gold und Silber gefunden und sie bettelten nur, um ihre Funde zu verheimlichen. Die Kaufläden standen leer, weil jedermann fürchtete, durch einen Einkauf in den Verdacht unerhofften Gewinns zu gelangen. Als die Leute merkten, daß ihre Klagen mit Mißtrauen angehört wurden, schwiegen sie und getrauten sich überhaupt nicht mehr zu reden. Kaum, daß man die üblichen Grüße wechselte. Wenn zwei miteinander leise sprachen, zeigte man auf sie mit den Fingern und ernannte sie zu Millionären.
 
Eines Tages kam ein Professor der Geschichte mit Assistenten, Laternen, Gasmasken. An den Häusern klebten Plakate, der Magistrat suchte mutige Männer und Arbeiter.
 
Pantalejmon meldete sich und nahm mich mit. Im Graben waren wir Meister und an unterirdische Dinge vom Friedhof her gewöhnt. Wir waren Fachleute für Unterirdisches.
 
Unsern Lohn verlangten wir im voraus, denn wir fürchteten, in den Gängen umzukommen und umsonst zu sterben. Wir vergruben unsern Lohn beim vierten Grab in der alten Gräberreihe, schrieben ein Testament und steckten es in die Tasche. Pantalejmon vermachte den Lohn dem Grafen, nicht seiner Familie. Ich dachte lange nach, wem ich mein Geld schenken sollte. Ich besaß Erspartes für meine Reise in die Welt. Ich verschrieb es meinem Bruder, der nach Mexiko gegangen war.
 
Wir standen um fünf Uhr früh auf, es war der zehnte Mai, die Vögel zwitscherten. Wir waren zehn Mann mit Harken und Spaten. Wir bekamen hohe Stiefel, stiegen im Haus des Herrn Jampoller in den Keller, erbrachen eine zugenagelte Tür und standen am Beginn unserer unterirdischen Reise.
 
Ach! wie stank es dort, ich kann den Geruch nicht vergessen. Es stank nach alten Kartoffeln und faulem Heu, nach Pilzen, nach Schimmel und ein wenig nach herbstlichen Wäldern im Regen. Wir leuchteten mit unsern wissenschaftlichen Lampen den Weg und die Wände ab. Wir fanden Skelette, Truhen, der Professor notierte alles, es troff von den steinernen Wänden, weißlicher Schleim lag auf ihnen, wir stießen auf steinerne Särge, auf Inschriften, aber wir fanden kein Gold, kein Silber, keine Edelsteine.
 
Wir hatten den ganzen Tag gearbeitet, als wir wieder an die Oberfläche kamen, war es Abend, und wir befanden uns in der Nähe des Schlosses.
 
Wir hatten wieder Geld verdient, wir gruben es aus und legten es zum Ersparten.
 
Die Stadt beruhigte sich, die Menschen verloren das Mißtrauen, Handel und Wandel war wieder in den Gassen, und den Bettlern ging es besser.
 
Dennoch irrte sich Herr Brandes.
 
Er war vor zwanzig Jahren nach London ausgewandert, er hatte Geld verdient, eine rote, sommersprossige Engländerin geheiratet und einen Bauch mit einer schweren Uhrkette bekommen.
 
Jetzt kam er zurück, er hatte Geld wie Heu, so sagten die Leute. Wozu kam er in unsere arme Stadt? Warum blieb er nicht in London?
 
Nein, er kam zurück, ein Pionier englischer Kultur. Er wollte uns zeigen, wie man in der Welt Geschäfte macht. Er kaufte einen freien Platz von der Gemeinde, er kaufte unsern „freien Platz“, auf dem wandernde Karussells, Menagerien, Zauberkünstler ihre Zelte immer aufschlugen, auf dem graues, trauriges Gras und gelbe Blümchen wucherten und der vom lieben Gott dazu bestimmt schien, unser freier Platz und nichts mehr zu sein.
 
Brandes baute ein Haus, nicht so hoch wie unser Hotel, aber immerhin ein einstöckiges Haus. Es hatte wunderbarerweise keine Fenster. Die Leute wunderten sich nicht wenig. Wie wollte Brandes ohne Fenster auskommen? Lebten die Londoner in finstern Stuben?
 
Als das Gerüst verschwunden war und die weißen Mauern dastanden, blind, ohne Fenster, glatt, ohne Stukkatur und Verzierungen - sie hatte man nämlich erwartet -, zweifelte niemand mehr an der Verrücktheit des Herrn Brandes.
 
So verrückt, wie wir damals glaubten, war aber Brandes nicht. Er hatte kein Wohnhaus gebaut, sondern ein Magazin, ein Warenhaus, er hatte so eines vielleicht einmal in London gesehn!

 





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