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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Heute früh kam ein Brief
undatiert

 
Heute früh kam ein Brief von meinem Freund Naphtali Kroj aus Buenos Aires. Es gefällt ihm gut, das Leben in der fremden großen und wahrscheinlich sehr merkwürdigen Stadt. Er hat Bekannte getroffen, Menschen aus unserer Heimat. Sie handeln mit Tabak oder andern Dingen und lassen mich grüßen. Sie haben mich nicht vergessen, obwohl ich noch ein Knabe war, als ich mich von ihnen trennte und nach dem Westen fuhr, zu der Familie meines Vaters nach Wien. Die Menschen meiner Heimat haben ein gutes Gedächtnis, denn sie erinnern sich mit dem Herzen. Ich aber hätte sie beinahe vergessen, weil ich in den Ländern Westeuropas gelebt habe und noch lebe, in denen das Herz nichts ist, der Kopf ein wenig und die Faust alles.
 
Wer weiß, wo ich hingeraten wäre, wenn mein Freund Naphtali Kroj nicht auch seinen Weg nach dem Westen genommen hätte. Schon war ich im Begriffe, mein Herz zu verlieren, die Sehnsucht, die Liebe und den Schmerz, der so stark ist wie Sehnsucht, Liebe und Tod zusammen. Schon hatte ich meine Heimat vergessen, die kleine Stadt in Rußland, die nicht mehr vorhanden ist, die gestorben ist, im großen Kriege gefallen, als wäre sie ein Infantrist gewesen, ein Mensch. Oh, sie war mehr als ein Mensch! Sie war ein fruchtbarer Schoß, aus dem viele Menschen, merkwürdige Menschen ausgestreut wurden wie Samen auf den weiten Acker der Welt.
 
Diese Stadt ist nicht mehr. Kanonen haben sie zerschossen, Brände vernichtet, Stiefel zerstampft, und jetzt blüht der goldene Kukuruz dort, wo einst kleine und schmutzige Gassen und Häuser waren, und der freie Wind geht über die Plätze und Winkel meiner Kindheit. Andere Städte werden groß und reich, oder wenn ihnen der Tod beschieden ist, sterben sie langsam, der Tod quält sie hundert oder tausend Jahre lang. Unsere kleine Stadt aber mähte er mit seiner großen, scharfen Sense auf einmal vom Boden weg.
 
Jetzt bin ich nirgends geboren und nirgends zu Hause. Das ist seltsam und furchtbar, und ich komme mir selbst vor wie ein Traum, der keine Wurzel hat und kein Ziel, keinen Anfang und kein Ende, der kommt und geht und selbst nicht weiß, woher und wohin. So sind sie alle, meine Landsleute. Sie leben verstreut in der weiten, weiten Welt, sie klammern sich mit schwachen Wurzeln an fremdes Erdreich, liegen begraben in fremder Erde, zeugen Kinder, die nicht wissen, wo ihr Vater geboren, und denen ihr Großvater schon ein Märchen ist. Von dem und jenem höre ich manchmal. So weiß ich, daß der Bäcker Surokin jetzt ein Gasthaus in Tokio verwaltet, mit einer Japanerin verheiratet ist und sechs Kinder hat, von denen zwei irgendwo in Europa studieren. Diesen Bäcker Surokin hat der reiche Herr Kobritz auf eine merkwürdige Art gefunden. Der Herr Kobritz treibt Handel mit der halben Welt, und so kam er einmal auch nach Tokio und ging, um seinen Hunger zu stillen, in ein Gasthaus, setzte sich an den Tisch und bekam ausgezeichnete Fische. Es waren Fische ganz nach seinem Geschmack, und schon begann der reiche Herr Kobritz zu philosophieren und stellte seine Theorie auf, daß die ganze Welt ein Dorf sei, ein größeres Dorf, und alle Menschen von der gleichen Beschaffenheit. Denn wieso kam es, daß er in Tokio, das fast am Ende der Welt liegt, Fische von jener Art bekam, wie sie ihm sein Leibkoch zu Hause bereitete? Herr Kobritz war mit seiner Philosophie sehr zufrieden, als sich ihm der Wirt näherte, ein J apaner mit einer großen Brille, und „Guten Tag, Herr Kobritz!“ sagte. Also war die Welt doch nur ein größeres Dorf, und alle Menschen kannten den reichen Herrn Kobritz. „Sie erkennen mich nicht?“ fragte der Japaner. „Nein!“ sagte Herr Kobritz. „Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben in Tokio.“Ich aber habe Sie sofort erkannt“, erwiderte der Japaner. „Ich war der Bäcker Mendel Surokin, und seit dreißig Jahren bin ich ein Japaner.“
 
Herr Kobritz kam nach Wien und erzählte mir brühwarm die Geschichte, und ich erzählte sie meinem Freund Naphtali, der sie jetzt in Buenos Aires verbreitet. So wissen wir bald alle, was mit dem Bäcker Mendel Surokin los ist. Mich aber plagt die Neugierde. Ich möchte gerne wissen, was mit den vielen andern geschehn ist, zum Beispiel mit dem blinden Turek, mit dem Totengräber Pantalejmon, mit dem Schneider Peisach, mit dem Doktor Habrich, mit Jonathan Brüh und Mordechai, dem Schreiber. An alle diese Menschen erinnere ich mich noch ganz genau. Als stünde er leibhaftig vor mir, so sehe ich Jonathan Brüh, den Schwaben aus einer deutschen Kolonie, der pensionierter Briefträger war, ein Tschako trug und einen alten Säbel und viele Orden aus Blech auf der Brust. Er bildete sich ein, ein Prinz zu sein und ein großer General, mit allen Kaisern und Königen der Welt verwandt,>und manchmal las er einen Brief des Kaisers von China vor. „Lieber Vetter“, schrieb der Kaiser von China, „es wundert mich, daß ich schon so lange nichts von dir gehört habe. Mit gleicher Post sende ich dir den neuesten Orden meines Hauses. Schreibe mir sofort, ob du ihn erhalten hast. Dein treuer Kaiser.“ Der Brief war mit chinesischen Buchstaben auf altem Pergament geschrieben. Deshalb konnte ihn niemand lesen, und man mußte sich schon auf die Wahrheitsliebe Jonathan Brühs verlassen.
 
Noch wichtiger wäre es mir zu erfahren, was mit Peisach, dem Schneider, geschehn ist. Denn es war ein Schneider, wie man keinen zweiten mehr findet und wie er in keiner andern Stadt der Welt möglich ist. Er trug die Maße aller seiner Kunden im Kopf, denn er konnte nicht schreiben, nicht einmal die Zahlen. Oft blickten wir durch sein Fenster, Naphtali Kroj und ich, wenn wir an Herbstabenden von den Feldern heimkehrten, vom Kartoffelbraten. Da sahen wir den fetten gelblichen Schimmer der kleinen Lampe auf dem Tisch des Schneiders und ihn selbst, wie er auf der Ofenbank saß und nachdachte. Gewiß war er damit beschäftigt, sich die Maße seiner Kunden vorzustellen, sich an ihre Bäuche, ihre Brust und ihre Schenkel zu erinnern. Wenn er die Schere in die Hand nahm, standen sie alle wie leibhaft vor ihm, und er hatte es nicht schwer, die Mäntel, die Hosen und die Westen richtig auszumessen. Aber manchmal verschnitt er doch etwas, und dann blieb ihm Stoff genug für einen eigenen Anzug. Denn es war nur recht und billig, daß ein Schneider, der die Maße im Kopf behalten mußte, auch ein wenig Stoff behielt für seinen armen, dürren und frierenden Leib.
 
Was ist nun mit diesem Schneider eigentlich los? Sein Sohn, das weiß ich, wohnt seit langen Jahren in Amerika und ist auch ein Schneider, er schrieb immer, daß er einen Modesalon habe. Möglich ist es immerhin, daß dieser Sohn den Vater nach Amerika kommen ließ und daß der Schneider Peisach jetzt in einem Winkel des Modesalons sitzt, alt und schwerhörig und kurzsichtig, und noch immer nicht schreiben kann.
 
Mordechai, der Schreiber, hatte keine Kinder. Ich glaube, daß er einsam gestorben ist. Er war ein Witwer und Schreiblehrer, und er trug immer Tintenfaß und Feder bei sich, wenn er zu seinen Schülern ging. Aber seine Taschen waren zerrissen, und die Frau war tot, und niemand konnte ihm die Taschen flicken. Deshalb hatte er einen Zylinder auf dem Kopf. In diesem Hut barg er sein Schreibgerät. Das hatte nun zur Folge, daß er nicht grüßen konnte. Er begnügte sich, einen Finger an den Rand des Zylinders zu legen. Das war sein Gruß. Nur einen Menschen konnte er so nicht grüßen, und dieser eine Mensch war der Bürgermeister. Also wich er dem Bürgermeister immer aus, und wenn er an einer Straßenecke stand, blieb er längere Zeit da und lauerte verstohlen und ging erst weiter, wenn er sich überzeugt hatte, daß der Bürgermeister nicht des Weges daherkam.
 
Der Doktor Habrich war ein Arzt, der für alles andere auf der Welt mehr Interesse hatte als für Kranke und Krankheiten. Er hatte in Wien Medizin studiert, und er wäre wohl gerne ein berühmter Arzt in einer großen Stadt geworden. Aber als er gerade fertig war, starb sein Vater. Doktor Habrich besaß kein Geld und kehrte heim, obwohl ihm sein Professor gesagt hatte, daß man begabte Menschen im Westen Europas gebrauchen könnte. In unserer Stadt aber gab es keine besonderen Krankheiten. Man hatte einen Leistenbruch oder einen Schnupfen oder einen verdorbenen Magen, man brach sich ein Bein oder ein Bauer schnitt sich mit der Sense. Es waren keine Krankheiten für einen begabten und ehrgeizigen Arzt. Der Doktor Habrich hatte durch lange Jahre bei jedem neuen Patienten gehofft, der würde endlich ein schwieriges Leiden offenbaren. Aber dann war es doch nur ein Leistenbruch oder ein Schnupfen oder eine langsame Geburt. Da hörte Doktor Habrich auf, Rezepte zu schreiben, und wenn man ihn rief, ging er nicht und verordnete alles, ohne den Patienten gesehn zu haben. Ein neuer, junger Arzt kam, der sein Geschäft verstand und einen Schnupfen so behandelte, daß aus ihm eine Lungenentzündung wurde. Da begannen viele Menschen zu sterben, und der junge Doktor wurde dahin und dorthin gerufen, und den Doktor Habrich holte niemand mehr.
 
Er saß manchmal in der Schenke, in die auch wir gerne kamen, Naphtali und ich. Da waren Pantalejmon, der Totengräber, und der blinde Josef Turek, sie tranken und unterhielten sich. Pantalejmon hatte einen Selbstmörder vom Baum abgeschnitten, er behielt den Strick und suchte einen Käufer. Wer den Strick eines Gehenkten besaß, dem gaben die Kühe viel Milch, seine Pferde gediehen, auf seinen Feldern wuchs üppig der Weizen, und kein böser Zauber konnte dem Besitzer etwas anhaben. So ein Strick war unter Brüdern zwei Hühner wert, mindestens ein Schock Eier. Geld brauchte Pantalejmon nicht. Wer sein ganzes Leben ein Totengräber ist, wer sieht, wie auch die Reichen ihre zwei großen Zimmer und Küche verlassen müssen und den Geldbeutel unter dem Kopfkissen - wer so was mindestens hundertmal gesehn hat, der braucht kein Geld. Die Würmer, die Würmer - sagt Pantalejmon, sooft er einen reichen Hochzeitszug sieht. Er denkt immer an die Würmer.
 
Jetzt aber gilt es, den Strick zu verkaufen. Wer weiß uns einen Käufer zu nennen? Wer kennt die Bedürfnisse aller Häuser? Wer kommt überall hin? Wer sieht alles? - Der blinde Josef Turek, der Bürstenbinder, der sein Handwerk in der Blindenschule der großen Stadt gelernt hat und immer von der Schönheit dieser Stadt erzählt, als hätte er sie genau besichtigt. Er hat sie besser gelernt als ein Sehender. Denn er ist ein Blinder.
 
„Ich würde den Strick nicht einem einzelnen verkaufen!“ sagt Josef Turek.
 
„Dummkopf“, entgegnet Pantalejmon, „es ist ja nur ein einziger Strick!“
 
„Nun“, sagt Turek, „ein Dummkopf bist du! Aus einem Stück kann man viele Stücke machen. Und für jedes Stück kriegst du eine Henne. Und dein ganzes Leben lang verkaufst du Stücke.“
 
„Ich glaube“, wendet Pantalejmon ein, „wenn ich nicht sehr irre, bin ich so zwischen sechzig und fünfundsechzig. Und will hundert Jahre leben. Wieviel Jahre habe ich also noch?“
 
„Vierzig oder fünfunddreißig!“
 
„Siehst du! So groß ist der Strick nicht, daß ich ihn vierzig Jahre lang verkaufen könnte!“
 
„Es muß aber doch nicht derselbe Strick sein! Du schneidest eben einen ähnlichen in kleine Stücke, wenn der erste zu Ende ist.“
 
„So ein Strick aber, an dem sich niemand erhängt hat, bringt ja kein Glück!“ sagte Pantalejmon.
 
„Alle Stricke bringen Glück!“ erwidert Josef Turek. Und er hat recht. Solche und ähnliche Gespräche konnte man am Abend in der Schenke hören. Da trank ich Schnaps, obwohl ich kaum zehn Jahre alt war, aber Naphtali Kroj, der acht Jahre älter war, hatte mich mit seiner Freundschaft beehrt, und da mußte ich eben einen Großen spielen und Schnaps trinken. Es schmeckte gar nicht schlecht.
 
 
Es schmeckte sogar sehr gut und erhielt mich am Leben, wenn ich müde und erfroren heimkehrte vom Kartoffelbraten. In der Früh zogen wir aus. Die Nebel lagen noch über der Erde und über dem Herbstmorgen, der aussah wie ein Greis, von Tüchern eingehüllt, taub und still. Die Krähen saßen auf den schwankenden Zweigen lange, lange Minuten still, daß man glaubte, sie wären angewachsen und die großen, traurigen Herbstfrüchte der Bäume. Sie erhoben sich in die Luft, wenn wir das Feuer anzündeten und der Rauch emporstieg. Wir waren die Feinde der Krähen. Manchmal zielten wir mit Steinen nach ihnen. Manchmal fiel eine betäubt nieder, wir nahmen sie in die Hand und erschraken immer wieder über die krumme Schärfe ihres Schnabels, der wie ein kleiner zweischneidiger Säbel war. Die Weiden dufteten naß und betäubend, es roch der Moder und die Verwesung. Durch unsere Stiefelsohlen drang die Feuchtigkeit in unsern Körper, wir fuchtelten mit den Armen, bis uns warm wurde, und stampften auf die Stoppeln der Felder und hauchten in unsere gehöhlten Hände. Am Wal rand zeigten sich einsame Tiere, flüchtig und spähend. Matte verspätete Käfer krochen schwarz und glänzend über die Erde in den Furchen wie lebendige Kohlenstücke. Die Wolken standen beharrlich am Himmel wie ein naher Fluch, der sich noch nicht erfüllt. Am Nachmittag schon begann sich der Horizont im Westen zu röten von der Sonne, die man nicht sah. Wir hatten sie nicht am Morgen gesehn, als sie aufging, nicht zu Mittag, nicht in der Fülle ihrer Leuchtkraft, wir sahen nur die letzten Ausläufer, ihre Strahlen und ihr rotes schmerzliches Spiegelbild in den Abendwolken. Der Wind erhob sich auf die Zehen und begann seine nächtliche Wanderung. Gleichzeitig zuckten ein paar gelbe Lichter in den fernen Hütten auf, als hätte er sie angezündet. Da pfiff Naphtali das Lied von dem Müller, dessen Rad sich dreht, dessen Jahre gehn. An unserer kleinen Rauchfahne erkannten wir, daß der Wind sich gedreht hatte, gestern war er noch vom Norden gekommen, heute kam er aus Nordwesten, und in einigen Tagen mußte der erste Schnee dasein. Schon sehnte ich mich nach seinen kleinen, scharfen, harten Sternchen und seiner heilenden, peitschenden Schärfe im Gesicht. Der Duft unserer bratenden Kartoffeln umgab uns wie eine Heimat. Die Krähen hatten sich schon an den Rauch gewöhnt und kehrten auf die Zweige zurück und spreiteten von Zeit zu Zeit ihre Flügel, ohne sich zu rühren, und vielleicht nur, um uns zu erschrecken, oder weil sie selbst erschrocken waren. Und der große, hochaufgeschossene, rötliche und dünne Naphtali Kroj ging mit langen Schritten nach Hause. Und hinter ihm her jagte ich und konnte ihm nicht nachfolgen. Zehn Minuten später als er erreichte ich die Stadt. Vor der Schenke stand er schon und wartete.
 
Es war der traurigste Herbst meines Lebens, jener Herbst, in dem Naphtali Kroj nach Wien kam. Der Krieg und die Revolution waren vorbei, und die Länder und Menschen zitterten noch, obwohl der Sturm, der sie gerüttelt hatte, sich schon verzog. Ich war ein armer Teufel. Ich besaß nichts außer meinem Rucksack. Im Rucksack lag mein Mantel. Einer peinlichen Wohltat hatte ich die Schuhe zu verdanken, die ich damals trug. Es waren Lackstiefel. Gerade sie konnte mein  Wohltäter entbehren. Der Lack war gesprungen, durch die dünnen Sohlen drang die Nässe der ganzen herbstlichen verregneten Welt. Wenn ich meine Schuhe vom Kot der Straße reinigte, fingen sie an, aufsehenerregend zu glänzen. Sie waren ein qualvolles Geschenk.
 
Da kam Naphtali Kroj, mit allen Menschen vom Osten nach Westen gespült, er kam mit den Armen, mit den Flüchtlingen, mit den Kriegsgefangenen. Er war arm, und ich war es auch, zusammen waren wir noch ärmer als jeder für sich. Aber wir waren Freunde, und die Freundschaft ist ein großer Reichtum.
 
Hätte Naphtali einen ordentlichen Beruf gehabt, es wäre nur halb so schlimm gewesen. Aber er war nur ein Kutscher. Als Zwanzigjähriger hatte er eine Witwe geheiratet, eine Witwe mit zwei halbwüchsigen Kindern. Vierzig Jahre zählte die Witwe. Sie besaß eine Droschke mit einem Pferd, ihr Mann, der Droschkenkutscher, war ein Säufer gewesen und im Wahnsinn gestorben. Nun stand ein armes Pferd im kleinen Stall und wieherte, und im Hof wartete die Droschke mit zerbrochenen Fensterscheiben, von grauem Kot bespritzt, mit einer Deichsel, die wie eine traurige Zwecklosigkeit und schwermütig zu Boden geneigt war. Naphtali brach dieser Anblick das Herz. Jeden Tag blickte er in den Hof und in den Stall, bis er eines Morgens kurz entschlossen das Pferd vor den Wagen spannte, den Bock bestieg und zum Bahnhof trabte. Gäste kamen an. Naphtali hatte Glück. Er blieb auf dem Bock. Er fuhr jeden Tag, wenn die Züge kamen, zur Bahn. Er heiratete die Droschke und die Witwe mit ihren Kindern dazu. Im Kriege besetzten die Österreicher die Stadt. Sie requirierten den Wagen, das Pferd und Naphtali Kroj. Im Felde starb das Pferd, die Frau Kroj starb zu Hause. Die Kinder gingen an Typhus zugrunde. Die Droschke blieb irgendwo als Gerümpel zurück. Nur Naphtali war gesund. Er kam nach Wien. Unterwegs fand er Gelegenheit, einen Ungarn zu erstechen, der ihm die neuen gelben Stiefel ausziehn wollte.

 





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