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04.3
Geschichten - Joseph
Roth
Werke
4
1916-
1929
Romane und
Erzählungen
Die
Flucht ohne Ende - Seite 1
Ein
Bericht 1927
Rezension "Die
Flucht ohne Ende"
Joseph
Roth
Die
Flucht ohne Ende. Ein Bericht.
München:
Wolff (1927). 252 S.
JRW
1, S. 315-421
Leihgabe:
K&W
Die
Flucht ohne Ende« enthält meine Autobiographie zum großen Teil
[
...
]
JR an Otto
Forst-Battaglia. Ascona, 28. 10. 1932. - IRE, S. 240
Roth
hat dem Roman ein - oft zitiertes - Vorwort vorangestellt,
das von vielen
Interpreten als programmatisch für die »Neue
Sachlichkeit«
angesehen wurde:
Im
Folgenden erzähle ich die Geschichte meines Freundes, Kameraden und
Gesinnungsgenossen Franz Tunda. Ich folge zum Teil seinen
Aufzeichnungen, zum
Teil seinen Erzählungen. Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert.
Es
handelt sich nicht mehr darum, zu »dichten«. Das wichtigste ist das
Beobachtete. –
Paris,
im März 1927 JOSEPH ROTH
JRW 1, S.
(317] .
Das
Buch schließt:
[
... ] da stand mein Freund Tunda, 32 Jahre alt, gesund und frisch, ein
junger, starker
Mann von allerhand Talenten, auf dem Platz vor der Madeleine, inmitten
der
Hauptstadt der Welt und wußte nicht, was er machen sollte. Er hatte
keinen
Beruf, keine Liebe, keine Lust, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz und
nicht einmal
Egoismus. So
überflüssig wie er war niemand in der Welt.
JRW
1, S.
421
***
Joseph
Roth
Die
Flucht ohne Ende. XII. Kapitel (Ausz.)
Typoskript.
3 S. ms. mit hs. Korrekturen.
Kopie.
- Vorlage: K&W
Im
Roman nicht veröffentlichtes Kapitel mit dem handschrftlichen Zusatz: «An
den Verleger: Die folgenden zwei Kapitel könnten retardierend wirken.
Sie
werden umgestellt oder gestrichen«.
Es
handelt sich um eine Beschreibung Tundas als Schüler aus der Sicht
des Ich-Erzählers.
Manfred
Georg zum Inhalt des Romans:
Es
gibt [ ... ] keinen Anfang und keinen Abschluß des Geschehens mehr. Und
so
deckt sich Roths Buchtitel. »Die
Flucht ohne Ende«
restlos mit dem Buchinhalt.
Er
gibt den Bericht von der Flucht eines ehemaligen österreichischen
Oberleutnants,
der in Sibirien einsam vegetiert, aus der kalten Oede in die Hitze der
bolschewistischen Revolution gerät, sein Untertauchen darin und das
wieder
Hochgeschwemmtwerden wie ein Korken, der zu leicht ist.
Dann neue Idylle
zwischen Arbeitsgleichmaß und stumpfem Liebesallerlei, Verwehtwerden
nach dem
Westen, gespenstisches Auftauchen deutscher Stadtkulissen, Pariser
Rausch und
wieder Ausgespienwerden, bis die Sonne über dem Place de la Concorde
auf einen völlig
Losgelösten scheint, der nicht einmal Egoist mehr ist.
Nicht
Roths Kunst, Sätze oder Atmosphäre zu schaffen, sei hier gerühmt. Sie
ist Sache
seines Handgelenks. Sondern sein ihm gelungener Beweis von der
Wichtigkeit des «Beobachtens« im
Gegensatz zum «Dichten«. Die
psychographische Beschreibung seines
Helden Franz Tunda, eine seelische Reportage gewissermaßen, liefert uns
das
Material zur Betrachtung jenes wichtigen Menschentyps, den weder ein
Dichter
noch ein
Propagandist uns heute erscheinen lassen kann, weil ihm die Mittel dazu
fehlen.
Der Zwischenzeitler, Produkt der Übergangsperiode, da man, vermutlich
Generationen lang, im Wartesaal der Geschichte auf das Umsteigen vom
alten ins
neue Jahrhundert (ohne Gewähr des Anschlusses) wartet, wird zum
erstenmal in
der deutschen Literaturgeschichte so objektiv geschildert, daß er
sichtbar
wird. Und im Spiegel seines Daseins blinkt die Gegenwart in allen ihren
phantastischen Ueberschneidungen auf. Roth gibt wieder, er fügt nicht
hinzu, er
schreibt ein Dokumentum nieder, er komponiert nicht. [ ... ]
Manfred
Georg: Der Romanschriftsteller joseph Roth.
In: Preußische Jahrbücher.
217 (1929),
S. 320-324, hier S. 321/ - Siehe auch Kat.
Nr. 549
zurück
Der
Oberleutnant der
österreichischen Armee Franz Tunda geriet im August des Jahres 1916 in
russische Kriegsgefangenschaft. Er kam in ein Lager, einige Werst
nordöstlich
von Irkutsk. Es gelang ihm, mit Hilfe eines sibirischen Polen zu
fliehen. Auf
dem entfernten, einsamen und traurigen Gehöft des Polen, am Rande der
Taiga,
blieb der Offizier bis zum Frühling 1919.
Waldläufer
kehrten bei dem Polen
ein, Bärenjäger und Pelzhändler. Tunda hatte keine Verfolgung zu
fürchten.
Niemand kannte ihn. Er war der Sohn eines österreichischen Majors und
einer
polnischen Jüdin, in einer kleinen Stadt Galiziens, dem Garnisonsort
seines
Vaters, geboren. Er sprach Polnisch, er hatte in einem galizischen
Regiment gedient.
Es fiel ihm leicht, sich für einen jüngeren Bruder des Polen
auszugeben. Der
Pole hieß Baranowicz. Tunda nannte sich ebenso.
Er
bekam ein falsches Dokument
auf dcn Namen Baranowicz, war nunmehr in Lodz geboren, im Jahre 1917
wegen
eines unheilbaren und ansteckenden Augenleidens aus dem russischen Heer
entlassen, von Beruf Pelzhändler, wohnhaft in Werchni Udinsk.
Der
Pole zählte seine Worte wie
Perlen, ein schwarzer Bart verpflichtete ihn zur Schweigsamkeit. Vor
dreißig
Jahren war er, ein Strafgefangener, nach Sibirien gekommen. Später
blieb er
freiwillig. Er wurde Mitarbeiter einer wissenschaftlichen Expedition
zur
Erforschung der Taiga, wanderte fünf Jahre durch die Wälder, heiratete
dann
eine Chinesin, ging zum Buddhismus über, blieb in einem chinesischen
Dorf als
Arzt und Kräuterkenner, bekam zwei Kinder, verlor beide und die Frau
durch die
Pest, ging wieder in die Wälder, lebte von Jagd und Pelzhandel, lernte
die
Spuren der Tiger im dichtesten Gras erkennen, die Vorzeichen des Sturms
an dem
furchtsamen Flug der Vögel, wußte Hagel- von Schnee- und Schnee- von
Regenwolken zu unterscheiden, kannte die Gebräuche der Waldgänger, der
Räuber
und der harmlosen Wanderer, liebte seine zwei Hunde wie Brüder und
verehrte die Schlangen
und die Tiger. Er ging
freiwillig in den Krieg, schien aber seinen Kameraden und den
Offizieren schon
in der Kaserne so unheimlich, daß sie ihn als einen Geisteskranken
wieder in
die Wälder entließen. Jedes Jahr, im März, kam er in die Stadt. Er
tauschte
Hörner, Felle, Geweihe gegen Munition, Tee, Tabak und Schnaps ein. Er
nahm
einige Zeitungen mit, um sich auf dem laufenden zu halten, glaubte
aber weder den
Nachrichten noch den Artikeln; selbst an den Inseraten zweifelte er.
Seit
Jahren ging er in ein bestimmtes Bordell zu einer Rothaarigen,
Jekaterina
Pawlowna hieß sie.
Wenn ein anderer bei dem Mädchen war, wartete Baranowicz, ein
geduldiger
Liebhaber.
Das
Mädchen wurde alt, es färbte
seine silbernen Haare, verlor einen Zahn nach dem andern und sogar das
falsche
Gebiß. Jedes Jahr brauchte Baranowicz weniger zu warten, schließlich
war er der
einzige, der zu Jekaterina kam. Sie begann ihn zu lieben, das ganze
Jahr brannte
ihre Sehnsucht, die späte Sehnsucht einer späten Braut. Jedes Jahr
wurde ihre
Zärtlichkeit stärker, ihre Leidenschaft heißer, sie war eine
Greisin, mit welkem Fleisch
genoß sie die erste Liebe ihres Lebens.
Baranowicz
brachte ihr jedes Jahr
die gleichen chinesischen Ketten und die kleinen Flöten, die er selbst
schnitzte und auf denen er die Stimmen der Vögel nachahmte.
Im
Februar 1918 verlor Baranowicz
den Daumen der linken Hand, als er unvorsichtig Holz sägte. Die Heilung
dauerte
sechs Wochen, im April sollten die Jäger aus Wladiwostok kommen, er
konnte in
diesem Jahr nicht in die Stadt. Vergeblich wartete Jekaterina.
Baranowicz schrieb
ihr durch einen Jäger und tröstete sie. Statt der chinesischen Perlen
schickte
er ihr einen Zobel und eine Schlangenhaut und ein Bärenfell als
Bettvorleger.
So kam es, daß Tunda in diesem wichtigsten aller Jahre keine Zeitungen
las.
Erst im Frühling 1919 hörte er von dem heimkehrenden Baranowicz, daß
der Krieg
beendet war.
Es
war an einem Freitag, Tunda wusch
das Eßgeschirr in der Küche, Baranowicz trat in die Tür, man hörte das
Bellen
der Hunde. Eis klirrte an seinem schwarzen Bart, auf dem Fensterbrett
saß ein
Rabe.
»Es
ist Friede, es ist
Revolution!« sagte Baranowicz.
In
diesem Augenblick wurde es still
in der Küche. Die Uhr im Nebenzimmer schlug drei starke Schläge. Franz
Tunda
legte die Teller sorgfältig und leise auf die Bank. Er wollte die
Stille nicht
stören, wahrscheinlich hatte er auch Angst, die Teller würden
zerbrechen. Seine
Hände zitterten.
»Den
ganzen Weg«, sagte
Baranowicz, »habe ich es mir überlegt, ob ich es dir sagen soll.
Schließlich
tut es mir leid, daß du nach Hause gehn wirst. Wir werden uns
wahrscheinlich
nicht wiedersehn, und schreiben wirst du mir auch nicht.«
"Ich
werde dich nicht
vergessen«, sagte Tunda.
"Versprich
nichts!« sagte
Baranowicz.
Das
war der Abschied.
zurück
Tunda
wollte nach der Ukraine
gelangen, von Shmerinka, wo er in Gefangenschaft geraten war, nach der
österreichischen Grenzstation Podwoloczyska und dann nach Wien. Er
hatte keinen
bestimmten Plan, der Weg lag unsicher vor ihm, lauter Windungen. Er
wußte, daß es
lange dauern würde. Er hatte nur den einen Vorsatz: weder den weißen
noch den roten Truppen nahe zu kommen und sich um die Revolution nicht
zu
kümmern. Die österreichisch-ungarische Monarchie war zerfallen. Er
hatte keine
Heimat mehr. Sein Vater war als Oberst gestorben, seine Mutter schon
lange tot.
Ein Bruder war Kapellmeister in einer mittelgroßen deutschen Stadt.
In
Wien erwartete ihn seine Braut, Tochter des Bleistiftfabrikanten
Hartmann.
Von ihr wußte der Oberleutnant nichts mehr, als daß sie schön, klug,
reich und
blond war. Diese vier Eigenschaften hatten sie befähigt, seine Braut zu
werden.
Sie schickte ihm Briefe und Leberpasteten ins Feld, manchmal eine
gepreßte
Blume aus Heiligenkreuz. Er schrieb ihr jede Woche auf dunkelblauem
Feldpostpapier
mit angefeuchtetem Tintenstift kurze Briefe, knappe Situationsberichte,
Meldungen.
Seitdem
er aus dem Lager geflohen
war, hatte er nichts von ihr gehört. Daß sie ihm treu war und auf ihn
wartete,
daran zweifelte er nicht. Daß sie auf ihn wartete, bis zu seiner
Ankunft, daran
zweifelte er nicht. Daß sie aber aufhören würde, ihn zu lieben, wenn er
einmal
da war und vor ihr stand, schien ihm ebenso gewiß. Denn als sie sich
verlobt
hatten, war er ein
Offizier gewesen. Die große Trauer der Welt verschönte ihn damals, die
Nähe des
Todes vergrößerte ihn, die Weihe eines Begrabenen lag um den
Lebendigen, das
Kreuz auf der Brust gemahnte an das Kreuz auf einem Hügel.
Rechnete
man auf ein glückliches Ende,
so warteten nach dem triumphalen Marsch der siegreichen Truppen über
die
Ringstraße der goldene Kragen des Majors, die Stabsschule und
schließlich der
Generalsrang, alles umweht von dem weichen Trommelklang des
Radetzkymarsches.
Jetzt
aber war Franz Tunda ein
junger Mann ohne Namen, ohne Bedeutung, ohne Rang, ohne Titel, ohne
Geld und
ohne Beruf, heimatlos und rechtlos.
Er
hatte seine alten Papiere und
ein Bild seiner Braut im Rock eingenäht. Es schien ihm günstiger, mit
dem
fremden Namen, der ihm geläufig war wie sein eigener, durch Rußland zu
wandern.
Erst jenseits der Grenze wollte er seine alten Papiere wieder
verwenden.
Den
Pappendeckel, auf dem seine
schöne Braut abgebildet war, fühlte Tunda hart und beruhigend auf der
Brust.
Die Photographie stammte von dem Hofphotographen, der den Modezeitungen
Bilder
von Damen der Gesellschaft lieferte. In einer Serie »Bräute unserer
Helden« hatte
sich auch Fräulein Hartmann als die Braut des tapferen Oberleutnants
Franz
Tunda befunden; eine Woche vor der Gefangennahme noch hatte ihn die
Zeitung
erreicht.
Den
Ausschnitt mit dem Bild
konnte Tunda bequem der Rocktasche entnehmen, sooft ihn die Lust
befiel, seine
Braut zu betrachten. Er betrauerte sie schon, noch ehe er sie gesehen
hatte. Er
liebte sie doppelt: als ein Ziel und als eine Verlorene. Er liebte das
Heldentum seiner weiten und gefährlichen Wanderung. Er liebte die
Opfer, die
nötig waren, die Braut zu erreichen, und die Vergeblichkeit dieser
Opfer.
Der
ganze Heroismus seiner
Kriegsjahre erschien ihm kindisch im Vergleich zu dem Unternehmen, das
er jetzt
wagte. Neben seiner Trostlosigkeit wuchs die Hoffnung, daß er allein
durch
diese gefährliche Rückkehr wieder ein begehrenswerter Mann wurde. Er
war den ganzen
Weg über glücklich. Hätte man ihn gefragt, ob ihn die Hoffnung oder die
Wehmut
glücklich machten, er hätte es nicht gewußt. In den Seelen mancher
Menschen
richtet die Trauer einen größeren Jubel an als die Freude. Von allen
Tränen, die
man verschluckt, sind jene die köstlichsten, die man über sich selbst
geweint
hätte.
Es
gelang Tunda, den weißen und roten Truppen aus dem Weg zu gehen. Er
durchquerte
in einigen Monaten Sibirien und einen großen Teil des europäischen
Rußlands,
mit der Bahn, mit Pferden und zu Fuß. Er gelangte in die Ukraine. Er
kümmerte
sich nicht um den Sieg oder die Niederlage der Revolution. Mit dem
Klang dieses
Wortes verband er schwache Vorstellungen von Barrikaden, Pöbel und dem
Geschichtslehrer an der Kadettenschule, Major Horwath. Unter
»Barrikaden«
stellte er sich übereinandergeschichtete, schwarze Schulbänke vor, mit
aufwärtsragenden Füßen. »Pöbel« war ungefähr das Volk, das sich am
Gründonnerstag bei der Parade hinter dem Kordon der Landwehr staute.
Von diesen
Menschen sah man nur verschwitzte Gesichter und zerbeulte Hüte. In den
Händen hielten sie wahrscheinlich Steine.
Dieses Volk erzeugte die Anarchie und liebte die Faulheit.
Manchmal
entsann sich Tunda auch der Guillotine, die der Major Horwath immer
Guillotin,
ohne Endung, aussprach, ebenso wie er Pari sagte statt Paris. Die
Guillotine,
deren Konstruktion der Major genau kannte und bewunderte, stand
wahrscheinlich
jetzt auf dem Stephansplatz, der Verkehr für Wagen und Automobile war
eingestellt (wie in der Silvesternacht), und die Häupter der besten
Familien
des Reiches kollerten bis zur Peterskirche und in die
Jasomirgottstraße.
Ebenso
ging es in Petersburg zu und in Berlin. Eine Revolution ohne Guillotine
war
ebensowenig möglich wie eine rote Fahne. Man sang die Internationale,
ein Lied,
das der Kadettenschüler Mohr an den Sonntagnachmittagen vorgetragen
hatte, den
sogenannten "Schweinereien«. Mohr zeigte damals pornographische
Ansichtskarten und sang sozialistische Lieder. Der Hof war leer, man
sah zum Fenster
hinunter, leer
und still war er, man hörte das Gras zwischen den großen Quadersteinen
wachsen. - -
Eine
»Guillotin« mit dem abgehackten, gleichsam von ihr selbst
abgeschnittenen »e«
war etwas Heroisches, Stahlblaues und Blutbetropftes. Rein als
Instrument betrachtet,
schien sie Tunda heroischer als ein Maschinengewehr. Tunda nahm also
persönlich
keine Partei. Die Revolution war ihm unsympathisch, sie hatte ihm die
Karriere
und das Leben verdorben.
Aber
er war nicht im Dienst, sobald er sich der Weltgeschichte
gegenüberstellte, und
glücklich, daß ihn keine Vorschrift zwang, eine Partei zu ergreifen. Er
war ein
Österreicher. Er marschierte nach Wien.
Im
September
erreichte er Shmerinka. Er ging am Abend durch die Stadt, kaufte teures
Brot
für eine seiner letzten Silbermünzen und hütete sich vor politischen
Gesprächen. Er wollte nicht verraten, daß er über die Lage nicht
orientiert war
und daß er von weit her kam.
Er
beschloß, die Nacht zu durchwandern. Sie war klar, kühl, fast
winterlich; noch
war die Erde nicht gefroren, aber der Himmel war es schon. Gegen
Mitternacht
hörte er plötzlich Gewehrschüsse. Eine Kugel schlug ihm den Stock aus
der Hand.
Er warf sich zu Boden, ein Hufschlag traf ihn in den Rücken, er wurde
ergriffen, hochgezogen, quer über einen Sattel gelegt, über ein Pferd
gehängt
wie ein Wäschestück über eine Leine. Der Rücken schmerzte ihn, vom
Galopp
vergingen ihm die Sinne, sein Kopf war mit Blut gefüllt, es drohte, ihm
aus den
Augen zu schießen. Er erwachte aus der Ohnmacht
und schlief gleich ein - so wie er hing. Am nächsten Morgen band man
ihn ab, er
schlief noch, gab ihm Essig zu riechen, er schlug die Augen auf, fand
sich auf
einem Sack in einer Hütte liegen, ein Offizier saß hinter einem Tisch.
Pferde wieherten
hell und tröstlich vor dem Haus, auf dem Fenster saß eine Katze. Man
hielt
Tunda für einen bolschewistischen Spion. Roter Hund! nannte ihn der
Offizier. Sehr
schnell begriff der Oberleutnant, daß es nicht gut war, russisch zu
sprechen.
Er sagte die Wahrheit, nannte sich Franz Tunda, gestand, daß er auf dem
Heimweg
begriffen war und daß er ein falsches Dokument besaß. Man glaubte ihm
nicht.
Schon machte er eine Bewegung nach der Brust, wollte sein richtiges
Papier
vorzeigen. Aber er empfand den Druck der Photographie wie eine Warnung
oder wie
eine Mahnung. Er legitimierte sich nicht, es hätte ihm übrigens gar
nicht geholfen.
Er wurde gefesselt, in einen Stall geschlossen, sah den Tag durch eine
Lücke,
sah eine kleine Gruppe von Sternen, sie waren hingestreut wie weißer
Mohn -
Tunda dachte an frisches Gebäck - er war ein Österreicher. Nachdem er
zweimal
die Sterne gesehen hatte, wurde er wieder ohnmächtig. Er erwachte in
einem Meer
von Sonne, bekam Wasser, Brot und Schnaps, Rotgardisten standen um ihn,
ein
Mädchen in Hosen war unter ihnen, ihre Brust ahnte man hinter zwei
großen, mit
Papieren gefüllten Blusentaschen.
»Wer
sind Sie?« fragte das Mädchen.
Sie
schrieb alles auf, was Tunda sagte.
Sie
reichte ihm ihre Hand. Die Rotgardisten gingen hinaus, sie ließen die
Tür weit offen,
plötzlich fühlte man die glühende Sonne, obwohl sie weiß und ohne Lust
zu
brennen war. Das Mädchen war kräftig, sie wollte Tunda emporziehen und
fiel
selbst nieder. Bei strahlender Sonne schlief er ein. Dann blieb er bei
den
Roten.
zurück
Irene
hatte wirklich lange gewartet. In der Gesellschaftsschicht, der das
Fräulein
Hartmann angehörte, gibt es eine Treue aus Konvention, eine Liebe
aus
Gründen der Schicklichkeit, Keuschheit aus Mangel an Auswahl
und infolge eines diffizilen Geschmacks. Irenes Vater, ein Fabrikant
noch aus jener Zeit, in der die Redlichkeit eines Mannes nach
der Anzahl der Prozente berechnet wurde, die er auf seine Waren
anschlug,
verlor seine Fabrik
wegen der gleichen Bedenken, denen Irene beinahe ihr Leben geopfert
hätte. Er
konnte sich nicht entschließen, schlechtes Blei zu verwenden, obwohl
die
Verbraucher gar nicht anspruchsvoll waren. Es gibt eine geheimnisvolle,
rührende Anhänglichkeit an die Qualität der eigenen Ware, deren
Gediegenheit
zurückwirkt auf den Charakter des Erzeugers, eine Treue zum Fabrikat,
die ungefähr
dem Patriotismus jener Menschen gleicht, die von der Größe, der
Schönheit, der
Macht ihres Vaterlandes die eigene Existenz abhängig machen. Diesen
Patriotismus haben Fabrikanten manchmal mit ihren letzten Bürodienern
gemein,
wie den großen Patriotismus Fürsten und Korporale.
Der
alte Herr stammte aus jener
Zeit, in der ein Wille die Qualität bestimmte und in der man noch mit
Ethik
Geld verdiente. Er hatte Kriegslieferungen, aber keine richtige
Vorstellung vom
Kriegsleben.
Deshalb
lieferte er Millionen
allerbester Bleistifte an unsere Krieger im Feld, Bleistifte, die
unsern
Kriegern ebensowenig halfen wie die miserablen Erzeugnisse der anderen
Kriegslieferanten. Einem Intendanten, der ihm den Rat gab, geringere
Ansprüche
an seine Ware zu stellen, wies der Fabrikant die Tür. Andere behielten
das gute
Material für eine bessere Zeit.
Als
der Friede kam, hatte der
Alte nur schlechtes Material, das ohnehin im Preis gesunken war. Er
verkaufte
es mitsamt seiner Fabrik, zog sich in einen ländlichen Bezirk zurück,
machte
noch ein paar kurze Spaziergänge und schließlich den langen letzten zum
Zentralfriedhof.
Irene
blieb, wie die meisten
Töchter verarmter Fabrikanten, in einer Villa zurück, mit einem Hund
und einer
adeligen Dame, die Kondolenzbesuche empfing und den Alten ehrlich
betrauerte,
nicht weil er ihr nahegestanden hatte, sondern weil er dahingegangen
war, ohne
ihr nahegestanden zu haben. Ihren Weg von einem Majordomus zur
Gebieterin hatte
der Tod unterbrochen. Jetzt besaß sie die Schlüssel zu Schränken, die
ihr nicht
gehörten. Sie tröstete sich durch eine ausgiebige Betrachtung der
leidenden
Irene.
Übrigens
war die vornehme Dame
mittelbar die Ursache der Verlobung mit Tunda gewesen. Irene hatte sich
verlobt, um ihre Selbständigkeit zu beweisen.
Verlobtsein war beinahe soviel wie Großjährigkeit.
Die
Braut eines aktiven Offiziers
im Krieg war sogar de facto großjährig. Wahrscheinlich hätte die Liebe,
die auf
diesem Grunde gewachsen war, die juristische Großjährigkeit, das
Kriegsende,
die Revolution nicht überdauert, wenn Tunda zurückgekommen wäre.
Verschollene aber
haben einen unwiderstehlichen Reiz.
Einen
Anwesenden betrügt man,
einen Gesunden, einen Kranken auch und unter Umständen
sogar einen Toten. Aber
einen rätselhaft Verschwundenen erwartet man, solang es geht.
Es
gibt verschiedene Ursachen
weiblicher Liebe. Auch das Warten ist eine. Man liebt die eigene
Sehnsucht und
das bedeutende Quantum an Zeit, das man investiert hat. Jede Frau würde
sich
selbst geringschätzen, wenn sie den Mann nicht liebte, auf den sie
gewartet
hat. Weshalb aber wartete Irene? Weil anwesende Männer weit hinter
Verschollenen
zurückstehen.
Übrigens
war sie anspruchsvoll.
Sie gehörte zu der Generation der illusionslosen großbürgerlichen
Mädchen,
deren natürlich-romantische Veranlagung der Krieg zerstört hatte. Diese
Mädchen
gingen während des Krieges in die Mittelschule, ins Lyzeum, in die
sogenannte
Töchterschule. Das sind in ruhigen Zeiten die Brutstätten der
Illusionen, der
Ideale, der Verliebtheiten.
Im
Krieg
vernachlässigte man die Erziehung. Die Mädchen aller Stände
lernten auf Kosten der Jamben Krankenpflege, aktuelles Heroentum,
Kriegsberichte.
Die Frauen dieser Generation sind skeptisch wie nur Frauen, die eine
große
Erfahrung in der Liebe haben. Die stumpfe, simple und barbarische
Beschaffenheit der Männer ist ihnen langweilig. Von der armseligen,
ewigen und
unveränderlichen Methode männlicher Werbung wissen sie alles schon im
vorhinein.
Irene
nahm nach dem Krieg eine
Stellung in einem Büro an, weil man sich damals anfing zu schämen, wenn
man
nicht arbeitete. Sie gehörte zu den besseren Bürokräften, die der Herr
Chef
selbst zu rufen, nicht durch den Sekretär holen zu lassen pflegte.
Deshalb
bildete man sich damals ein, die Welt stünde Kopf und die Gleichheit
aller wäre
gründlich durchgeführt. Welch eine Zeit, in der Fabrikantentöchter das
Geehrte vom
Achtzehnten dieses beantworten mußten, um bessere Strümpfe tragen zu
können!
Diese Zeit war »aus den Fugen«.
Irene
wartete (wie viele tausend
Frauen) morgens, mittags, abends auf den Briefträger. Er brachte
manchmal einen
gleichgültigen Brief vom Notar. Inzwischen umgaben sie die Seufzer der
aristokratischen Damen, deren Mitgefühl aussah wie eine Schadenfreude.
Irene
verkehrte bei einer
befreundeten Familie aus Triest. Es war eine alte Familie, die seit
Dezennien
von Kachelöfenerzeugung lebte und von klassischen Statuen aus Gips.
Dieser
Familie sind die meisten Diskoswerfer zuzuschreiben, die unter
Glasstürzen auf
Mahagonivitrinen stehen. Ein Zweig der Triestiner Familie hatte -
wahrscheinlich aus geschäftlichen Gründen - dem Irredentismus
gehuldigt, seine
Büros nach Mailand verlegt und sich von dem habsburgertreuen
Familienteil getrennt.
Beide Lager wechselten nicht einmal mehr Hochzeitstelegramme.
So
tiefgehende Konsequenzen kann
der Patriotismus erzeugen.
Nach
dem Kriege knüpften sich die
Beziehungen wieder langsam an. Da der Sieg zur Großmut verpflichtet,
streckte
der italienische Teil der Familie dem österreichischen zuerst die Hand
entgegen. Es war ein Neffe, der von Mailand nach Wien kam - und das ist
der
Mann, den Irene schließlich heiratete.
Er
eroberte sie durch Galanterie.
Es war in jenen Tagen bei deutschen Männern eine seltene Eigenschaft -
sie ist
es noch heute. Er war unbedeutend, flink, geschäftstüchtig, er
verdiente Geld
und besaß die große, weltmännische Fähigkeit, geizig zu sein und
gleichzeitig
einer Frau kostbare und überraschende Geschenke zu machen. Sein
persönlicher Geschmack
stand in einem verblüffenden Gegensatz zu seinem beruflichen. In seinem
Hause
befand sich nicht eine einzige jener Statuen, die
er fabrizierte. –
Irene
war froh, als sie ihre
väterliche Villa verließ, und nach fünfzehn Jahren zum erstenmal die
adelige
Dame.
Da
der Hund dem Ehepaar folgte,
übernahm die Wirtschafterin auch einen Teil seiner Funktionen: Sie
knurrte den
Briefträger an.
Irene
vergaß Tunda nicht. Ihr
erstes Kind, es war ein Mädchen, nannte sie gegen ihren guten
Geschmack:
Franziska.
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