|
|
|
|
|
lifedays-seite
moment
in time
|
|
|
04.3
Geschichten - Joseph
Roth
Werke
4
1916-
1929
Romane und
Erzählungen
Die
Flucht ohne Ende - Seite 2
Ein
Bericht 1927
Ich
habe erzählt, wie Tunda für
die Revolution zu kämpfen begann. Es war ein Zufall.
Er
vergaß seine Braut nicht, aber
er befand sich nicht mehr auf dem Wege zu ihr, sondern schon in der
Nähe von
Kiew und auf dem Marsch nach dem Kaukasus. Er trug einen roten Stern,
seine
Stiefel waren zerrissen. Noch wußte er nicht, ob er in seine Kameradin
verliebt
war. Aber nach althergebrachter Sitte schwor er ihr einmal Treue.
Er
begegnete ihrem Widerstand
gegen jede Poesie und fühlte den Zusammenbruch ewiger
Gesetze.
"Ich
werde dich niemals
verlassen«, sagte Franz Tunda.
»Ich
werde dich loswerden!«
erwiderte das Mädchen.
Man
nannte sie Natascha
Alexandrowna. Sie war die Tochter eines Uhrmachers und einer Bäuerin,
hatte
sich früh mit einem französischen Parfümerie-Fabrikanten verheiratet
und nach
einem Jahr von ihm scheiden lassen. Sie zählte heute 23 Jahre. Ihr
Gesicht
veränderte sich manchmal. Ihre gewölbte Stirn legte sich in viele
kleine Falten,
ihre starken, kurzen Augenbrauen schoben sich eng zusammen, die zarte
Haut
ihrer Nase straffte sich über dem Knochen, die Nasenlöcher wurden
schmal, die
Lippen, immer rund und halb offen, preßten sich gegeneinander wie zwei
verbissene Feinde, der Hals streckte sich vor wie ein suchendes Tier.
Ihre
Pupillen, sonst braun, rund, in dünnen, goldenen Ringen, wurden
schmale, grüne
Ovale, zwischen zusammengezogenen Lidern wie Klingen in Futteralen. Sie
wollte
von ihrer Schönheit nichts wissen, rebellierte gegen sich, hielt ihre
Weiblichkeit für einen Rückfall in die bourgeoise Weltanschauung und
das ganze
weibliche Geschlecht für den unberechtigten Überrest einer besiegten,
verröchelnden
Welt. Sie war mutiger als die ganze männliche Schar, in deren Mitte sie
kämpfte. Sie wußte nicht, daß Mut die Tugend der Frauen ist und
Furchtsamkeit
die Klugheit der Männer. Sie wußte auch nicht, daß alle Männer nur
deshalb ihre
guten Kameraden waren, weil alle sie liebten. Sie wußte nicht, daß
Männer
keusch sind und sich schämen, ihre Herzen zu verraten. Sie hatte sich
keinen
von ihnen genommen; sie hatte keines einzigen Liebe gemerkt, weil sie
bürgerlicher
war, als sie sich zugestehen durfte.
Die
Männer ihres Zuges waren
Matrosen, Arbeiter, Bauern, ohne Bildung und von der Unschuld der
Tiere. Tunda
war der erste Mann von bürgerlicher Beschaffenheit. Ihn nahm sie
sofort. Sie
ahnte nicht, daß es der deutliche Rückfall in die Bürgerlichkeit war.
Sie
anerkannte seine erotische Ebenbürtigkeit, sie verspottete seinen
bürgerlichen
Horizont. Sie nahm sich vor, aus diesem Material einen Revolutionär zu
machen.
Sie wußte nicht, daß es ihr nur gelingen konnte, weil sie und er,
in der Mitte der anderen,
dennoch auf einer unnahbaren Insel lebten und trotz ihrer verschiedenen
Überzeugungen einander am schnellsten verstanden.
Natascha
Alexandrowna verliebte
sich in Tunda, regelrecht, nach allen von ihr bekämpften Liebesgesetzen
der
alten, von ihr verleugneten Welt. Deshalb sagte sie:
»Ich
werde dich loswerden« und
wußte nicht, daß sie log, Tunda schwor zuerst ewige Liebe mit der
Sicherheit
aller oberflächlichen Männer, denen viele kluge Frauen anheimgefallen
sind.
Erst der programmatische und unwahre, aber verblüffende Widerstand der
Frau und
ihr selbstbewußter und ihm so ungewohnt schroffer Verzicht auf alle
Süßigkeiten
männlicher Verführung machten ihn verliebt - zum erstenmal
in seinem Leben.
Nun
erst entschwand ihm seine
Braut, mit ihr sein ganzes früheres Leben. Seine Vergangenheit war wie
ein
endgültig verlassenes Land, in dem man gleichgültige Jahre verbracht
hat. Die
Photographie seiner Braut war eine Erinnerung wie die Ansichtskarte von
einer
Straße, in der man gewohnt hat, sein früherer Name auf seinem echten
Dokument wie
ein alter polizeilicher Meldezettel, nur der Ordnung wegen aufgehoben.
Natascha
sah einmal die Photographie
seiner Braut, und obwohl sie eifersüchtig wurde, gab sie ihm das Bild
mit einer
gleichgültigen Hand zurück und sagte: »Ein guter bürgerlicher Typ!«
Es
war, als hätte sie das alte,
aber für seine Zeit im Verhältnis noch anständig gebaute Modell einer
heute
schon weit übertroffenen Pistole betrachtet, für moderne, revolutionäre
Kriegführung unmöglich zu gebrauchen.
Wie
gut wußte sie die Stunden
ihres Tages einzuteilen, die Kameradschaft mit dem Genuß der Liebe zu
verbinden
und diesen mit der Pflicht des Kampfes!
»Um
elf Uhr dreißig rücken wir
vor«, sagte sie zu Tunda, »jetzt ist neun. Wir essen bis halb zehn, du
zeichnest die Karte für Andrej Pawlowitsch, um zehn bist du fertig, bis
elf Uhr
dreißig können wir miteinander schlafen, wenn du nicht fürchtest, dann
müde zu
sein. Mir macht es gar nichts!« fügte sie mit einem leisen Hohn hinzu
und
überzeugt, daß sie wieder einmal ihre männliche Überlegenheit bewiesen
hatte.
Sie
blieb wach und kontrollierte
ihre Genüsse wie ein Posten die Geräusche der Nacht. Die körperliche
Liebe war
eine Forderung der Natur. Natascha erhob die Liebe fast zu einer
revolutionären
Pflicht und hatte fortan ein reines Gewissen. Tunda hatte sich
weibliche
Soldaten immer so vorgestellt. Diese Frau war wie aus Büchern
gestiegen, ihrer literarisch
bekräftigten Existenz ergab er sich mit Bewunderung und der
demütigen Treue eines Mannes,
der nach falschen Überlieferungen in einer entschlossenen Frau eine
Ausnahme
sieht und nicht die Regel.
Er
wurde ein Revolutionär, er
liebte Natascha und die Revolution. Viele Stunden des Tages benutzte
Natascha
dazu, ihn und ihre Leute »politisch aufzuklären« und Tunda besondern
Nachhilfeunterricht zu erteilen, weil er von der Revolution weniger
verstand
als die Arbeiter und Matrosen.
Es
dauerte lange, ehe er es sich
abgewöhnte, bei dem Wort »Proletariat« an Gründonnerstag zu denken. Er
war
mitten in der Revolution, und er vermißte noch die Barrikaden. Als
seine Leute
- denn er kommandierte sie jetzt - einmal die Internationale sangen,
erhob er
sich mit dem schlechten Gewissen eines Verräters, er schrie hurra mit
der
Verlegenheit eines Fremden, eines Gastes, der bei einem zufälligen
Besuch ein
Fest mitfeiern muß. Es dauerte lange, ehe er sich daran gewöhnte, nicht
zu
zucken, wenn ihn seine Kameraden Genosse nannten. Er selbst nannte sie
lieber
bei ihren Namen und wurde in der ersten Zeit verdächtigt.
»Wir
sind im ersten Stadium der
Weltrevolution«, sagte Natascha in jeder Nachhilfestunde, »Männer wie
du gehören
noch zur alten Welt, können uns aber gute Dienste leisten. Wir nehmen
dich eben
mit. Du verrätst die bürgerliche Klasse, der du angehörst, du bist uns
willkommen. Aus dir kann ein Revolutionär werden, aber ein Bürger
bleibst du immer.
Du warst Offizier, das tödlichste Werkzeug in der Hand der herrschenden
Klasse, du hast das
Proletariat geschunden, du hättest erschlagen werden müssen. Sieh doch
den
Edelmut des Proletariats! Es erkennt an, daß du was von Taktik
verstehst, es
verzeiht dir, es läßt sich sogar von dir führen.«
»Ich
führe es ja nur deinetwegen
- weil ich dich liebe«, sagte der altmodische Tunda.
»Liebe!
Liebe!« schrie Natascha.
»Das kannst du deiner Braut erzählen! Ich verachte deine Liebe. Was ist
das? Du
kannst es nicht einmal erklären. Du hast ein Wort gehört, in euren
verlogenen
Büchern und Gedichten gelesen, in euren Familienzeitschriften! Liebe!
Ihr habt
das wunderbar eingeteilt: Da habt ihr das Wohnhaus, dort die Fabrik
oder den
Delikatessenladen, drüben die Kaserne, daneben das Bordell und in der
Mitte die
Gartenlaube. Ihr tut so, als wäre sie das wichtigste in eurer
Welt, in ihr schichtet ihr
alles auf, was Edles, Erhabenes, Süßes in euch ist, und ringsum ist
Platz für
eure Gemeinheit. Eure Schriftsteller sind blind oder bestochen, sie
glauben
eurer Architektur, sie schreiben von Gefühlen statt von Geschäften, von
Herz
statt von Geld, sie beschreiben die kostbaren Bilder an den Wänden und
nicht
die Kontos in den Banken.«
»Ich
habe nur Detektivromane
gelesen«, warf Tunda schüchtern dazwischen.
»Ja,
Detektivromane! Wo die
Polizei siegreich ist und der Einbrecher gefangen wird, oder wo ein
Einbrecher
nur deshalb siegreich ist, weil er ein Gentleman ist und den Frauen
gefällt und
einen Frack trägt. Wenn du nur meinetwegen bei uns bist, werde ich dich
erschießen«, sagte Natascha.
»Ja,
nur deinetwegen!« sagte
Tunda.
Sie
atmete auf und ließ ihn am
Leben.
Es
ist gleichgültig, ob jemand
durch Lektüre, Nachdenken, Erleben Revolutionär wird oder durch die
Liebe. Sie
rückten eines Tages in ein Dorf im Gouvernement Samara ein. Einen Popen
und
fünf Bauern, die beschuldigt waren, Rotarmisten zu Tode gefoltert zu
haben,
führte man Tunda vor. Er befahl, den Popen und die fünf Bauern
zusammenzubinden
und zu erschießen. Ihre Leichen ließ er zur Abschreckung liegen.
Er haßte noch die Toten.
Er nahm persönlich Rache an ihnen. Man hielt es für selbstverständlich.
Niemand
von der Truppe wunderte sich darüber.
Überraschte
es sie denn nicht,
daß einer töten konnte, ohne zu wollen? »Das hast du für mich getan«,
sagte
Natascha verächtlich. Zum erstenmal aber hatte Tunda etwas nicht für
Natascha
getan. Als sie ihm den Vorwurf machte, fiel es ihm ein, daß er gar
nicht an sie
gedacht hatte. Aber er gestand es nicht.
»Natürlich
für dich!« log er. Sie
freute sich und verachtete ihn.
Alle
seine Kameraden aus der
Kadettenschule und vom Regiment hätte er im Namen der Revolution
erschossen.
Eines Tages wurde ein politischer Kommissar ihrer Truppe zugeteilt, ein
Jude,
der sich den Namen Nirunow beigelegt hatte, ein Schriftsteller, der
flinke
Zeitungen und Aufrufe herstellte, der flammende Reden hielt, bevor es
zu einem
Angriff kam, und ebenso plump war im Gespräch, wie er geschickt war in
der
Fähigkeit zu begeistern. Dieser Mann, häßlich, kurzsichtig und töricht,
verliebte sich in
Natascha, die ihn wie einen politisch Ebenbürtigen behandelte. Tunda
wollte
ebenso sprechen können wie der Kommissar, er eiferte ihm nach. Er
eignete sich
die technischen Ausdrücke des Politikers an, er lernte auswendig mit
der
Fähigkeit eines Verliebten. Der Kommissar wurde eines Tages verwundet,
man
mußte ihn zurücklassen, Tunda hielt seitdem politische Reden und
verfaßte Aufrufe.
Er
kämpfte in der Ukraine und an
der Wolga, er zog in die Berge des Kaukasus und marschierte zurück an
den Ural.
Seine Truppe schmolz zusammen, er füllte sie auf, er warb Bauern an,
erschoß
Verräter und Überläufer und Spione, schlich sich hinter den Rücken des
Feindes,
ging für einige Tage in eine von Weißen besetzte Stadt, wurde
verhaftet, entfloh.
Er liebte die Revolution und Natascha wie ein Ritter, er kannte die
Sümpfe, das
Fieber, die Cholera, den Hunger, den Typhus, die Baracke ohne Arznei,
den
Geschmack des verschimmelten Brotes.
Er
stillte den Durst mit Blut, er
kannte den Schmerz des Frostes und seinen Brand, das Frieren in den
mitleidlosen Nächten, das Schmachten in heißen Tagen, er hörte in Kasan
einmal
Trotzki reden, die harte, tatsächliche Sprache der Revolution, er
liebte das
Volk. Er erinnerte sich manchmal an seine alte Welt, wie man sich an
alte
Kleider erinnert, er hieß Baranowicz, er war ein Revolutionär. Er haßte
die
reichen Bauern,
die fremden Armeen, die
den Weißgardisten halfen, er haßte die Generäle, die gegen die Roten
kämpften.
Seine Kameraden begannen, ihn zu lieben.
zurück
Er
erlebte den Sieg der
Revolution.
Die
Häuser in den Städten zogen
rote Fahnen an und die Frauen rote Kopftücher. Wie lebendiger Mohn
gingen sie
herum. Über dem Elend der Bettler und der Obdachlosen, über den
verwüsteten
Straßen, den zerschossenen Häusern, dem Schutt auf den freien Plätzen,
den Trümmern,
die nach Brand rochen, den Zimmern, in denen Kranke lagen, den
Friedhöfen, die
unaufhörlich ihre Gräber öffneten und schlossen, den seufzenden
Bürgern, die
den Schnee schaufeln und die Bürgersteige reinigen
mußten, lag die unbekannte
Röte. In den Wäldern verhallten mit weichem Echo die letzten Schüsse.
Letzter
Feuerschein huschte über nächtliche Horizonte. Die schweren und
schnellen
Glocken der Kirchen hörten nicht auf zu läuten. Die Setz- und
Druckmaschinen
begannen, ihre Räder zu drehen, sie waren die Mühlen der Revolution.
Auf
tausend Plätzen sprachen die Redner zum Volk. Die Rotgardisten
marschierten in
zerrissenen Kleidern und in zerrissenen Stiefeln und sangen. Die
Trümmer
sangen. Freudig stiegen
die Neugeborenen aus den Schößen der Mütter.
Tunda
kam nach Moskau. Es wäre
ihm gelungen, in jenen Tagen, in denen es Ämter regnete, einen
Schreibtisch und
einen Stuhl zu bekommen. Er hätte sich nur melden müssen. Er tat es
nicht. Er
hörte alle Reden, ging in alle Klubs, sprach mit allen Menschen, ging
in alle
Museen und las alle Bücher, die er bekommen konnte. Er lebte damals von
Artikeln für Zeitungen und Zeitschriften. Es gab ein Klischee für
Proteste und
Aufrufe, ein zweites für Skizzen und Erinnerungen, ein drittes für
Empörung und
Anklage. Seine Gesinnung war
revolutionärer als diese fertige Sprache. Er übernahm nur das
Handwerkszeug.
Schriftsteller erleben alles durch das Mittel der Sprache, sie haben
kein
Erlebnis ohne Formulierung.
Tunda
aber suchte nach
bestehenden, oft erprobten und zuverlässigen Formulierungen, um nicht
im
Erlebnis unterzugehen. Er griff wie ein Ertrinkender mit ausgestreckten
Armen
nach der nächsten Klippe.
Tunda,
der im Jahre 1914
ausgezogen war, um nach einigen Monaten über die Ringstraße von Wien zu
marschieren,
zu den Klängen des Radetzkymarsches, taumelte in der zerrissenen und
zufälligen
Kleidung eines Rotarmisten durch die Straßen von Moskau und fand für
seine Ergriffenheit
keinen anderen Ausdruck als den abgewandelten Text der Internationale.
Nun gibt
es Augenblicke im Leben der Völker, der Klassen, der Menschen,
Augenblicke, in
denen die Billigkeit einer Hymne gleichgültig
ist gegenüber der
Feierlichkeit, mit der sie gesungen wird.
Dem
Sieg der russischen
Revolution waren selbst die beruflichen Schriftsteller nicht gewachsen.
Alle
machten billige Anleihen und schrieben abgegriffene Worte in die Zeit.
Tunda
wußte gar nichts von der Billigkeit dieser Worte, sie erschienen ihm
ebenso
großartig wie die Zeit, in der er lebte, wie der Sieg, den er erfochten
hatte.
Mit
Natascha traf er nur des Nachts zusammen. Sie bewohnten ein Bett in
einem von
drei Familien benutzten Zimmer und nährten sich mit Hilfe eines
Spirituskochers, der mit Petroleum geheizt wurde. Ein Vorhang, aus drei
blauweiß
gestreiften Schürzen zusammengenäht, spielte die Rolle einer Wand,
einer Tür
und eines Fensters. Tunda, wie alle Männer ein Sklave der Gewohnheit,
die man Liebe
nennt, verstieß doppelt gegen die Gesetze, die Natascha aufgestellt
hatte,
indem er eifersüchtig wurde. Er machte Natascha laute Vorwürfe mit der
Harmlosigkeit naiver Männer, die glauben, es genüge, unsichtbar zu
sein, um
auch nicht gehört zu werden. Übrigens kümmerten sich die Nachbarn, die
ihre
Neugier allmählich in dieser Enge
verloren hatten, ungefähr wie lebenslänglich Eingekerkerte das
Augenlicht
verlieren, gar nicht um den Inhalt der eifersüchtigen Mahnungen und
Klagen
Tundas, sondern nur um die Störung, die sie bedeuteten.
Tunda
wollte wissen, was Natascha den Tag über bis Mitternacht tat. Sie
hätte, selbst
wenn es ihre Grundsätze gestattet hätten, nicht erzählen können, denn
es war
viel. Sie organisierte Frauenheime, lehrte Wöchnerinnen Hygiene,
beaufsichtigte
obdachlose Kinder, hielt Vorträge in Fabriken, in denen die Arbeit
unterbrochen
wurde, damit sie den Marxismus ungestört erläutern könne, arrangierte
revolutionäre Theatervorstellungen, führte Bäuerinnen in Museen,
versenkte sich
in die
Kulturpropaganda, ohne die breiten Reiterhosen, in denen sie gekämpft
hatte,
gegen einen Rock zu vertauschen. Sie blieb gewissermaßen eine
Frontkämpferin.
Den
Vorwürfen Tundas begegnete sie, ja sie kam ihnen zuvor mit anderen, die
im
Zusammenhang mit der Größe der Zeit wichtiger waren. »Weshalb arbeitest
du
nicht?« rügte sie, »du ruhst auf deinen Lorbeeren aus. Wir haben noch
nicht den
Sieg, es ist noch Krieg, er beginnt jeden Tag aufs neue. Die Zeit des
Bürgerkriegs ist vorbei, der viel wichtigere Krieg gegen das
Analphabetentum
beginnt. Wir führen heute
einen heiligen Krieg um die Aufklärung unserer Massen, um die
Elektrifizierung
des Landes, gegen die Verwahrlosung der Kinder, für die Hygiene der
arbeitenden
Klasse. Für die Revolution ist uns kein Opfer zu teuer«, sagte
Natascha, die im
Felde immer origineller gesprochen hatte, aber seit ihrer gesteigerten
öffentlichen Tätigkeit nicht anders mehr reden konnte.
»Da
hast du was von Opfern gesagt«, erwiderte der naive Tunda, der sich von
Zeit zu
Zeit seine eigenen Gedanken über die historischen Ereignisse zu machen
pflegte,
»ich wollte dich schon oft fragen, ob du nicht auch dieser Meinung
bist: Ich
stelle mir die Zeit des Kapitalismus so vor, daß er die Zeit der Opfer
war.
Seit den ersten Anfängen der Geschichte opferten die Menschen. Zuerst
Kinder
und Rinder für den Sieg,
dann opferten sie die Tochter, um den Ruin des Vaters zu verhindern,
den Sohn,
um seiner Mutter ein angenehmes Alter zu bereiten, die Frommen opferten
Kerzen
für das Seelenheil der Toten, die Soldaten opferten ihr Leben für den
Kaiser.
Sollen wir nun auch für die Revolution opfern? Mir scheint, jetzt
beginnt
endlich die Zeit, in der man nicht opfert. Wir haben nichts, wir haben
ja das
Eigentum abgeschafft, nicht wahr? Auch unser Leben gehört uns nicht
mehr. Wir sind
frei. Was wir haben, gehört allen. Alle nehmen von uns, was ihnen
gerade
notwendig erscheint. Wir sind keine Opfer, und wir bringen keine Opfer
für die
Revolution. Wir sind selbst die Revolution.«
»Eine
bürgerliche Ideologie«, sagte Natascha. "Welchen Arbeiter lockst du
damit
hinter seinem Ofen hervor? Du redest verstiegenes Zeug, ich wundere
mich, woher
du es hast. Du redest, als hättest du mindestens sechs Semester
Philosophie.
Ein Glück, daß deine Artikel nicht so geschrieben sind. Ein paar sind
ganz
gut.«
Für
die Liebe bezeugte Natascha immer weniger Interesse. Die Liebe gehörte
ja zu
den Gebräuchen des Bürgerkrieges, zu den Sitten im Felde, der
friedlichen
Kulturpropaganda konnte sie abträglich sein. Natascha kam um
Mitternacht nach
Hause, bis zwei Uhr dauerten ihre Diskussionen, um sieben Uhr früh
mußte sie
aufstehen. Die Liebe hätte zur Folge gehabt, daß sie eine Stunde später
ihr
Tagewerk begonnen hätte. Auch langweilte sie Tunda, ein Mann ohne
Energie,
dessen Rückfälle in
die bourgeoise Ideologie allein schon in seiner stärkeren
Liebesbereitschaft deutlich
wurden. Nikita Kolohin, ein ukrainischer Kommunist, der für die
nationale
Autonomie der Ukraine kämpfte und die Großrussen verachtete, weil sie
nicht
alle Worte des ukrainischen Dialekts verstanden, hatte in den letzten
Tagen mit
Natascha viele Stunden lang die Lage der ukrainischen Nation besprochen
und bei
dieser Gelegenheit bewiesen, wie hoch er über einem österreichischen
Offizier
stand. Natascha erinnerte sich, daß sie ja in Kiew zur Welt gekommen,
also
eigentlich Ukrainerin war, daß in Kiew ihr Posten war und nirgendwo
sonst. Sie
reiste mit Nikita nach Kiew - - was war da anderes zu machen?
Sie
lernte ein paar kernige ukrainische Ausdrücke, fuhr durch die Dörfer,
erinnerte
die Bauern an ihre nationalen Pflichten und traf mit Nikita wieder in
Charkow
zusammen, das nunmehr Charkiw hieß und in dem ein kleines Zimmer für
sie und
Nikita bei Freunden vorbereitet war.
Leider
vergaß Natascha, Tunda rechtzeitig von ihrem längeren Aufenthalt in der
Ukraine
zu verständigen. Daher kam es, daß Tunda zuerst eifersüchtig wurde und
annahm,
ein Mann oder mehrere würden Natascha verhindern, in der Nacht nach
Hause zu kommen. Er suchte sie in allen Klubs, allen Heimen,
allen Redaktionen, allen Büros. Dann wurde er wehmütig; es war der
erste
Schritt zur Erkenntnis. Er vergaß, Artikel zu schreiben, das nötige
Geld für
die nächsten Tage zu verdienen, er hungerte fast. Ein paar bekannten
Genossen
erzählte er von Nataschas Abwesenheit. Sie sahen ihn gleichgültig an.
Jeder von
ihnen hatte in diesen Monaten ähnliche Erfahrungen gemacht. Aber es
stand ja
fest, daß die Welt neu eingerichtet werden mußte und daß kleine private
Schmerzen lächerlich waren.
Nur
Iwan Alexejewitsch, Iwan der Grausame genannt, weil er im Bürgerkrieg
den
gefangenen Popen aus ihren langen Haaren Zöpfe geflochten, einige an
den Zöpfen
zusammengebunden und jeden dann in eine andere Richtung hatte laufen
lassen,
Iwan Alexejewitsch, der jetzt noch bei der Kavallerie diente,
eigentlich
gutmütig war und Grausamkeiten nur aus Überfluß an Phantasie beging,
Iwan
allein ließ sich in ein
längeres Gespräch über die Liebe ein.
»Die
Liebe«, so sagte Iwan, »ist gar nicht abhängig von der Revolution. Im
Krieg
hast du mit Natascha geschlafen, sie war ein Soldat, du warst ein
Soldat, ob
Revolution oder nicht, ob Kapitalismus oder Sozialismus, die Liebe hält
nur bei
gleich und gleich einige Jahre. Jetzt ist Natascha kein Soldat mehr,
sie ist
eine Politikerin, und du bist - - das weiß ich nicht, was du bist.
Früher
einmal hat man die Frau geschlagen, wenn sie nicht nach Hause kam, aber
wie willst
du diese Frau schlagen, die wie zwanzig Männer gekämpft hat? Sie hat
nicht nur gleiche
Rechte, sie hat mehr Rechte als du. Deshalb bin ich gar nicht in mein
Dorf
zurück. Dort lebt meine Frau mit fünf Kindern (wenn sie nicht noch
einige hat,
aber die ersten fünf sind von mir). Bevor ich zur Roten Armee ging,
habe ich
alle geschlagen, alle fünf und die Frau, jetzt bin ich aufgeklärt, wenn
ich
nach Hause käme, müßte ich selbst sagen: Mit dem Prügeln ist es aus.
Aber es
wäre gegen meine Natur, ich hätte doch fortwährend Lust, diesen und
jenen in
meiner Familie zu verprügeln, und ich dürfte es nicht. Daraus könnten
sich dann
Konflikte entwickeln, und ein anständiges Familienleben käme nicht
zustande, wenn
ich mich fortwährend beherrschen müßte.«
Nicht
einmal die Rückkehr Nataschas tröstete Tunda. Sie kam nach einigen
Wochen,
mußte zu einem Arzt und dachte weder an Tunda mehr noch an die
ukrainische
Nation. Sie blieb acht Tage im Bett, Tunda bediente den Spirituskocher.
Wer
diese Tätigkeit kennt, wird wissen, daß keine andere wie sie geeignet
ist, auch
sentimentale Männer zur Kritik zu erziehen. In diesen acht Tagen wurde
Tunda seiner Liebe, die sich in Kochen verwandelt hatte, einfach müde.
Mit
Hilfe einiger alter Freunde aus der Zeit des Kriegskommunismus fand er
einen
Schreibtisch. Er saß in dem Büro eines neubegründeten Instituts, dessen
Aufgabe
es war, einige kleine Völker des Kaukasus mit einem neuen Alphabet, mit
Fibeln,
mit primitiven Zeitungen zu versehen, neue rationale Kulturen zu
schaffen.
Tunda bekam den Auftrag, mit Probezeitungen, Zeitschriften,
Propagandamaterial
nach dem Kaukasus zu reisen, an den Fluß Terek, an dessen Ufer ein
Völkchen lebte,
das nach alten Statistiken 12 000 Seelen zählen sollte.
Er
wohnte einige Wochen im Hause eines besser situierten Kumüken, der aus
religiösen Gründen Gastfreundschaft übte und den unbequemen Fremden mit
freundlicher Fürsorge behandelte.
Es
blieb Tunda nicht viel zu tun übrig. Einige junge Leute hatten sich
schon der
Kultur bemächtigt, Klubs gegründet und Wandzeitungen verfaßt. Es
stellte sich
heraus, daß die Leute nicht schnell genug lernten. Man mußte ihnen mit
Filmen
nachhelfen. Tunda wurde Leiter eines Kinos, das allerdings nur dreimal
in der
Woche spielen konnte.
Zu
seinen ständigen Gästen gehörte ein Mädchen namens Alja, Tochter eines
Grusiniers und einer Tattin.
Das
Mädchen lebte bei ihrem Onkel, einem Töpfer, der seine Arbeit unter
freiem
Himmel verrichtete und dank einer bestimmten Veranlagung, aber auch
infolge des
eintönigen Lebens ein bißchen stumpfsinnig geworden war. Er verstand
keine
Sprache, er verwendete, um sich zu verständigen, nur ein paar Brocken,
die er
langsam mit den Fingern aus seinem Hirn herauszuholen schien.
Das
Mädchen war schön und still. Sie ging in der Stille herum wie in einem
Schleier.
Manche Tiere erzeugen so eine Stille, in der sie dann ihr Leben
verbringen, als
hätten sie ein Gelübde getan, einem geheimen und höheren Zweck zu
dienen. Das
Mädchen schwieg, ihre großen braunen Pupillen lagen in dunkelblauem
Augenweiß,
sie ging so aufrecht,
als trüge sie einen Krug auf dem Kopf, ihre Hände lagen immer auf dem
Schoß wie
unter einer Schürze. Dieses Mädchen war Tundas zweite Liebe.
zurück
Tunda
führte sein Beruf manchmal nach Moskau. Er ging jede Nacht auf den
Roten Platz.
Der Rote Platz war still, alle Tore waren geschlossen, die Posten in
den
Eingängen zum Kreml standen in langen Mänteln wie aus Holz, das
Mausoleum
Lenins war schwarz, rechts auf dem Dach züngelte die rote Fahne gegen
den
Himmel, von unten her beleuchtet. Hier war der einzige Ort, auf dem man
noch
die Revolution fühlte,
und Mitternacht die einzige Stunde, in der man sie fühlen durfte.
Tunda
dachte an den roten Krieg, an die Jahre, in denen man nur zu sterben
wußte und
in denen das Leben, die Sonne, der Mond, die Erde, der Himmel nur
Rahmen oder
Hintergrund für den Tod waren. Der Tod, der rote Tod, marschierte Tag
und Nacht
über die Erde mit einer großartigen Marschmusik, mit großen Trommeln,
die
klangen wie galoppierende Hufe über Eisen und zertrümmertes Glas,
Scherben schüttete
er aus seinen Händen, die Schüsse hörte man wie ferne Rufe
marschierender
Massen.
Jetzt
bemächtigte sich die Ordnung des Tags dieses großen, roten Todes, er
wurde ein
ganz gewöhnlicher Tod, der von Haus zu Haus schlich wie ein Bettler und
sich
seine Toten holte wie Almosen. Man begrub sie in roten Särgen,
Gesangvereine
warfen Strophen in die Gräber, die Lebenden gingen zurück und setzten
sich
wieder in die Büros, schrieben Register und Statistiken, Aufnahmebogen
für die
neuen Mitgliederund
Urteile gegen Ausgeschlossene.
Es
ist kein Trost, zu denken, daß man ohne Schreibtisch und Federn, ohne
Büsten
aus Gips und ohne revolutionär drapierte Schaufenster, ohne Denkmäler
und Tintenlöscher
mit dem Kopf von Bebel als Griff wahrscheinlich keine neue Welt
einrichten
kann; es ist kein Trost, es ist keine Hilfe.
»Aber
eine Revolution zerfällt nicht«, sagte Kudrinski, ein Matrose, den man
aus der
Partei ausgeschlossen, der ein Jahr lang ein Kriegsschiff kommandiert
hatte und
der jetzt vergeblich nach einer Tätigkeit suchte.
Er
traf Tunda in einer Nacht auf dem Roten Platz. Es ist anzunehmen, daß
auch
Kudrinski hierhergekommen war, um die rote Fahne zu sehen, die
züngelnde Fahne
auf dem Dach des Kremls.
»Eine
Revolution zerfällt nicht«, sagte Kudrinski. »Sie hat ja gar keine
Grenzen. Der
Große Ozean hat keine Grenzen, und das große Feueres muß nämlich
irgendwo so
ein Feuer geben, so groß, so grenzenlos wie der Ozean, vielleicht unter
der
Erde - vielleicht aber auch im Himmel - ein großes Feuer, es hat keine
Grenzen.
So ist die Revolution. Sie hat keinen Körper, ihr Körper ist das
Brennen, wenn
sie ein Feuer ist, oder
das Fluten, wenn sie ein Wasser ist. Wir selbst sind Tropfen im Wasser
oder
Funken im Feuer, wir können gar nicht hinaus.«
Natascha
wohnte in einem requirierten Hotel. Sie oblag von sechs Uhr abends der
Liebe,
natürlich der geschlechtlichen, an der das Herz, der Allgemeinheit
gehörig,
nicht beteiligt war, der ausdrücklich einwandfreien und hygienischen
Liebe. Vom
Standpunkt der Gleichberechtigung der Frauen war nichts dagegen
einzuwenden.
Die Kameradschaft war ihr heilig. Da Tunda als Mann nicht mehr in
Betracht kam,
erübrigte es sich auch, ihn zu verachten. Er war nur mehr beinahe ein
gleichgestellter
Genosse. Wie eifrig bemühte sie sich, ihm zu helfen! Mit welchem Ernst
bemühte
sie sich, mit ihm zu diskutieren. Tunda aber sah sie, wenn er nahe vor
ihr
stand, wie in einem blassen Spiegel.
Er
kam zu ihr, wie man in eine Ortschaft kommt, in der man einmal jung
gewesen
ist. Sie war nicht mehr sie selbst, sie war gleichsam nur der Ort ihres
eigenen
früheren Lebens. Hier hatte Natascha gelebt - sagte sich Tunda - wenn
er sie
anblickte. Sie trug einen blauen Kittel, sie erinnerte an eine
Pflegerin, eine
Aufseherin, eine Schaffnerin, nur nicht an eine Geliebte und nicht mehr
an
einen Soldaten der Revolution. Von ihr ging, obwohl sie der Liebe
bedürftig war
und von der Liebe schon verwüstet, dennoch eine Art Keuschheit aus,
eine
unbegreifliche Art trockener Keuschheit, die verlassenen Mädchen ebenso
eigen
ist wie den Frauen, die mit Vernunft und aus Prinzip die Liebe ausüben.
Sie
wohnte in einem schmalen, mangelhaft beleuchteten Hotelzimmer. Zwischen
einem
Sessel, auf dem zerfranste Broschüren lagen, und dem Bett, auf dem sie
für die
sexuelle Gleichberechtigung wirkte, stand sie wie auf einer
Kommandobrücke oder
wie auf einem Rednerpodium,
die Haare weit aus der Stirn gekämmt, sie preßte die Lippen zusammen,
sie
standen nicht mehr halb offen wie einst, als sie noch Tunda geküßt
hatten.
Tunda
sagte ihr: »Ich kann dich nicht mehr Vorträge halten hören, hör auf!
Ich
erinnere mich, wie ich dich geliebt und bewundert habe. Ich war sehr
stolz auf dich!
Im Krieg war deine Sprache frisch, deine Lippen waren frisch, wir lagen
im
nächtlichen Wald, eine halbe Stunde vom Tod entfernt, unsere Liebe war
größer
als die Gefahr. Ich hätte nie geglaubt, daß ich so schnell lernen
könnte. Du
warst immer größer und stärker als ich, plötzlich bist du kleiner und
schwächer
geworden. Du bist sehr arm, Natascha! Du kannst nicht ohne den Krieg
leben. Du
bist schön in den Nächten,
in denen es brennt.«
»Deine
bürgerlichen Vorstellungen wirst du niemals los«, sagte Natascha. »Was
du dir
für Bilder von einer Frau machst! In brennenden Nächten! Wie
romantisch! Ich
bin ein Mensch wie du, mit einem zufällig anderen Geschlecht. Es ist
viel
wichtiger, ein Krankenhaus zu leiten, als in brennenden Nächten zu
lieben. Wir
haben uns niemals verstanden, Genosse Tunda. Daß wir uns, wie du sagst,
geliebt
haben, gibt dir heute kein Recht, über meine Veränderung feige zu
weinen. Geh
lieber hin und melde dich zum Eintritt in die Partei. Ich habe keine
Zeit mehr!
Ich erwarte Anna Nikolajewna, wir müssen einen Bericht machen.«
Das
war Tundas letzte Begegnung mit Natascha.
Sie
holte einen Spiegel aus ihrer Aktentasche und betrachtete ihr Gesicht.
Sie sah
zwei Tränen aus ihren Augen rinnen, langsam und in gleichem Tempo bis
zu den
Mundwinkeln. Sie wunderte sich, daß ihre Augen weinten, obwohl sie
selbst
nichts fühlte. Sie sah im Spiegel eine fremde Frau weinen. Erst als
Anna Nikolajewna
eintrat, wollte sie mit der Hand ihr Gesicht trocknen. Sie besann sich
schnell.
Es war klüger, Tränen nicht zu verbergen. Sie hielt ihr nasses
Angesicht Anna
entgegen wie eine Drohung oder wie ein Schild oder wie ein stolzes
Geständnis.
»Warum
weinst du?« fragte Anna.
»Ich
weine, weil alles so nutzlos ist, so vergebens«, sagte Natascha, als
klagte sie
etwas ganz Allgemeines an, was Anna Nikolajewna niemals verstehen
konnte.
zurück
Ich
habe schon erzählt, daß jenes stille Mädchen aus dem Kaukasus, Alja
genannt, Nichte des stumpfsinnigen Töpfers, Tunda gefiel. Von allen
Handlungen und Erlebnissen Tundas, der mir manchmal merkwürdig
erscheint,
ist mir sein Verhältnis zu Alja am verständlichsten.
Sie
lebte inmitten der Revolution, der historischen und der privaten
Wirrnisse,
wie die Abgesandte einer anderen Welt, Vertreterin einer unbekannten
Macht, kühl und neugierig, vielleicht der Liebe ebensowenig fähig
wie der Klugheit, der Dummheit, der Güte, der Schlechtigkeit, aller
irdischen Eigenschaften, aus denen sich ein Charakter zusammensetzen
soll.
Welch ein Zufall, daß sie ein menschliches Gesicht und
einen menschlichen Körper hatte! Sie verriet keinerlei Art von
Erregung,
von Freude, Ärger, Trauer. Statt zu lachen, zeigte sie ihre Zähne,
zwei weiße, fest aufeinanderschließende Reihen, ein schöner Kerker
für alle Töne der Kehle. Statt zu weinen ~ sie
weinte selten ~, ließ
sie aus weit offenen Augen über ein freundlich gleichmütiges, fast
lächelndes
Angesicht ein paar große, helle Tränen fließen, von denen man
auf keinen Fall glauben konnte, sie schmeckten nach Salz wie alle
vulgären
Tränen der Welt. Statt einen Wunsch zu äußern, deutete sie mit
den Augen nach dem Gegenstand, den sie wünschte, es schien, als könnte
sie nichts ersehnen, was außerhalb ihres Gesichtsfeldes gelegen war.
Statt etwas abzulehnen oder abzuwehren, schüttelte sie den Kopf.
Nur
wenn vor ihr im Kino jemand die Aussicht auf die Leinwand verhinderte,
zeigte sie Zeichen stärkerer Unruhe. Die Fläche der Leinwand war
ihr ohnehin zu klein, sie mußte jedes Detail sehen, ja wahrscheinlich
interessierte
sie die Kleidung der handelnden Personen oder der
gleichgültige Gegenstand einer Zimmereinrichtung mehr als das Drama
und eine Katastrophe.
Ich
beschränke mich bei der Beschreibung Aljas nur auf Vermutungen. Auch
Tunda kannte nicht viel mehr von ihr, obwohl er beinahe ein Jahr
mit ihr zusammenlebte. Daß er zu ihr kam, erscheint mir, wie schon
gesagt, selbstverständlich. Ach, er gehörte nicht zu den sogenannten
»aktiven
Naturen«. (Es wäre allerdings ebenso falsch, von seiner "Passivität« zu
sprechen.) Alja empfing
ihn wie ein stilles Zimmer.
Abgeschlossen
von jeder Lust, sich anzustrengen, zu kämpfen, sich zu ereifern
oder auch nur sich zu ärgern, lebte er auf einem abseitigen Weg.
Er brauchte nicht einmal verliebt zu sein. Auch die kleine häusliche
Strategie
blieb ihm erspart. Alja half ihrem Onkel, dem Töpfer, bei Tag.
Wenn der Abend anbrach, schlief sie bei ihrem Mann. Es gibt kein
gesünderes Leben. Inzwischen
bekam Tunda einen Stellvertreter. Er selbst ging mit seiner Frau
nach Baku. Er sollte Filmaufnahmen für ein wissenschaftliches Institut
machen.
Es
schien ihm, daß er den wichtigsten Teil des Lebens hinter sich habe. Es
war nicht mehr an der Zeit, sich Erwartungen hinzugeben. Er hatte das
dreißigste Jahr überschritten. Er ging am Abend an das Meer und hörte
die traurige, dünne Musik der Türken. Er schrieb jede Woche seinem
sibirischen Freund Baranowicz. Im Laufe der Zeit, in der sie sich
nicht sahen, wurde Baranowicz wirklich sein Bruder. Der Name Tundas
war nicht falsch, Tunda war wirklich Franz Baranowicz, Bürger der
Sowjetstaaten, zufriedener Beamter, verheiratet mit einer schweigsamen
Frau, wohnhaft in Baku. Vielleicht kamen zu ihm seine Heimat
und sein früheres Leben manchmal im Traum.
zurück
oben
weiter
|
lifedays-seite
- moment in time |
|
|
|
|
|
|
|