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04.3
Geschichten - Joseph Roth
Werke
4
1916-
1929
Romane und
Erzählungen
Die
Flucht ohne Ende - Seite 3
Ein
Bericht 1927
Jeden
Abend konnte man im Hafen von Baku abseits von einer heiteren,
buntgekleideten,
lärmenden Menge einen Mann sehen, der in jeder anderen Stadt die
Aufmerksamkeit
einiger Menschen erregt hätte, hier aber unbemerkt und in eine starke
und
undurchsichtige Einsamkeit gehüllt blieb. Manchmal setzte er sich auf
die
niedrige, steinerne Mauer, welche die See einfaßte, als wäre sie ein
Garten,
seine Füße hingen über dem Kaspischen Meer und seine Augen hatten kein
Ziel. Nur
wenn ein Schiff landete, geriet er in eine sichtbare Erregung. Er
drängte sich
durch die dichten Scharen der Wartenden und betrachtete die
aussteigenden
Passagiere. Man hätte glauben können, daß er jemanden erwarte. Aber
sobald
alles vorbei war, die türkischen Lastträger wieder an den weißen Mauern
lehnten
oder in Gruppen Karten spielten,
die leeren Phaetons langsam, die besetzten in einem feurigen und
fröhlichen
Tempo davongerollt waren, kehrte der einsame Mann offensichtlich
zufrieden
heim, nicht mit dem Ausdruck der Verlegenheit, die uns befällt, wenn
wir
jemanden vergeblich erwartet haben und allein zurückgehen müssen.
Wenn
in Baku Schiffe ankommen, seltene, nur russische, aus Astrachan,
herrscht
Aufregung im Hafen. Die Menschen wissen, daß kein fremder Dampfer
ankommen
wird, kein englischer, kein amerikanischer.
Aber
aus der Ferne, wenn man den Rauch sieht, tun die Menschen so, als
wüßten sie
nicht, ob das Schiff nicht zufällig doch ein fremdes ist. Denn über
allen
Dampfern wehen die gleichen blauweißen Rauchfahnen. Auch wenn keine
Dampfer
ankommen, befindet sich Baku in einer Erregung. Sie kommt vielleicht
von dem
vulkanischen Boden.
Manchmal erhebt sich der gefürchtete Wind, der keinen Widerstand
findet, der
über die flachen Dächer fegt, über die gelbe Landschaft ohne
Vegetation, der
Fenster, Stukkaturen, Steingeröll mit sich trägt und in dem selbst die
Bohrtürme zu schwanken scheinen – in diesem Lande Stellvertreter der
Bäume.
Tunda
ging zum Hafen, wenn die Schiffe ankamen. Obwohl er wußte, daß es nur
die alten
heimischen Pendeldampfer waren, die einheimische Beamte und selten
fremde
Kaviarhändler bringen konnten, stellte er sich doch immer wieder vor,
die
Schiffe kämen von irgendwelchen fremden Meeren. Schiffe sind die
einzigen
Fahrzeuge, denen man jede abenteuerliche Fahrt zutraut. Es müssen nicht
einmal
Dampfer sein.
Jedes
gewöhnliche Boot, jedes gemächliche Floß, jeder klägliche Fischerkahn
kann das
Wasser aller Meere gekostet haben. Für den Menschen, der an einem Ufer
steht,
sind alle Wasser gleich. Jede kleine Welle ist eine Schwester der
großen und
gefährlichen.
Ach,
er war entschlossen gewesen, nichts Überraschendes mehr zu erwarten.
Die
Schweigsamkeit seiner Frau dämpfte das Geräusch der Welt und mäßigte
den Lauf
der Stunden. Dennoch floh er aus seinem Hause, er ging zum Hafen, und
der
Geruch dieses kleinen Meeres beunruhigte ihn heftig. Er kehrte wieder
heim, sah
Alja unbewegt am Fenster sitzen und die leere Straße betrachten. Sie
wandte
kaum den Kopf,
wenn er kam, und wenn ein Geräusch im Zimmer entstand, lächelte sie,
als wäre
ihr etwas Heiteres begegnet.
In
diesen Tagen begann Tunda, alle unbedeutenden Ereignisse
niederzuschreiben, es
war, als bekämen sie dadurch eine gewisse Bedeutung.
Eines
Tages schrieb er:
zurück
Auszug
aus Tundas Tagebuch
Gestern,
um halb elf Uhr abends, lief mit einer Verspätung von drei Stunden der
Dampfer
>Grashdanin< ein. Ich stand, wie immer, am Hafen und sah das
Gedränge der
Träger. Es kamen viele auffallend gut gekleidete Menschen, Passagiere
der
ersten Klasse. Es waren, wie gewöhnlich, russische NEP-Leute und einige
auswärtige Händler.
Seitdem
ich dieses Tagebuch schreibe, interessieren mich die Ausländer
besonders.
Früher habe ich sie gar nicht beachtet. Die meisten kommen aus
Deutschland.
Wenige aus Amerika, einige aus Österreich und aus den Balkanländern.
Ich unterscheide
sie gut, manche kommen zu mir ins Institut, um Auskünfte zu holen. (In
unserm
Institut bin ich der einzige, der Deutsch und Französisch sprechen
kann.)
Ich
gehe zum Hafen, schätze die Nationalität der Fremden ab und freue mich,
wenn
ich sie erraten habe. Ich weiß eigentlich nicht, woran ich sie erkenne.
Ich
wäre in Verlegenheit, wenn ich die nationalen Merkmale aufzuzählen
hätte.
Vielleicht ist es die Kleidung, nach der ich sie agnosziere. Da sind es
auch
nicht einzelne Kleidungsstücke, sondern die ganze Haltung. Manchmal
könnte man
Deutsche mit Engländern verwechseln, besonders, wenn es sich um ältere
Menschen
handelt.
Deutsche
und Engländer haben manchmal dieselbe rote Gesichtsfarbe. Aber die
Deutschen
haben Glatzen, die Engländer meist dichte, weiße Haare, so daß ihre
Gesichtsröte tief dunkel erscheint. Ihr silbernes Haar ist nicht
imstande,
Ehrfurcht in mir zu erwecken. Im Gegenteil scheint es manchmal, als
wären die
Engländer aus Koketterie alt und grau geworden. Ihre Frische hat etwas
Widernatürliches, und ich weiß nicht, ob man es sagen kann: Gottloses.
Sie
sehen so unnatürlich aus wie Bucklige in Geradehaltern. Sie gehen herum
wie zur
Reklame für Turngeräte und Tennis-Raketts, die ein jugendliches
Greisenalter
garantieren.
Dagegen
sehen manche ältere Herren vom Kontinent so aus, als hätten sie eine
Reklame
für Büromöbel und gute Sessel zu besorgen. Von den Hüften abwärts
werden sie
breit, ihre beiden Knie stoßen gegeneinander, auch die Arme sind dem
Oberkörper
so nahe, als lägen sie auf weichen, breiten, ledernen Stuhllehnen.
Gestern
kamen drei Europäer an, von denen ich im ersten Augenblick nicht wußte,
aus welchem
Lande sie stammen konnten. Es waren eine Dame, ein älterer, kleiner,
breitschulteriger Mann mit braunem Gesicht und schwarzgrauem Bart, ein
jüngerer
Mann, braun, mittelgroß, mit hellen Augen, die in seinem tiefbraunen
Gesicht
fast weiß waren, einem sehr schmalen Mund und auffallend langen Beinen
in
weißen Leinenhosen,
in denen die Kniegelenke eingehüllt waren wie in einer zweiten oberen
Haut.
Der
kleine, bärtige Mann erinnerte ein wenig an die Zwerge aus buntem Stein
und
Gips, die in manchen Gärten in der Mitte der Beete stehen. Auch an
diesem Herrn
beleidigte mich die Gesundheit, das übermütig gebräunte Gesicht in der
bärtigen
Umrahmung. Er ging mit schnellen, kurzen Schritten neben dem
langbeinigen Mann
und der großen Dame, er hüpfte fast neben ihnen. Es sah eigentlich aus,
als würde
er wie ein Tier von der Dame an einer dünnen Leine geführt. Er machte
lebhafte
Bewegungen, einmal warf er. seinen weichen, hellen Hut in die Luft,
knapp bevor
sie in den Phaeton einstiegen. Zwei Träger folgten ihnen mit Koffern.
Ich
denke mir, daß die Bewegungen des Bärtigen zu Hause langsam und genau
berechnet
sind. Auf Reisen ist er lebhaft. Der Lärm war groß, auch sprachen sie
leise, so
daß ich nichts hörte, obwohl ich mich bis zu ihnen vordrängte.
Die
Frau in der Mitte war die erste elegante Dame, die ich seit meiner
Rückkehr aus
dem letzten Wiener Urlaub gesehen habe. Heute früh kamen sie zu mir. Es
sind
Franzosen. Der Herr ist ein Pariser Rechtsanwalt, er schreibt nebenbei
für den
>Temps<. Die Dame ist seine Frau, der junge Mann sein Sekretär.
Der junge
Mann ist einer der wenigen Franzosen, die Russisch verstehen. Deshalb
und
wahrscheinlich der Dame wegen ist er auch nach Rußland gekommen.
Als
mich die Dame ansah, fiel mir Irene ein, an die ich schon lange nicht
gedacht
hatte. Nicht als ob diese Dame meiner Braut ähnlich wäre!
Sie
ist schwarz, sehr schwarz, ihr Haar ist fast blau. Ihre Augen sind
schmal, sie
schaut mich mit einer vornehmen Kurzsichtigkeit an. Es sieht aus, als
paßte es
ihr nicht, mich offen und gerade anzusehen. Ich erwarte, wenn sie zu
mir
spricht, immer irgend einen Befehl. Aber es fällt ihr gar nicht ein,
mir zu
befehlen. Wahrscheinlich wäre ich sehr glücklich, wenn sie geruhen
würde, mir
einen Auftrag zu geben.
Sie
trommelt manchmal mit Zeige-, Mittel- und Ringfinger einer Hand auf ein
Buch,
eine Stuhllehne, den Tisch. Es ist ein langsames Trommeln und eine Art
schnelles Streicheln. Ihre Nägel sind schmal und weiß, blutleere Nägel,
ihre
Lippen sind, als wär’s ein absichtlicher Kontrast, sehr rot geschminkt.
Sie
trägt schmale, graue Schuhe aus dünnem Handschuhleder, ihre Zehen sind
lang,
man sieht sie unter dem Leder, ich möchte sie mit einem Bleistift
nachzeichnen.
Der
Sekretär - nach seiner Karte heißt er Monsieur Edmond de V. - sagte
mir: >Sie
sprechen nicht Französisch wie ein Slawe. Sind Sie Kaukasier oder
Russe?<
Ich
log. Ich erzählte ihm, daß meine Eltern Eingewanderte wären und ich in
Rußland
geboren sei.
>Wir
fahren jetzt, sagte Monsieur de v., nun drei Monate durch
Rußland. Wir
waren in Leningrad, in Moskau, in Nischnij Nowgorod, auf der Wolga, in
Astrachan. Man weiß bei uns in Frankreich sehr wenig von Sowjetrußland.
Bei uns
stellt man sich ein russisches Chaos vor.
Wir
sind überrascht von der Ordnung, allerdings auch von der Teuerung. Für
dieses
Geld hätten wir alle französischen Kolonien in Afrika durchforschen
können - insoweit
sie nicht schon zu langweilig sind.<
>Sie
sind also enttäuscht?< fragte ich.
Der
bärtige Rechtsanwalt warf einen Blick auf seinen Sekretär. Die Dame sah
geradeaus, sie wollte sich nicht einmal mit einem Blick an unserem
Gespräch
beteiligen. Ich merkte, daß alle drei vor meiner Frage erschraken.
Wahrscheinlich glaubten sie doch nicht an die Ordnung bei uns. Sie
hielten mich
vielleicht für einen Spitzel.
>Sie
haben nichts zu fürchten. Sagen Sie ruhig Ihre Meinung. Ich bin nicht
von der
Polizei. Ich mache wissenschaftliche Filmaufnahmen für unser
Institut.<
Die
Dame warf mir einen schmalen, schnellen Blick zu. Ob sie böse war oder
ob sie
mir glaubte, konnte ich nicht erkennen.
Jetzt
erst fällt mir ein, daß ich sie vielleicht enttäuscht habe. Vielleicht
gefiel
ich ihr gerade, solange sie glauben konnte, ich trüge irgendein
Geheimnis.)
Monsieur
Edmond de V. aber sagte mir, indem er freundliche Augen machte und
einen
verächtlichen Mund - so daß ich nicht wußte welchem Gesichtsteil ich
glauben
sollte -, Monsieur de V. sagte:
>Sie
dürfen nicht glauben, mein Herr, daß wir Angst haben. Wir sind mit den
besten
Empfehlungen ausgestattet, es ist beinahe so, als hätten wir eine
offizielle
Mission. Wir würden es Ihnen sagen, wenn wir enttäuscht wären. Nein,
wir sind
es nicht. Wir sind entzückt von der Gastfreundschaft Ihrer Behörden,
Ihrer
Menschen, Ihres Volkes. Wir sehen nur - ich darf es von uns allen sagen
-, wir
sehen nur in dem, was Sie
als eine grundsätzliche soziale Veränderung bezeichnen, eine
ethnologische, eine
russische. Für uns ist der Bolschewismus so russisch wie - verzeihen
Sie diesen
Vergleich - der Zarismus. Außerdem – und ich befinde mich in diesem
Punkte im
Gegensatz zu den Herrschaften - habe ich die Hoffnung, daß Sie viel
Wasser in
Ihren Wein schütten werden.<
>Sie
wollen wahrscheinlich sagen<, erwiderte ich, >Wein in Ihr
Wasser.<
>Sie
übertreiben, mein Herr, ich schätze Ihre Höflichkeit.<
>Sie
provozieren vielleicht!< sagte die Dame und sah in die Luft.
Es
war der erste Satz, den sie direkt an mich gerichtet hatte, und sie sah
mich
nicht an, als wollte sie zu erkennen geben, daß sie, auch wenn sie zu
mir
sprach, nicht gerade unbedingt und nur zu mir sprach.
>Ich
hoffe, daß Sie scherzen und keinen Verdacht -<
>Es
war ein Scherz<, unterbrach mich der Rechtsanwalt. Wenn er sprach,
bewegte
sich sein Bart, ich versuchte, schon aus den Bewegungen zu erkennen,
was er
gesagt hatte.
>Vielleicht
wird es Ihnen angenehm sein, mir von Frankreich zu erzählen. Es kommt
selten
jemand aus Ihrem Lande. Ich kenne es nicht.<
>Es
ist schwer, Frankreich zu beschreiben, einem Russen, der Europa nicht
kennt<, sagte der Sekretär, >und es ist besonders für uns
Franzosen schwer.
Jedenfalls werden Sie aus unseren Büchern und Zeitungen nicht einen
ganz
genauen Eindruck haben. Was wollen Sie? Paris ist die Hauptstadt der
Welt,
Moskau wird es vielleicht noch werden. Paris ist außerdem die einzige
freie
Stadt der Welt. Bei uns wohnen Reaktionäre und Revolutionäre,
Nationalisten und
Internationalisten, Deutsche, Engländer, Chinesen, Spanier, Italiener,
wir
haben keine Zensur, wir haben loyale Schulgesetze, gerechte Richter
-<
-
und eine tüchtige Polizei<, sagte ich, weil ich es aus den
Erzählungen einiger
Kommunisten wußte.
>Gerade
über Ihre Polizei haben Sie sich nicht zu beklagen<, sagte die Dame.
Sie sah
mich immer noch nicht an.
>Unsere
Polizei haben Sie nicht zu fürchten<, meinte der Sekretär.
>Wenn
Sie einmal zu uns kommen wollten, nicht mit feindlichen Absichten
natürlich -
so können Sie immer auf mich rechnen.<
>Sicherlich<,
bekräftigte der Bart.
>Ich
werde mit den friedlichsten Absichten kommen<, versicherte ich.
Ich
fühlte, wie treuherzig ich dabei aussah. Die Dame sah mich an. Ich
betrachtete
ihre schmalen roten Lippen und sagte, plump und kindisch, denn es
schien mir,
daß ich meine grobe Treuherzigkeit noch übertreiben müßte: >Ich
würde zu
Ihnen kommen - Ihrer Frauen wegen.<
>Oh,
Sie sind charmant!< stieß der Bart sehr eilig hervor. Vielleicht
hatte er
Angst, daß seine Frau es sagen würde. Er konnte es trotzdem nicht
verhindern,
daß sie lächelte.
Ich
hätte ihr gerne gesagt: Ich liebe Sie, Madame.
Sie
begann zu sprechen, als wäre sie ganz allein: >Ich könnte niemals in
Rußland
leben. Ich brauche den Asphalt der Boulevards, eine Terrasse im Bois de
Boulogne, die Schaufenster der Rue de la Paix.<
Sie
verstummte plötzlich, wie sie zu sprechen angefangen hatte. Es war, als
hätte
sie alle duftenden, glänzenden Kostbarkeiten vor mir ausgeschüttet. Es
lag an
mir, sie aufzulesen, zu bewundern, zu besingen.
Ich
sah sie an, minutenlang, nachdem sie aufgehört hatte. Ich wartete noch
auf
einige Herrlichkeiten. Ich wartete eigentlich auf ihre Stimme. Es war
eine
tiefe, scharfe und kluge Stimme.
>Nirgends
lebt man so gut wie in Paris<, fing der Sekretär wieder an, >ich
selbst
bin ein Belgier. Es ist also kein Lokalpatriotismus.<
>Sie
sind aus Paris?< fragte ich die Dame.
>Aus
Paris; wir wollen nachmittags ins Petroleumgebiet fahren<, sagte sie
schnell.
>Wenn
Sie nichts dagegen haben, begleite ich Sie.<
>Ich
würde dann arbeiten und erst morgen früh hinfahren<, sprach der
Bart.
Vorher
aß ich im vegetarischen Restaurant, denn ich hatte keinen Hunger. Auch
das Geld
ging zu Ende. Ich bekam erst in zehn Tagen Gehalt. Ich fürchtete, die
Dame
würde einen Wagen brauchen – ich hätte ihn noch bezahlen können. Aber
wie, wenn
sie mehr brauchte? Wenn sie plötzlich essen wollte? Ich durfte mir vom
Sekretär
nichts bezahlen lassen.
Ich
aß ohne Appetit. Um halb drei Uhr stand ich in glühender Sonne vor dem
Bahnhof.
Nach
zwanzig Minuten kam sie in einem Wagen, allein.
>Sie
werden mit mir allein fahren müssen<, sagte sie. >Wir haben
beschlossen, Herrn
de V. bei meinem Mann zu lassen. Er will in der Stadt herumgehen und
hat Angst,
weil er sich nicht verständigen kann.<
Wir
saßen zwischen Straßenhändlern, Arbeitern, halbverhüllten
Mohammedanerinnen, obdachlosen
Knaben, lahmen Bettlern, Kolporteuren, weißen Zuckerbäckern, die
orientalische
Süßigkeiten verkauften.
Ich
zeigte ihr die Bohrtürme. >Es ist langweilig<, sagte sie.
Wir
kamen in Sabuntschi an.
Ich
sagte: >Es ist überflüssig, die Stadt zu sehen. Es wäre mühevoll, es
ist
heiß. Wir wollen auf den nächsten Zug warten. Wir fahren zurück.<
Wir fuhren
zurück.
Als
wir wieder in Baku ausstiegen, schämten wir uns. Nach einigen Minuten
sahen wir
uns gleichzeitig an und lachten.
Wir
tranken Sodawasser in einer kleinen Bude, die Fliegen summten, ein
ekelhaftes
Fliegenpapier hing am Fenster.
Mir
wurde sehr heiß, obwohl ich unaufhörlich Wasser trank. Ich hatte nichts
zu
sagen, das Schweigen war noch drückender als die Hitze. Sie aber saß,
unberührt
von der Hitze, dem Staub, dem Schmutz, der uns umgab, und wehrte nur
manchmal
eine Fliege ab.
>Ich
liebe Sie<, sagte ich - und obwohl ich ohnehin ganz rot vor Hitze
war, wurde
ich noch röter.
Sie
nickte.
Ich
küßte ihre Hand. Der Sodawasserhändler sah mich böse an. Wir gingen.
Ich
ging mit ihr durch die asiatische alte Stadt. Der Tag war noch voll.
Ich
verwünschte ihn. Wir gingen zwei Stunden kreuz und quer. Ich fürchtete,
sie
würde müde
werden oder wir könnten ihrem Mann und dem Sekretär begegnen.
Wir
gelangten zum Meer, ohne Absicht. Wir saßen am Kai, ich küßte immer
wieder ihre
Hand.
Alle
Menschen sahen uns an. Ein paar Bekannte grüßten mich. Die Nacht fiel
schnell
ein. Wir gingen in ein kleines Hotel, der Wirt erkannte mich, es ist
ein
levantinischer Jude. Er hält mich für einen einflußreichen Mann und ist
wahrscheinlich froh, daß er etwas Intimes von mir weiß. Wahrscheinlich
hat er
sich vorgenommen, gelegentlich von
seinem Geheimnis Gebrauch zu machen.
Es
war finster, wir fühlten das Bett, wir sahen es nicht.
>Hier
sticht etwas<, sagte sie später.
Aber
wir machten kein Licht.
Ich
küßte sie, sie zeigte mit dem Finger dahin, dorthin, ihre Haut
leuchtete im Dunkel,
ich jagte mit zitternden Lippen ihrem hüpfenden Finger nach.
Sie
stieg in einen Wagen, sie will morgen vormittag mit dem Mann und dem
Sekretär
wiederkommen. Sie wird Abschied nehmen. Sie fahren in die Krim und dann
von
Odessa nach Marseille.
Ich
schreibe dies zwei Stunden, nachdem ich sie geliebt habe. Es scheint
mir, daß
ich es aufschreiben muß, damit ich morgen noch weiß, daß es wahr
gewesen ist.
Soeben
ist Alja ins Bett gegangen.
Ich
liebe sie nicht mehr. Ihre stille Neugier, mit der sie mich seit
Monaten empfängt,
erscheint mir tückisch. So wie ein Schweigsamer einen Angeheiterten und
einen
Beredten aushorcht, so empfängt sie meine Liebe --«
Sie
kamen am nächsten Tag von Tunda Abschied nehmen.
»Ich
habe«, sagte der Rechtsanwalt, »Herrn de V. absichtlich gestern
zurückgehalten.
Ich bin überzeugt, daß man zwei Personen nicht soviel zeigen kann wie
einer
einzigen. Nach dem, was meine Frau gestern erzählt hat, müssen Sie eine
Menge
interessanter Dinge gesehen haben.«
Der
Rechtsanwalt hatte wirklich Ähnlichkeit mit einem Zwerg, aber nicht
mehr mit
einem harmlosen, der in einem grünen Rasen steht, sondern mit einem,
der in
einem unheimlichen Geröll wohnt.
Sie
verabschiedeten sich wie fremde Menschen. »Hier«, sagte die Dame, bevor
sie
ging, und sie gab Tunda einen Zettel mit ihrer Adresse.
Er
las ihn erst eine Stunde später.
Seit
diesem Tag wußte Tunda, daß er in Baku nichts mehr zu tun habe. Die
Frauen, die
uns begegnen, erregen mehr unsere Phantasie als unser Herz. Wir lieben
die
Welt, die sie repräsentieren, und das Schicksal, das sie uns bedeuten.
Von
dem Besuch der fremden Frau war ihr Wort von den Schaufenstern der Rue
de la
Paix zurückgeblieben. An die Schaufenster der Rue de la Paix dachte
Tunda, als
er seine alten Papiere hervorsuchte.
Es
war ein offener Befehl, Nummer 253, mit rundem Stempel unterschrieben
von
Kreidl, Oberst, ausgestellt vom Feldwebel Palpiter. Das gelbe, in
seinen Falten
porös gewordene Papier hatte eine gewisse Weihe bekommen, es war glatt,
es
fühlte sich an wie Talg und erinnerte an die Glätte der Kerzen.
Unbezweifelbar
war sein Inhalt. Da stand, daß der Oberleutnant Franz Tunda zwecks
Monturenfassung sich nach Lemberg zu begeben habe.
Wäre
er nicht einen Tag später in Gefangenschaft geraten, so wäre aus dieser
Dienstreise ein kleiner, verstohlener Abstecher nach Wien geworden.
Hier
stand der Name Franz Tunda so groß, so stark, so sorgfältig mit Haar
und
Schatten aufgezeichnet, daß er beinahe aus der Fläche des Papiers
herauskam zu
eigenem Leben.
In
den Namen lebt eine Kraft wie in Kleidern. Tunda, der seit einigen
Jahren Baranowicz
war, sah aus dem Dokument den alten Tunda heraustreten. Neben dem
offenen
Befehl lag die Photographie Irenes. Der Pappendeckel war verbogen, das
Bild
verblaßt. Es zeigte Irene in einem dunklen, hochgeschlossenen Kleid,
einem
ernsten Kleid, wie man es anzieht, wenn man sich für einen Krieger im
Feld
photographieren läßt.
Lebendig
war noch der Blick, kokett und klug, gelungene Mischung aus einer
natürlichen
Veranlagung und einer photographischen Retusche.
Während
Tunda das Bild ansah, dachte er an die Schaufenster der Rue de
la Paix.
zurück
Eines
Tages erschien im österreichischen Konsulat in Moskau ein Fremder in
einer
schwarzen Lederjoppe, in zerrissenen Schuhen, mit Bartstoppeln in einem
braunen
und hart geschnitzten Gesicht, mit einer alten Pelzmütze, die noch
älter aussah,
als sie war, weil draußen die erste warme Märzsonne leuchtete. Sie fiel
durch
zwei breite Fenster auf die braune Holzbarriere, hinter der ein Beamter
saß,
und bestrahlte bunte Prospekte aus den Kurorten von Salzburg und Tirol.
Der
Fremde sprach einen einwandfreien ärarischen Dialekt, den Dialekt der
besseren
österreichischen Stände, der auch manche hochdeutsche Worte gestattet,
wenn sie
mit Melodie gesagt werden, und der aus der Ferne wie eine Art nasales
Italienisch klingt. Dieser Dialekt bekräftigte und erhärtete die
Erzählungen
des Fremden besser, als es jedes Dokument vermocht hätte. Eines
Nachweises
bedurften diese Erzählungen allerdings,
denn sie klangen unwahrscheinlich.
Der
Fremde gab an, daß er im Jahre 1916 als österreichischer Oberleutnant
in ein sibirisches Kriegsgefangenenlager gekommen war. Von dort war es
ihm
gelungen zu fliehen. Seit dem Tage seiner Flucht lebte er in den
sibirischen Wäldern mit einem Jäger zusammen, der ein Haus am Rande der
Taiga
besaß. Beide Männer nährten sich von der Jagd.
Endlich
hatte den einen das Heimweh ergriffen. Er begann ohne Geld seine
Wanderung. Sechs Monate war er unterwegs. Mit der Bahn konnte er nur
kurze
Strecken zurücklegen. Er hatte noch ein altes Dokument, einen offenen
Befehl. Daraus
war zu ersehen, daß der Fremde Franz Tunda hieß und Oberleutnant in der
alten
österreichischen Armee gewesen war. Die österreichische
Staatsbürgerschaft
hatte er auch nachdem Zerfall der Monarchie nicht verloren, weil er
nach seinem Vater
in Linz, Oberösterreich, zuständig war. Ein Telegramm nach Linz mit
bezahlter
Rückantwort bewies die Behauptungen des früheren Offiziers. Im Archiv
des
Kriegsministeriums in Wien befanden sich noch alte Klassenbücher der
Kadettenschule,
die des Oberleutnants Angaben ebenfalls bestätigten. Die letzten
Bedenken des
Konsuls zerstreute die sympathische und aufrichtige Art des Fremden,
der so
aussah, als ob er nie in seinem Leben gelogen hätte, und die Tatsache,
daß der
schlaue Beamte einem ehemaligen Offizier nicht die Klugheit zutraute,
die zu
einer Lüge gehört.
Es
bestand kein Gesetz, demzufolge verspätete Heimkehrer aus Sibirien eine
Heimfahrt auf Kosten des sparsamen österreichischen Staates unternehmen
konnten. Wohl aber gab es eine Unterstützungskasse für »besondere
Fälle« - und
der österreichische Gesandte gestattete nach einigem Zögern, das er
mehr seinem
Amt als seinem Gewissen schuldig war, die Einreihung Tundas unter
»besondere Fälle«.
Tunda
bekam einen österreichischen Paß, durch Vermittlung der Gesandtschaft
eine
Ausreisebewilligung vom russischen Kommissariat für Auswärtige
Angelegenheiten
und eine Fahrkarte über Kattowitz nach Wien. Es war schneller gelungen,
als er
gedacht hatte. Er konnte also seine Absicht, nach Baku zu fahren und
von seiner
Frau Abschied zu nehmen, nicht mehr ausführen. Denn er nahm an, daß er
von der Polizei
beaufsichtigt und daß seine Rückkehr ihn verraten würde. Er befand sich
in
einer jener Situationen, in denen man durch äußere Umstände gezwungen
wird, ein
Unrecht, das man mit Willen und Wissen begeht, noch gegen den eigenen
Willen zu
verschärfen.
Er
war feige, weil er eine Frau allein ließ. Aber er wurde noch
jämmerlicher, weil
er von
dieser Frau nicht einmal Abschied nahm. Er schrieb ihr nur, daß er für
einige
Monate verreisen müsse. Er legte einige Geldscheine in den Brief, weil
er Angst
hatte, das Geld auf der Post aufzugeben. Er teilte seiner Frau noch die
Adresse
seines Bruders mit. Irkutsk, postlagernd, für alle Fälle.
Dann
saß er eines Abends in einem Zug, der nach dem Westen fuhr, und es
schien ihm,
daß er nicht freiwillig fahre. Es war so gekommen wie alles in seinem
Leben,
wie das meiste und Wichtigste auch im Leben der anderen kommt, die
durch eine
geräuschvolle und mehr bewußte Aktivität verführt werden, an die
Freiwilligkeit
ihrer Entschließungen und Handlungen zu glauben. Indessen vergessen sie
nur
über ihren eigenen lebhaften Bewegungen die Schritte des Schicksals.
An
einem jener schönen Aprilvormittage, an denen Wiens innere Stadt ebenso
fröhlich wie elegant ist, an einem jener Vormittage, an denen auf der
Ringstraße schöne Frauen mit unbeschäftigten Herren spazierengehen, auf
den
jungen Terrassen der Kaffeehäuser dunkelblaue Siphons leuchten und die
Freiwillige Rettungsgesellschaft Propagandaumzüge mit Musik
veranstaltet,
erschien auf der bevölkerten Sonnenseite des Grabens Franz Tunda in
demselben
Anzug, in dem er vor dem Moskauer Konsulat aufgetreten war, und erregte
zweifellos Aufsehen.
Er
sah genauso aus, wie sich ein Drogist, der an der Ecke vor der Tür
seines
duftenden Ladens stand, einen »Bolschewiken« vorstellte. Tundas lange
Beine
erschienen noch länger, weil er Reithosen und hohe, weiche Kniestiefel
trug.
Sie verbreiteten einen starken Geruch von Leder. Die Pelzrnütze saß
tief über
seinen mißmutigen Augen. Der Drogist las jedenfalls in diesem Gesicht
Gefahr
für seinen Laden.
Tunda
befand sich also in Wien. Er bezog Arbeitslosenunterstützung, lebte
kümmerlich
und suchte einige seiner alten Freunde auf. Man erzählte ihm, daß seine
Braut
geheiratet hatte und wahrscheinlich in Paris lebte.
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