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04.3
Geschichten - Joseph Roth
Werke
4
1916-
1929
Romane und
Erzählungen
Die
Flucht ohne Ende - Seite 4
Ein
Bericht 1927
Ende
April erhielt ich folgenden Brief von Franz Tunda.
»Lieber
Freund Roth,
gestern
nacht habe ich zufällig Deine Adresse erfahren. Vor zwei Monaten bin
ich
heimgekehrt - ich weiß nicht, ob dieses Wort angebracht ist. Ich lebe
vorläufig
von der Arbeitslosenunterstützung und bewerbe mich um eine Stelle als
Schreiber
beim Wiener Magistrat. Das ist wahrscheinlich aussichtslos. In dieser
Stadt
bewerben sich vierzig
Prozent der Einwohner um irgend eine Stelle. Außerdem – ich gestehe Dir
gerne,
daß ich unglücklich wäre, wenn ich hier einen Posten bekäme.
Du
fragst natürlich, warum ich Rußland verlassen habe. Ich weiß keine
Antwort. Ich
schäme mich auch nicht. Ich glaube nicht, daß es einen Menschen in der
Welt
gibt, der Dir mit reinerem Gewissen sagen könnte, weshalb er das oder
jenes
getan oder unterlassen hat. Ich weiß nicht, ob ich nicht morgen nach
Australien, nach Amerika, nach China oder zurück nach Sibirien zu
meinem Bruder
Baranowicz ginge, wenn ich gerade könnte. Ich weiß nur, daß nicht eine
sogenannte >Unruhe< mich getrieben hat, sondern im Gegenteil –
eine vollkommene
Ruhe. Ich habe nichts zu verlieren. Ich bin weder mutig noch
abenteuerlustig.
Ein Wind treibt mich, und ich fürchte nicht den Untergang.
Ich
esse nur einmal täglich kalt und trinke Tee in einem kleinen
Volkskaffee. Ich
trage eine blaue Rubaschka und eine graue Mütze und falle auf.
Wenn
Du kannst, schick mir einen alten Anzug, aber einen neuen Hut. Ich
wandere
mindestens dreimal täglich über die Ringstraße, auch über den Graben am
Vormittag, wenn das elegante Publikum spazieren geht. Ich lasse mir
inzwischen
einen Bart wachsen, weil ich ohnehin schon auffällig bin.
Heute
vor zehn Jahren gehörte ich selbst zu diesem Publikum. Es war mein
letzter
Urlaub. Fräulein Hartmann ging an meiner Rechten, an meine Linke schlug
der
Säbel. Es war damals mein einziger Wunsch, nach dem Krieg zur
Kavallerie transferiert
zu werden. Der alte Herr Hartmann hätte es durchsetzen können. Jetzt
liegt er
am Zentralfriedhof. Ich habe aus Pietät und Langeweile sein Grab
gesehen. Es
ist eine sogenannte Familiengruft. Ewige Veilchen blühen hier unter
einer roten
Laterne, die ein geflügelter Knabe hält. Die Inschrift ist würdig und
einfach,
wie Hartmann selbst immer gewesen ist.
Ich
höre, daß meine Braut erst vor vier Jahren geheiratet, also eine
erheblich
lange Zeit auf mich gewartet hat. Vor vier Jahren wäre ich vielleicht
auch noch
ein Mann für sie gewesen.
Heute
aber - ich glaube, daß ich sehr fremd in dieser Welt geworden bin.—
Du
fragst, ob ich in Rußland heimisch war?
Ich
lebte in den letzten Monaten in einem Zustand, für den es keinen Namen
gibt,
weder im Russischen noch im Deutschen, wahrscheinlich in keiner Sprache
der
Welt, in einem Zustand zwischen Resignation und Erwartung. Ich stelle
mir vor,
daß die Toten einen Augenblick lang in dieser Situation sind, wenn sie
das
irdische Leben aufgegeben und das andere noch nicht begonnen haben. Es
kam mir
vor, als hätte ich eine Aufgabe vollendet, so ganz, so rund vollendet,
daß ich
kein Recht mehr hatte, im Anblick ihrer unerbittlichen Fertigkeit zu
verharren.
Es war mir, als wäre Baranowicz gestorben und Tunda noch nicht geboren.
Ich
lebte mit Alja, meiner kaukasischen Frau in Baku, in einer ganz
bestimmten
Vorläufigkeit, die kein Ende hat. Ich hatte die Aufgabe,
photographische und Kinoaufnahmen
aus dem Leben kaukasischer Völker zu machen und machen zu lassen. Ich
strengte
mich nicht an. Aber es ist ein großes und breites, verworrenes, mit
Absicht,
Kunst und viel Raffinement verworrenes Verwaltungssystem in den
Sowjetstaaten, innerhalb
dessen jeder einzelne nur ein kleiner oder größerer Punkt ist,
verbunden mit
einem nächstgrößeren Punkt und nichts ahnend von seiner Bedeutung für
das
Ganze. Du siehst im Leben, in den Straßen, in den Büros lauter solche
Punkte,
die in einer geheimen und wichtigen Beziehung, sogar in einer sehr
nahen, zu
Dir stehen, aber Du kennst diese Beziehung nicht. Es gibt einige
erhöhte
Punkte, die alle Beziehungen kennen, sie sehen Dich gewissermaßen aus
der
Vogelperspektive. Du selbst aber siehst nicht, daß sie höher gelegen
sind. Du
weißt nicht, ob Du ruhig in deiner Lage verbleiben wirst. Es ist
möglich, daß
Du bald, im nächsten Augenblick, verschoben wirst - und gar nicht von
oben her,
sondern gleichsam von dem Fundament aus, auf dem Du stehst. Stelle Dir
ein
Schachbrett vor, auf dem die Figuren nicht stehen, sondern in dem sie
stecken,
und die Hand des Spielers,
der unter dem Tisch sitzt, dirigiert sie von unten her.
Du
kannst nicht nur fürchten und hoffen, Du hast sogar Pflichten und
Funktionen.
Du hast einen Idealismus, es ist Raum für einen persönlichen Ehrgeiz.
Manchmal
kannst Du den Erfolg oder den Mißerfolg einer Handlung auch
voraussehen. Aber
in vielen Fällen geschieht etwas wider alle Deine Erwartungen. Du hast
zum
Beispiel eine Pflicht außer acht gelassen und erwartest eine sehr
unangenehme
Folge. Aber es geschieht entweder gar nichts oder etwas sehr
Angenehmes. Dabei weißt
Du nicht, ob sich die unangenehme Konsequenz nicht in der Maske einer
angenehmen gezeigt hat. Du traust weder Deinen Erfolgen noch Deinen
Mißerfolgen.
Das
schlimmste ist, daß Du fortwährend beobachtet wirst und nicht weißt,
von wem.
In dem Büro, in dem Du arbeitest, ist jemand Mitglied der
Geheimpolizei. Es
kann die Putzfrau sein, die jede Woche den Boden scheuert, es kann aber
auch
der gelehrte Professor sein, der eben ein Alphabet der tattischen
Sprache
zusammenstellt. Es kann die Sekretärin sein, der Du diktierst, oder der
Hausverwalter, der sich um die Beschaffenheit der Büroutensilien
kümmert und zerbrochene
Fensterscheiben durch neue ersetzt. Alle sagen Dir gleichmäßig Genosse.
Alle
nennst Du gleichmäßig Genosse. Aber Du wähnst in jedem einen Beobachter
und
weißt gleichzeitig, daß jeder Dich für einen Beobachter hält. Du hast
kein
schlechtes Gewissen, Du bist ein Revolutionär, Du hast keine
Beobachtungen zu
fürchten. Dann fürchtest Du zumindest, daß Du für einen Spitzel
gehalten
würdest. Du bist harmlos. Aber weil Du Dich bemühen mußt, harmlos zu
erscheinen, merken die anderen Deine Bemühungen. Du hast dann Angst,
sie
könnten Dich nicht mehr für harmlos halten.
Es
gehören gesunde Nerven zu diesem Leben und eine große Portion
revolutionärer
Überzeugung. Denn man muß voraussetzen, daß die Revolution, von lauter
Feinden
umgeben, keine anderen Möglichkeiten hat, ihre Macht zu sichern, als
die, jedes
Individuum zu opfern, wenn es nötig ist. Stelle Dir also vor: Man liegt
jahrelang auf einem Altar und wird nicht geschlachtet.
Ich
wäre dennoch in Rußland geblieben - ich glaube es wenigstens -, wenn
nicht eines
Tages eine Gesellschaft aus Frankreich gekommen wäre, mehr Vergnügungs-
als
Studienreisende, ein Rechtsanwalt mit Frau, und der Rechtsanwalt wußte
es so
einzurichten, daß ich einen Tag allein mit seiner Frau zubrachte, einen
Tag und
einen unvergeßlichen Abend in einem Hotel. Ich war das Werkzeug seiner
Rache.
Die Frau, die mich für einen gefährlichen Spitzel von der Tscheka
hielt, ließ
mir beim Abschied einen Zettel zurück, auf dem sie mit triumphierender
Schrift
geschrieben hatte: >Sie sind also doch von der Geheimpolizei!< -
nachdem
ich mich bemüht hatte, ihr den absurden Gedanken auszureden.
Deshalb
also hatte sie mit mir geschlafen.
Das
nur nebenbei. - Wichtig ist, daß die Ankunft dieser Fremden mir
plötzlich
klarmachte, daß ich mein Leben erst zu beginnen hätte, obwohl ich schon
ziemlich viel erlebt hatte. Merkwürdig war, daß mir sofort, als ich die
Dame
sah, der Name meiner Braut einfiel: Irene. Ich sehne mich nach ihr.
Vielleicht,
weil ich nicht erfahren kann, wo sie lebt, mit wem sie verheiratet ist,
und
vielleicht, weil ich weiß, daß sie lange Zeit auf mich gewartet hat.
Ich
glaube, daß die Ankunft der fremden Dame in Baku mehr bedeutet als
einen
Zufall. Es war, als hätte jemand eine Tür geöffnet, von der ich die
ganze Zeit
gedacht hatte, sie wäre keine Tür, sondern ein Teil der Mauer, die mich
umgab.
Ich sah einen Ausgang und benützte ihn. Jetzt stehe ich draußen und bin
allerdings ratlos.
Das
also ist Eure Welt! Ich wundere mich immer wieder über ihre Festigkeit.
Als wir
in Rußland für die Revolution kämpften, dachten wir, gegen die Welt zu
kämpfen;
und als wir siegten, war der Sieg über die ganze Welt nahe. Noch jetzt
weiß man
drüben gar nichts von der Standhaftigkeit dieser Welt. Ich fühle mich
fremd in
ihr. Es ist, als protestierte ich gegen sie, wenn ich es Dir zweimal
sage. Ich
gehe mit fremden Augen, fremden Ohren, fremdem Verstand an den Menschen
vorbei.
Ich treffe alte Freunde, Bekannte meines Vaters und verstehe nur mit
Anstrengung, was sie mich fragen.
Ich
spiele meine Rolle als eben heimgekehrter >Sibiriak< weiter. Man
fragt
mich nach meinen Erlebnissen, und ich lüge, so gut ich kann. Um nicht
in
Widersprüche zu geraten, habe ich angefangen, alles aufzuschreiben, was
ich im
Laufe einiger Wochen erfunden habe; es sind fünfzig große Quartseiten
geworden,
ich amüsiere mich dabei; ich bin gespannt darauf, was ich weiter
schreiben
werde.
Es
ist ein sehr langer Brief geworden. Du wunderst Dich darüber nicht - es
ist
lange her, seitdem wir uns zuletzt gesprochen haben. Ich grüße Dich in
alter Kameradschaft
Franz
Tunda.«
zurück
Wozu
hatte er Rußland verlassen? Man könnte Tunda unsittlich nennen und
charakterlos. Männer, die einen klaren Weg und ein sittliches Ziel
haben, auch
die Menschen, die einen Ehrgeiz haben, sehen anders aus als mein Freund
Tunda.
Mein
Freund aber war das Muster eines unzuverlässigen Charakters. Er war so
unzuverlässig, daß man ihm nicht einmal Egoismus nachsagen konnte. Er
strebte
nicht nach sogenannten persönlichen Vorteilen. Er hatte ebensowenig
egoistische
Bedenken wie moralische. Wenn es unbedingt nötig wäre, ihn durch
irgendein
Attribut zu kennzeichnen, so würde ich sagen, daß seine deutlichste
Eigenschaft
der Wunsch nach Freiheit war. Denn er konnte seine Vorteile ebenso
wegwerfen,
wie er Nachteile abzuwenden wußte. Er tat das meiste aus Laune, manches
aus
Überzeugung, und das heißt: alles aus Notwendigkeit. Er besaß mehr
Lebenskraft,
als die Revolution augenblicklich nötig hatte. Er besaß mehr
Selbständigkeit,
als eine Theorie, die sich das Leben anzupassen sucht, brauchen kann.
Im Grund
war er ein Europäer, ein »Individualist«, wie gebildete Menschen sagen.
Er
brauchte, um sich auszuleben, kompliziertere Verhältnisse. Er brauchte
die
Atmosphäre verworrener Lügen, falscher Ideale, scheinbarer Gesundheit,
haltbaren Moders, rotbemalter Gespenster, die Atmosphäre der Friedhöfe,
die wie
Ballsäle aussehen, oder wie Fabriken, oder wie Schlösser, oder wie
Schulen,
oder wie Salons. Er brauchte die Nähe der Wolkenkratzer, deren
Baufälligkeit
man ahnt und deren Bestand für Jahrhunderte trotzdem gesichert ist. Er
war ein
»moderner Mensch«.
Freilich
lockte ihn seine Braut Irene. Er hatte den Weg, vor sechs Jahren
begonnen, ein
wenig unterbrochen. Er nahm ihn wieder auf. Wo lebte sie? Wie lebte
sie? Liebte
sie ihn? Hatte sie auf ihn gewartet? Was wäre er heute gewesen, wenn er
damals
zu ihr gelangt wäre?
Ich
gestehe, daß ich, nachdem ich Tundas Brief gelesen hatte, zuerst alle
diese
Fragen überlegte und nicht die nächste: wie Tunda zu helfen? Ich wußte,
daß er
zu den Menschen gehörte, denen eine materielle Sicherheit gar nichts
bedeutet.
Er hatte niemals Furcht unterzugehen. Er hatte niemals die Angst vor
dem Hunger,
die heute fast alle Handlungen der Menschen bestimmt. Es ist eine Art
Lebenstüchtigkeit. Ich kenne ein paar Menschen dieser Art. Sie leben
wie Fische
im Wasser: immer auf der Jagd nach Beute, niemals in der Furcht vor dem
Untergang. Sie sind gefeit gegen Reichtum und gegen Elend. Entbehrungen
sieht
man ihnen nicht an. Daher sind sie auch mit einer Hartherzigkeit
ausgestattet,
die sie die private Not anderer nicht empfinden läßt. Sie sind die
größten
Feinde der Barmherzigkeit und des sogenannten sozialen Empfindens.
Sie
sind also die geborenen Feinde der Gesellschaft.
Ich
dachte erst eine Woche später daran, Tunda zu helfen. Ich schickte ihm
einen
Anzug und überlegte, ob ich nicht an seinen Bruder schreiben sollte,
mit dem
Tunda seit seinem Eintritt in die Kadettenschule nicht gesprochen hatte.
zurück
Tundas
Bruder Georg war Kapellmeister in einer mittelgroßen deutschen Stadt.
Eigentlich
hätte Franz Musiker werden sollen. Der alte Major Tunda wußte die
musikalische
Begabung seines jüngeren Sohnes nicht zu schätzen. Er war ein Soldat,
für ihn
war ein Musiker ein Militärkapellmeister, ein Zivilbeamter, durch einen
ganz
ordinären Vertrag mit der Armee verbunden, immer in der peinlichen
Lage, gekündigt
werden zu können, mit einer geringen Pensionsberechtigung, wenn es
nicht
geschah. Der Major hätte aus dem einen Sohn am liebsten einen
Staatsbeamten gemacht,
aus dem anderen einen Offizier.
Georg
fiel eines Tages, brach ein Bein und sollte sein Leben lang hinken. Er
konnte
die Schule nicht mehr regelmäßig besuchen. Franz hatte Musikunterricht
genommen, Musiker werden wollen. Da aber die Krankheit des Bruders viel
Geld
kostete, Georg durch sein Gebrechen dem Major ohnehin nicht mehr
gefiel,
entschied er, daß die Musikstunden von nun ab Georg zu nehmen habe.
Franz
kam aus Sparsamkeitsgründen in die Kadettenschule.
Damals
haßte Franz seinen Bruder. Er beneidete ihn um das Glück, gefallen zu
sein und
das Bein gebrochen zu haben. Er wollte um jeden Preis die
Kadettenschule
verlassen. Er hoffte, eines Tages auch zu fallen und ein Bein zu
brechen oder
einen Arm. Was dann geschehen sollte, kümmerte ihn nicht mehr. Er
wünschte sich
zumindest einen Herzfehler. Er glaubte, sehr schlau zu sein. Aber die
Resultate
seiner Bemühungen
waren das Entzücken seiner Lehrer und seines Vaters und ausgezeichnete
Prognosen für eine militärische Laufbahn.
Je
größer seine Erfolge in der Kadettenschule wurden, desto stärker haßte
er
seinen Bruder. Georg studierte inzwischen an der Musikakademie. Zu den
Weihnachts- und Osterferien mußten beide Brüder nach Hause kommen. Sie
schliefen in einem Zimmer, aßen an einem Tisch und sprachen kein Wort
miteinander. Sie unterschieden sich übrigens äußerlich stark. Franz sah
seinem
Vater ähnlich, Georg der Mutter. Es ist möglich, daß er durch das
Gebrechen und
durch den Zwang, im Zimmer zu bleiben, durch Einsamkeit und
Nachdenklichkeit und
Beschäftigung mit Büchern den traurigen Gesichtsausdruck bekam, der die
meisten
Juden auszeichnet und manchmal überlegen erscheinen läßt. Franz aber
unterdrückte durch seine Lebensweise die tragischen Anlagen, die er
vielleicht
von seiner jüdischen Mutter geerbt hatte. Im übrigen möchte ich eher
der
Beschäftigung eines Menschen als seiner Rasse einen Einfluß auf seine
Gesichtsbildung einräumen. (Ich habe schon antisemitische Bibliothekare
gesehen, die, ohne aufzufallen, in jedem westjüdischen Tempel Vorbeter
hätten
sein können.) Die beiden Brüder sprachen also nichts miteinander.
Es
war Franz, mein Freund, der Urheber dieser verdrossenen Schweigsamkeit.
Denn
Georg war, wie man bald sehen wird, eine konziliante Natur. Er war der
verwöhnte Liebling der Mutter. Darum beneidete ihn Franz fast mehr als
um das
lahme Bein. Er hätte gerne in der warmen Nähe der Mutter gelebt, nicht
in der
herben, kühlen und alkoholhaltigen Luft, die den Vater umwehte. Jedes
Lob des
Vaters schmerzte ihn.
Jede Liebkosung, die Georg von der Mutter zuteil wurde, schmerzte ihn
noch
mehr.
Es
waren die Ferienmahlzeiten im elterlichen Haus, die Franz niemals
vergaß und
von denen er manchmal erzählte. Da saß er an der linken Seite des
Vaters,
gegenüber der Mutter, neben der Mutter saß Georg, der Kusine Klara
gegenüber,
die ein Lyzeum in Linz besuchte und in Georg verliebt war. Man hätte
glauben
sollen, daß ein lahmer Musiker in den Augen eines jungen Mädchens auf
jeden
Fall weniger zu bedeuten hat
als ein gesunder, mutiger Kadettenschüler. Dem war aber nicht so. Die
Mädchen,
besonders die aus den Lyzeen, die mit der besonderen Vorliebe für
Turnen und
Ausflüge, sind mehr für Hinkende als für Reitende eingenommen und mehr
für
Musikalisches als für Martialisches. Das hat sich nur für die vier
Jahre des
Weltkrieges geändert, als sogar die Musik selbst, die Gymnastik und die
Natur
in den Dienst der Vaterländer traten, mit ihren männlichen und
weiblichen
Anhängern. Damals aber, als die schweigsamen Mahlzeiten im Tundaschen
Hause stattfanden,
war die Welt noch weit vom Kriege entfernt. Franz hatte Anlaß genug,
auf Georg
eifersüchtig zu sein.
Es
kam gelegentlich vor, daß sie in ihrem gemeinsamen Zimmer gleichzeitig
erwachten.
Ihre Augen trafen sich, es fehlte wenig und einer hätte dem anderen
guten
Morgen gesagt. Denn so selbstverständlich war ihre Feindschaft, daß sie
beinahe
schon eine Fremdheit wurde, im Laufe einer Nacht vergessen - und wenn
nicht
vergessen, so doch keineswegs gewachsen. Aber dann besann sich der eine
oder
der andere - gewöhnlich war es Franz, der sofort umkehrte und so lange
weiterschlief,
bis der Bruder angezogen war und das Zimmer verlassen hatte.
zurück
Nach
dem Krieg heiratete Georg seine Kusine. Er heiratete seine Kusine aus
Mangel an
Phantasie, aus Bequemlichkeit, aus Gewohnheit, aus Courtoisie, aus
konzilianter
Freundlichkeit, aus praktischen Gründen - denn sie war die reiche
Tochter eines
reichen Grundbesitzers. Nur ein Mann, dem es an Phantasie mangelte,
konnte sie
heiraten, denn sie war eine von den Frauen, die man »gute Kameraden«
nennt und
die einen Mann mehr stützen als lieben können. Man kann sie gut
verwenden, wenn
man zufällig Bergsteiger, Radfahrer oder Zirkusakrobat ist oder auch
gelähmt in
einem Rollstuhl liegt. Was aber ein normaler Städter mit ihnen anfängt,
ist mir immer
rätselhaft geblieben.
Klara
- schon dieser Name scheint mir verräterisch - war ein guter Kamerad.
Ihre Hand
glich ihrem Namen, sie war so einfach, so gesund, so bieder, so
zuverlässig, so
ehrlich, daß ihr nur noch die Schwielen fehlten, es war die Hand eines
Turnlehrers. Klara hatte, sooft sie einen Mann begrüßen mußte, Angst,
er könnte
ihr die Hand küssen. Sie gewöhnte sich deshalb einen ganz besonderen
Händedruck
an, einen resoluten, biederen, bei dem der ganze Unterarm des Mannes
nach unten
gedrückt wurde - schon dieser Händedruck war eine Turnübung. Man ging
gestärkt
daraus hervor. In Deutschland und in England, in Schweden, Dänemark,
Norwegen,
in vielen protestantischen Ländern gibt es Frauen, die derart Männern
die Hand
drücken. Es ist eine Demonstration für die Gleichberechtigung der
Geschlechter
und für
die Hygiene, es ist eine wichtige Episode in dem Kampf der Menschheit
gegen die
Bazillen und die Galanterie.
Klaras
Beine waren sachliche, gerade Beine, Wanderbeine, keineswegs
Instrumente der
Liebe, sondern eher des Sports, ohne Waden. Daß sie in seidene Strümpfe
gehüllt
waren, schien ein unverzeihlicher Luxus. Irgendwo müssen sie doch Knie
haben, dachte
ich immer, irgendwo müssen sie in Schenkel übergehen, es ist doch
unmöglich,
daß Strümpfe in Unterhöschen hineinwachsen und damit basta?! Es war
aber
so, und Klara war kein Geschöpf der Liebe. Sie hatte sogar etwas wie
einen
Busen, aber es schien nur ein Etui für ihre sachliche Güte zu sein. Ob
sie ein
Herz besaß, wer kann es wissen?
Ich
habe bei dieser Beschreibung Klaras kein gutes Gewissen. Denn es
scheint mir
sündig, einen der tugendhaftesten Menschen, die mir im Leben begegnet
sind,
zuerst nach seinen sekundären Geschlechtsmerkmalen zu beurteilen. Sie
war
nämlich tugendhaft, Klara, wie konnte sie anders? Sie bekam ein Kind,
natürlich
von ihrem eigenen Mann, dem Kapellmeister - und obwohl es keineswegs
eine
Sünde, sondern im Gegenteil eine Tugend ist, von dem eigenen Mann
Kinder zu
bekommen, sah die legitime, ehrwürdige Schwangerschaft bei Klara wie
ein Seitensprung
aus, und wenn sie das Kind säugte, war es wie das achte Wunder, wie
eine
Anomalie und eine Sünde zugleich.
Übrigens
konnte das Kind - es war ein Mädchen - schon im vierten Jahr radfahren.
Von
ihrem Vater, dem reichen Gutsbesitzer, hatte Klara ihre soziale
Gesinnung
gelernt und geerbt. Soziale Gesinnung ist ein Luxus, den sich die
Reichen
gestatten dürfen und der außerdem noch den praktischen Vorteil hat, daß
er zum
Teil den Besitz erhält. Ihr Vater pflegte mit dem Oberförster ein
Gläschen Wein
zu trinken, mit dem Förster einen Kognak und mit dem Forstgehilfen ein
Wort zu
wechseln. Auch die soziale Gesinnung kennt feine Unterscheidungen. Er
ließ sich
niemals die Stiefel von einem seiner Diener ausziehen, er benutzte aus
Gründen
der Menschlichkeit den Stiefelknecht. Seine Kinder mußten sich im
Winter mit
Schnee waschen, allein den weiten Weg in die Schule gehen, um acht Uhr
abends
in ihre stockdunklen Zimmer steigen und die Betten selbst machen.
Nirgends in
der Nachbarschaft hatten Dienstboten eine bessere Behandlung. Klara
mußte ihre
Hemden eigenhändig bügeln. Kurz: der Alte war, wie man zu sagen pflegt,
ein Mann
von Schrot und Korn, ein tugendhafter Grundbesitzer, eine lebendige
Abwehrmaßnahme
gegen den Sozialismus, weit und breit verehrt und in den Reichstag
gewählt, wo
er als Mitglied einer konservativen Partei den Beweis lieferte, daß
Reaktion
und Humanität nicht unvereinbare Widersprüche sind.
Er
erlebte noch Klaras Hochzeit, war loyal gegen den Kapellmeister und
starb
einige Wochen später, ohne auch nur mit einer Miene verraten zu haben,
daß ihm
ein Gutsbesitzer lieber gewesen wäre: Humanität bis zum Grabe.
zurück
Georg
war konziliant. Es gibt Eigenschaften, die man nur mit einem Fremdwort
bezeichnen kann. Ein konzilianter Mensch hat es im Leben schwerer, als
man
glaubt: Die Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hat, können sich
derart
verdichten, daß er mitten im Lächeln eine tragische Erscheinung wird.
Georg,
der lauter Erfolge hatte, von den Frauen unaufhörlich in Anspruch
genommen
wurde und nicht nur die Kapelle des Operntheaters, sondern auch einen
Teil der
Bürgerschaft dirigierte - Georg war unglücklich. Er war sehr einsam
inmitten der
liebenswürdigen Welt, der eigenen und der fremden Freundlichkeit. Er
hätte
lieber in einer feindlichen oder in einer gleichgültigen Welt gelebt.
Seine
Freundlichkeit bedrückte zwar nicht sein Gewissen, aber seinen
Verstand, der
ungefähr so stark war wie der Verstand unliebenswürdiger Menschen, die
manche
Feinde haben. Jede Lüge, die er sagte, würgte ihn. Er hätte lieber die
Wahrheit
gesagt. Doch stieß im letzten Augenblick seine Zunge den Beschluß
seines
Gehirns um, und statt der Wahrheit erklang - worüber Georg selbst
manchmal
erstaunte - irgendeine polierte, runde Sache von rätselhafter,
angenehmer,
melodiöser Beschaffenheit. An der Donau und am Rhein, den beiden
legendären Strömen
Deutschlands, wachsen manchmal solche Männer – wenig ist von den harten
Nibelungen übriggeblieben.
Georg
liebte seinen Bruder nicht - er vermutete in ihm den einzigen, der
seine Lügen
durchschaute. Er war froh, als man von Franz nichts hörte. Verschollen!
- welch
ein Wort! Welch ein Anlaß, traurig zu sein, traurig liebenswürdig, eine
neue,
bisher ungeübte Konzilianz. Dennoch war Georg der einzige, der
vorläufig Franz
helfen konnte. Deshalb teilte ich Herrn Georg Tunda mit, daß sein
Bruder
zurückgekommen sei.
Hoch
erfreut war darüber Klara. Jetzt hatte ihre Güte, lange Zeit tatenlos
und
ausgeruht, ein neues Objekt. Franz erhielt zwei Einladungen, eine
herzlich
aufrichtige und eine herzlich formvollendete. Die zweite stammte
natürlich von
Georg. Franz aber, der vor fünfzehn Jahren zuletzt mit seinem Bruder
gesprochen
hatte und daher weit davon entfernt war, ihn zu kennen - obwohl Georg
gerade
von Franz durchschaut zu sein glaubte -, Franz, der seinen Bruder nur
der Musik
wegen gehaßt hatte, Franz fuhr an den Rhein, in die Stadt der guten
Oper und
einiger Dichter von besserem Ruf.
zurück
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