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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Die Flucht ohne Ende - Seite 4
Ein Bericht 1927


XI

Ende April erhielt ich folgenden Brief von Franz Tunda.
 
»Lieber Freund Roth,
 

gestern nacht habe ich zufällig Deine Adresse erfahren. Vor zwei Monaten bin ich heimgekehrt - ich weiß nicht, ob dieses Wort angebracht ist. Ich lebe vorläufig von der Arbeitslosenunterstützung und bewerbe mich um eine Stelle als Schreiber beim Wiener Magistrat. Das ist wahrscheinlich aussichtslos. In dieser Stadt bewerben sich vierzig Prozent der Einwohner um irgend eine Stelle. Außerdem – ich gestehe Dir gerne, daß ich unglücklich wäre, wenn ich hier einen Posten bekäme.
 
Du fragst natürlich, warum ich Rußland verlassen habe. Ich weiß keine Antwort. Ich schäme mich auch nicht. Ich glaube nicht, daß es einen Menschen in der Welt gibt, der Dir mit reinerem Gewissen sagen könnte, weshalb er das oder jenes getan oder unterlassen hat. Ich weiß nicht, ob ich nicht morgen nach Australien, nach Amerika, nach China oder zurück nach Sibirien zu meinem Bruder Baranowicz ginge, wenn ich gerade könnte. Ich weiß nur, daß nicht eine sogenannte >Unruhe< mich getrieben hat, sondern im Gegenteil – eine vollkommene Ruhe. Ich habe nichts zu verlieren. Ich bin weder mutig noch abenteuerlustig. Ein Wind treibt mich, und ich fürchte nicht den Untergang.
 
Ich esse nur einmal täglich kalt und trinke Tee in einem kleinen Volkskaffee. Ich trage eine blaue Rubaschka und eine graue Mütze und falle auf.
 
Wenn Du kannst, schick mir einen alten Anzug, aber einen neuen Hut. Ich wandere mindestens dreimal täglich über die Ringstraße, auch über den Graben am Vormittag, wenn das elegante Publikum spazieren geht. Ich lasse mir inzwischen einen Bart wachsen, weil ich ohnehin schon auffällig bin.
 
Heute vor zehn Jahren gehörte ich selbst zu diesem Publikum. Es war mein letzter Urlaub. Fräulein Hartmann ging an meiner Rechten, an meine Linke schlug der Säbel. Es war damals mein einziger Wunsch, nach dem Krieg zur Kavallerie transferiert zu werden. Der alte Herr Hartmann hätte es durchsetzen können. Jetzt liegt er am Zentralfriedhof. Ich habe aus Pietät und Langeweile sein Grab gesehen. Es ist eine sogenannte Familiengruft. Ewige Veilchen blühen hier unter einer roten Laterne, die ein geflügelter Knabe hält. Die Inschrift ist würdig und einfach, wie Hartmann selbst immer gewesen ist.
 
Ich höre, daß meine Braut erst vor vier Jahren geheiratet, also eine erheblich lange Zeit auf mich gewartet hat. Vor vier Jahren wäre ich vielleicht auch noch ein Mann für sie gewesen.
 
Heute aber - ich glaube, daß ich sehr fremd in dieser Welt geworden bin.—
 
Du fragst, ob ich in Rußland heimisch war?
 
Ich lebte in den letzten Monaten in einem Zustand, für den es keinen Namen gibt, weder im Russischen noch im Deutschen, wahrscheinlich in keiner Sprache der Welt, in einem Zustand zwischen Resignation und Erwartung. Ich stelle mir vor, daß die Toten einen Augenblick lang in dieser Situation sind, wenn sie das irdische Leben aufgegeben und das andere noch nicht begonnen haben. Es kam mir vor, als hätte ich eine Aufgabe vollendet, so ganz, so rund vollendet, daß ich kein Recht mehr hatte, im Anblick ihrer unerbittlichen Fertigkeit zu verharren. Es war mir, als wäre Baranowicz gestorben und Tunda noch nicht geboren.
 
Ich lebte mit Alja, meiner kaukasischen Frau in Baku, in einer ganz bestimmten Vorläufigkeit, die kein Ende hat. Ich hatte die Aufgabe, photographische und Kinoaufnahmen aus dem Leben kaukasischer Völker zu machen und machen zu lassen. Ich strengte mich nicht an. Aber es ist ein großes und breites, verworrenes, mit Absicht, Kunst und viel Raffinement verworrenes Verwaltungssystem in den Sowjetstaaten, innerhalb dessen jeder einzelne nur ein kleiner oder größerer Punkt ist, verbunden mit einem nächstgrößeren Punkt und nichts ahnend von seiner Bedeutung für das Ganze. Du siehst im Leben, in den Straßen, in den Büros lauter solche Punkte, die in einer geheimen und wichtigen Beziehung, sogar in einer sehr nahen, zu Dir stehen, aber Du kennst diese Beziehung nicht. Es gibt einige erhöhte Punkte, die alle Beziehungen kennen, sie sehen Dich gewissermaßen aus der Vogelperspektive. Du selbst aber siehst nicht, daß sie höher gelegen sind. Du weißt nicht, ob Du ruhig in deiner Lage verbleiben wirst. Es ist möglich, daß Du bald, im nächsten Augenblick, verschoben wirst - und gar nicht von oben her, sondern gleichsam von dem Fundament aus, auf dem Du stehst. Stelle Dir ein Schachbrett vor, auf dem die Figuren nicht stehen, sondern in dem sie stecken, und die Hand des Spielers, der unter dem Tisch sitzt, dirigiert sie von unten her.
 
Du kannst nicht nur fürchten und hoffen, Du hast sogar Pflichten und Funktionen. Du hast einen Idealismus, es ist Raum für einen persönlichen Ehrgeiz. Manchmal kannst Du den Erfolg oder den Mißerfolg einer Handlung auch voraussehen. Aber in vielen Fällen geschieht etwas wider alle Deine Erwartungen. Du hast zum Beispiel eine Pflicht außer acht gelassen und erwartest eine sehr unangenehme Folge. Aber es geschieht entweder gar nichts oder etwas sehr Angenehmes. Dabei weißt Du nicht, ob sich die unangenehme Konsequenz nicht in der Maske einer angenehmen gezeigt hat. Du traust weder Deinen Erfolgen noch Deinen Mißerfolgen.
 
Das schlimmste ist, daß Du fortwährend beobachtet wirst und nicht weißt, von wem. In dem Büro, in dem Du arbeitest, ist jemand Mitglied der Geheimpolizei. Es kann die Putzfrau sein, die jede Woche den Boden scheuert, es kann aber auch der gelehrte Professor sein, der eben ein Alphabet der tattischen Sprache zusammenstellt. Es kann die Sekretärin sein, der Du diktierst, oder der Hausverwalter, der sich um die Beschaffenheit der Büroutensilien kümmert und zerbrochene Fensterscheiben durch neue ersetzt. Alle sagen Dir gleichmäßig Genosse. Alle nennst Du gleichmäßig Genosse. Aber Du wähnst in jedem einen Beobachter und weißt gleichzeitig, daß jeder Dich für einen Beobachter hält. Du hast kein schlechtes Gewissen, Du bist ein Revolutionär, Du hast keine Beobachtungen zu fürchten. Dann fürchtest Du zumindest, daß Du für einen Spitzel gehalten würdest. Du bist harmlos. Aber weil Du Dich bemühen mußt, harmlos zu erscheinen, merken die anderen Deine Bemühungen. Du hast dann Angst, sie könnten Dich nicht mehr für harmlos halten.
 
Es gehören gesunde Nerven zu diesem Leben und eine große Portion revolutionärer Überzeugung. Denn man muß voraussetzen, daß die Revolution, von lauter Feinden umgeben, keine anderen Möglichkeiten hat, ihre Macht zu sichern, als die, jedes Individuum zu opfern, wenn es nötig ist. Stelle Dir also vor: Man liegt jahrelang auf einem Altar und wird nicht geschlachtet.
 
Ich wäre dennoch in Rußland geblieben - ich glaube es wenigstens -, wenn nicht eines Tages eine Gesellschaft aus Frankreich gekommen wäre, mehr Vergnügungs- als Studienreisende, ein Rechtsanwalt mit Frau, und der Rechtsanwalt wußte es so einzurichten, daß ich einen Tag allein mit seiner Frau zubrachte, einen Tag und einen unvergeßlichen Abend in einem Hotel. Ich war das Werkzeug seiner Rache. Die Frau, die mich für einen gefährlichen Spitzel von der Tscheka hielt, ließ mir beim Abschied einen Zettel zurück, auf dem sie mit triumphierender Schrift geschrieben hatte: >Sie sind also doch von der Geheimpolizei!< - nachdem ich mich bemüht hatte, ihr den absurden Gedanken auszureden.
 
Deshalb also hatte sie mit mir geschlafen.
 
Das nur nebenbei. - Wichtig ist, daß die Ankunft dieser Fremden mir plötzlich klarmachte, daß ich mein Leben erst zu beginnen hätte, obwohl ich schon ziemlich viel erlebt hatte. Merkwürdig war, daß mir sofort, als ich die Dame sah, der Name meiner Braut einfiel: Irene. Ich sehne mich nach ihr.
 
Vielleicht, weil ich nicht erfahren kann, wo sie lebt, mit wem sie verheiratet ist, und vielleicht, weil ich weiß, daß sie lange Zeit auf mich gewartet hat.
 
Ich glaube, daß die Ankunft der fremden Dame in Baku mehr bedeutet als einen Zufall. Es war, als hätte jemand eine Tür geöffnet, von der ich die ganze Zeit gedacht hatte, sie wäre keine Tür, sondern ein Teil der Mauer, die mich umgab. Ich sah einen Ausgang und benützte ihn. Jetzt stehe ich draußen und bin allerdings ratlos.
 
Das also ist Eure Welt! Ich wundere mich immer wieder über ihre Festigkeit. Als wir in Rußland für die Revolution kämpften, dachten wir, gegen die Welt zu kämpfen; und als wir siegten, war der Sieg über die ganze Welt nahe. Noch jetzt weiß man drüben gar nichts von der Standhaftigkeit dieser Welt. Ich fühle mich fremd in ihr. Es ist, als protestierte ich gegen sie, wenn ich es Dir zweimal sage. Ich gehe mit fremden Augen, fremden Ohren, fremdem Verstand an den Menschen vorbei. Ich treffe alte Freunde, Bekannte meines Vaters und verstehe nur mit Anstrengung, was sie mich fragen.
 
Ich spiele meine Rolle als eben heimgekehrter >Sibiriak< weiter. Man fragt mich nach meinen Erlebnissen, und ich lüge, so gut ich kann. Um nicht in Widersprüche zu geraten, habe ich angefangen, alles aufzuschreiben, was ich im Laufe einiger Wochen erfunden habe; es sind fünfzig große Quartseiten geworden, ich amüsiere mich dabei; ich bin gespannt darauf, was ich weiter schreiben werde.
 
Es ist ein sehr langer Brief geworden. Du wunderst Dich darüber nicht - es ist lange her, seitdem wir uns zuletzt gesprochen haben. Ich grüße Dich in alter Kameradschaft

Franz Tunda.«

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XII

Wozu hatte er Rußland verlassen? Man könnte Tunda unsittlich nennen und charakterlos. Männer, die einen klaren Weg und ein sittliches Ziel haben, auch die Menschen, die einen Ehrgeiz haben, sehen anders aus als mein Freund Tunda.
 
Mein Freund aber war das Muster eines unzuverlässigen Charakters. Er war so unzuverlässig, daß man ihm nicht einmal Egoismus nachsagen konnte. Er strebte nicht nach sogenannten persönlichen Vorteilen. Er hatte ebensowenig egoistische Bedenken wie moralische. Wenn es unbedingt nötig wäre, ihn durch irgendein Attribut zu kennzeichnen, so würde ich sagen, daß seine deutlichste Eigenschaft der Wunsch nach Freiheit war. Denn er konnte seine Vorteile ebenso wegwerfen, wie er Nachteile abzuwenden wußte. Er tat das meiste aus Laune, manches aus Überzeugung, und das heißt: alles aus Notwendigkeit. Er besaß mehr Lebenskraft, als die Revolution augenblicklich nötig hatte. Er besaß mehr Selbständigkeit, als eine Theorie, die sich das Leben anzupassen sucht, brauchen kann. Im Grund war er ein Europäer, ein »Individualist«, wie gebildete Menschen sagen. Er brauchte, um sich auszuleben, kompliziertere Verhältnisse. Er brauchte die Atmosphäre verworrener Lügen, falscher Ideale, scheinbarer Gesundheit, haltbaren Moders, rotbemalter Gespenster, die Atmosphäre der Friedhöfe, die wie Ballsäle aussehen, oder wie Fabriken, oder wie Schlösser, oder wie Schulen, oder wie Salons. Er brauchte die Nähe der Wolkenkratzer, deren Baufälligkeit man ahnt und deren Bestand für Jahrhunderte trotzdem gesichert ist. Er war ein »moderner Mensch«.
 
Freilich lockte ihn seine Braut Irene. Er hatte den Weg, vor sechs Jahren begonnen, ein wenig unterbrochen. Er nahm ihn wieder auf. Wo lebte sie? Wie lebte sie? Liebte sie ihn? Hatte sie auf ihn gewartet? Was wäre er heute gewesen, wenn er damals zu ihr gelangt wäre?
 
Ich gestehe, daß ich, nachdem ich Tundas Brief gelesen hatte, zuerst alle diese Fragen überlegte und nicht die nächste: wie Tunda zu helfen? Ich wußte, daß er zu den Menschen gehörte, denen eine materielle Sicherheit gar nichts bedeutet. Er hatte niemals Furcht unterzugehen. Er hatte niemals die Angst vor dem Hunger, die heute fast alle Handlungen der Menschen bestimmt. Es ist eine Art Lebenstüchtigkeit. Ich kenne ein paar Menschen dieser Art. Sie leben wie Fische im Wasser: immer auf der Jagd nach Beute, niemals in der Furcht vor dem Untergang. Sie sind gefeit gegen Reichtum und gegen Elend. Entbehrungen sieht man ihnen nicht an. Daher sind sie auch mit einer Hartherzigkeit ausgestattet, die sie die private Not anderer nicht empfinden läßt. Sie sind die größten Feinde der Barmherzigkeit und des sogenannten sozialen Empfindens.
 
Sie sind also die geborenen Feinde der Gesellschaft.
 
Ich dachte erst eine Woche später daran, Tunda zu helfen. Ich schickte ihm einen Anzug und überlegte, ob ich nicht an seinen Bruder schreiben sollte, mit dem Tunda seit seinem Eintritt in die Kadettenschule nicht gesprochen hatte.


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XIII

Tundas Bruder Georg war Kapellmeister in einer mittelgroßen deutschen Stadt.

Eigentlich hätte Franz Musiker werden sollen. Der alte Major Tunda wußte die musikalische Begabung seines jüngeren Sohnes nicht zu schätzen. Er war ein Soldat, für ihn war ein Musiker ein Militärkapellmeister, ein Zivilbeamter, durch einen ganz ordinären Vertrag mit der Armee verbunden, immer in der peinlichen Lage, gekündigt werden zu können, mit einer geringen Pensionsberechtigung, wenn es nicht geschah. Der Major hätte aus dem einen Sohn am liebsten einen Staatsbeamten gemacht, aus dem anderen einen Offizier.
 
Georg fiel eines Tages, brach ein Bein und sollte sein Leben lang hinken. Er konnte die Schule nicht mehr regelmäßig besuchen. Franz hatte Musikunterricht genommen, Musiker werden wollen. Da aber die Krankheit des Bruders viel Geld kostete, Georg durch sein Gebrechen dem Major ohnehin nicht mehr gefiel, entschied er, daß die Musikstunden von nun ab Georg zu nehmen habe.
 
Franz kam aus Sparsamkeitsgründen in die Kadettenschule.
 
Damals haßte Franz seinen Bruder. Er beneidete ihn um das Glück, gefallen zu sein und das Bein gebrochen zu haben. Er wollte um jeden Preis die Kadettenschule verlassen. Er hoffte, eines Tages auch zu fallen und ein Bein zu brechen oder einen Arm. Was dann geschehen sollte, kümmerte ihn nicht mehr. Er wünschte sich zumindest einen Herzfehler. Er glaubte, sehr schlau zu sein. Aber die Resultate seiner Bemühungen waren das Entzücken seiner Lehrer und seines Vaters und ausgezeichnete Prognosen für eine militärische Laufbahn.
 
Je größer seine Erfolge in der Kadettenschule wurden, desto stärker haßte er seinen Bruder. Georg studierte inzwischen an der Musikakademie. Zu den Weihnachts- und Osterferien mußten beide Brüder nach Hause kommen. Sie schliefen in einem Zimmer, aßen an einem Tisch und sprachen kein Wort miteinander. Sie unterschieden sich übrigens äußerlich stark. Franz sah seinem Vater ähnlich, Georg der Mutter. Es ist möglich, daß er durch das Gebrechen und durch den Zwang, im Zimmer zu bleiben, durch Einsamkeit und Nachdenklichkeit und Beschäftigung mit Büchern den traurigen Gesichtsausdruck bekam, der die meisten Juden auszeichnet und manchmal überlegen erscheinen läßt. Franz aber unterdrückte durch seine Lebensweise die tragischen Anlagen, die er vielleicht von seiner jüdischen Mutter geerbt hatte. Im übrigen möchte ich eher der Beschäftigung eines Menschen als seiner Rasse einen Einfluß auf seine Gesichtsbildung einräumen. (Ich habe schon antisemitische Bibliothekare gesehen, die, ohne aufzufallen, in jedem westjüdischen Tempel Vorbeter hätten sein können.) Die beiden Brüder sprachen also nichts miteinander.
 
Es war Franz, mein Freund, der Urheber dieser verdrossenen Schweigsamkeit. Denn Georg war, wie man bald sehen wird, eine konziliante Natur. Er war der verwöhnte Liebling der Mutter. Darum beneidete ihn Franz fast mehr als um das lahme Bein. Er hätte gerne in der warmen Nähe der Mutter gelebt, nicht in der herben, kühlen und alkoholhaltigen Luft, die den Vater umwehte. Jedes Lob des Vaters schmerzte ihn. Jede Liebkosung, die Georg von der Mutter zuteil wurde, schmerzte ihn noch mehr.
 
Es waren die Ferienmahlzeiten im elterlichen Haus, die Franz niemals vergaß und von denen er manchmal erzählte. Da saß er an der linken Seite des Vaters, gegenüber der Mutter, neben der Mutter saß Georg, der Kusine Klara gegenüber, die ein Lyzeum in Linz besuchte und in Georg verliebt war. Man hätte glauben sollen, daß ein lahmer Musiker in den Augen eines jungen Mädchens auf jeden Fall weniger zu bedeuten hat als ein gesunder, mutiger Kadettenschüler. Dem war aber nicht so. Die Mädchen, besonders die aus den Lyzeen, die mit der besonderen Vorliebe für Turnen und Ausflüge, sind mehr für Hinkende als für Reitende eingenommen und mehr für Musikalisches als für Martialisches. Das hat sich nur für die vier Jahre des Weltkrieges geändert, als sogar die Musik selbst, die Gymnastik und die Natur in den Dienst der Vaterländer traten, mit ihren männlichen und weiblichen Anhängern. Damals aber, als die schweigsamen Mahlzeiten im Tundaschen Hause stattfanden, war die Welt noch weit vom Kriege entfernt. Franz hatte Anlaß genug, auf Georg eifersüchtig zu sein.
 
Es kam gelegentlich vor, daß sie in ihrem gemeinsamen Zimmer gleichzeitig erwachten. Ihre Augen trafen sich, es fehlte wenig und einer hätte dem anderen guten Morgen gesagt. Denn so selbstverständlich war ihre Feindschaft, daß sie beinahe schon eine Fremdheit wurde, im Laufe einer Nacht vergessen - und wenn nicht vergessen, so doch keineswegs gewachsen. Aber dann besann sich der eine oder der andere - gewöhnlich war es Franz, der sofort umkehrte und so lange weiterschlief, bis der Bruder angezogen war und das Zimmer verlassen hatte.

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XIV

Nach dem Krieg heiratete Georg seine Kusine. Er heiratete seine Kusine aus Mangel an Phantasie, aus Bequemlichkeit, aus Gewohnheit, aus Courtoisie, aus konzilianter Freundlichkeit, aus praktischen Gründen - denn sie war die reiche Tochter eines reichen Grundbesitzers. Nur ein Mann, dem es an Phantasie mangelte, konnte sie heiraten, denn sie war eine von den Frauen, die man »gute Kameraden« nennt und die einen Mann mehr stützen als lieben können. Man kann sie gut verwenden, wenn man zufällig Bergsteiger, Radfahrer oder Zirkusakrobat ist oder auch gelähmt in einem Rollstuhl liegt. Was aber ein normaler Städter mit ihnen anfängt, ist mir immer rätselhaft geblieben.
 
Klara - schon dieser Name scheint mir verräterisch - war ein guter Kamerad. Ihre Hand glich ihrem Namen, sie war so einfach, so gesund, so bieder, so zuverlässig, so ehrlich, daß ihr nur noch die Schwielen fehlten, es war die Hand eines Turnlehrers. Klara hatte, sooft sie einen Mann begrüßen mußte, Angst, er könnte ihr die Hand küssen. Sie gewöhnte sich deshalb einen ganz besonderen Händedruck an, einen resoluten, biederen, bei dem der ganze Unterarm des Mannes nach unten gedrückt wurde - schon dieser Händedruck war eine Turnübung. Man ging gestärkt daraus hervor. In Deutschland und in England, in Schweden, Dänemark, Norwegen, in vielen protestantischen Ländern gibt es Frauen, die derart Männern die Hand drücken. Es ist eine Demonstration für die Gleichberechtigung der Geschlechter und für die Hygiene, es ist eine wichtige Episode in dem Kampf der Menschheit gegen die Bazillen und die Galanterie.
 
Klaras Beine waren sachliche, gerade Beine, Wanderbeine, keineswegs Instrumente der Liebe, sondern eher des Sports, ohne Waden. Daß sie in seidene Strümpfe gehüllt waren, schien ein unverzeihlicher Luxus. Irgendwo müssen sie doch Knie haben, dachte ich immer, irgendwo müssen sie in Schenkel übergehen, es ist doch unmöglich, daß Strümpfe in Unterhöschen hineinwachsen und damit basta?! Es war aber so, und Klara war kein Geschöpf der Liebe. Sie hatte sogar etwas wie einen Busen, aber es schien nur ein Etui für ihre sachliche Güte zu sein. Ob sie ein Herz besaß, wer kann es wissen?
 
Ich habe bei dieser Beschreibung Klaras kein gutes Gewissen. Denn es scheint mir sündig, einen der tugendhaftesten Menschen, die mir im Leben begegnet sind, zuerst nach seinen sekundären Geschlechtsmerkmalen zu beurteilen. Sie war nämlich tugendhaft, Klara, wie konnte sie anders? Sie bekam ein Kind, natürlich von ihrem eigenen Mann, dem Kapellmeister - und obwohl es keineswegs eine Sünde, sondern im Gegenteil eine Tugend ist, von dem eigenen Mann Kinder zu bekommen, sah die legitime, ehrwürdige Schwangerschaft bei Klara wie ein Seitensprung aus, und wenn sie das Kind säugte, war es wie das achte Wunder, wie eine Anomalie und eine Sünde zugleich.
 
Übrigens konnte das Kind - es war ein Mädchen - schon im vierten Jahr radfahren.
 
Von ihrem Vater, dem reichen Gutsbesitzer, hatte Klara ihre soziale Gesinnung gelernt und geerbt. Soziale Gesinnung ist ein Luxus, den sich die Reichen gestatten dürfen und der außerdem noch den praktischen Vorteil hat, daß er zum Teil den Besitz erhält. Ihr Vater pflegte mit dem Oberförster ein Gläschen Wein zu trinken, mit dem Förster einen Kognak und mit dem Forstgehilfen ein Wort zu wechseln. Auch die soziale Gesinnung kennt feine Unterscheidungen. Er ließ sich niemals die Stiefel von einem seiner Diener ausziehen, er benutzte aus Gründen der Menschlichkeit den Stiefelknecht. Seine Kinder mußten sich im Winter mit Schnee waschen, allein den weiten Weg in die Schule gehen, um acht Uhr abends in ihre stockdunklen Zimmer steigen und die Betten selbst machen. Nirgends in der Nachbarschaft hatten Dienstboten eine bessere Behandlung. Klara mußte ihre Hemden eigenhändig bügeln. Kurz: der Alte war, wie man zu sagen pflegt, ein Mann von Schrot und Korn, ein tugendhafter Grundbesitzer, eine lebendige Abwehrmaßnahme gegen den Sozialismus, weit und breit verehrt und in den Reichstag gewählt, wo er als Mitglied einer konservativen Partei den Beweis lieferte, daß Reaktion und Humanität nicht unvereinbare Widersprüche sind.
 
Er erlebte noch Klaras Hochzeit, war loyal gegen den Kapellmeister und starb einige Wochen später, ohne auch nur mit einer Miene verraten zu haben, daß ihm ein Gutsbesitzer lieber gewesen wäre: Humanität bis zum Grabe.

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XV

Georg war konziliant. Es gibt Eigenschaften, die man nur mit einem Fremdwort bezeichnen kann. Ein konzilianter Mensch hat es im Leben schwerer, als man glaubt: Die Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hat, können sich derart verdichten, daß er mitten im Lächeln eine tragische Erscheinung wird. Georg, der lauter Erfolge hatte, von den Frauen unaufhörlich in Anspruch genommen wurde und nicht nur die Kapelle des Operntheaters, sondern auch einen Teil der Bürgerschaft dirigierte - Georg war unglücklich. Er war sehr einsam inmitten der liebenswürdigen Welt, der eigenen und der fremden Freundlichkeit. Er hätte lieber in einer feindlichen oder in einer gleichgültigen Welt gelebt. Seine Freundlichkeit bedrückte zwar nicht sein Gewissen, aber seinen Verstand, der ungefähr so stark war wie der Verstand unliebenswürdiger Menschen, die manche Feinde haben. Jede Lüge, die er sagte, würgte ihn. Er hätte lieber die Wahrheit gesagt. Doch stieß im letzten Augenblick seine Zunge den Beschluß seines Gehirns um, und statt der Wahrheit erklang - worüber Georg selbst manchmal erstaunte - irgendeine polierte, runde Sache von rätselhafter, angenehmer, melodiöser Beschaffenheit. An der Donau und am Rhein, den beiden legendären Strömen Deutschlands, wachsen manchmal solche Männer – wenig ist von den harten Nibelungen übriggeblieben.
 
Georg liebte seinen Bruder nicht - er vermutete in ihm den einzigen, der seine Lügen durchschaute. Er war froh, als man von Franz nichts hörte. Verschollen! - welch ein Wort! Welch ein Anlaß, traurig zu sein, traurig liebenswürdig, eine neue, bisher ungeübte Konzilianz. Dennoch war Georg der einzige, der vorläufig Franz helfen konnte. Deshalb teilte ich Herrn Georg Tunda mit, daß sein Bruder zurückgekommen sei.
 
Hoch erfreut war darüber Klara. Jetzt hatte ihre Güte, lange Zeit tatenlos und ausgeruht, ein neues Objekt. Franz erhielt zwei Einladungen, eine herzlich aufrichtige und eine herzlich formvollendete. Die zweite stammte natürlich von Georg. Franz aber, der vor fünfzehn Jahren zuletzt mit seinem Bruder gesprochen hatte und daher weit davon entfernt war, ihn zu kennen - obwohl Georg gerade von Franz durchschaut zu sein glaubte -, Franz, der seinen Bruder nur der Musik wegen gehaßt hatte, Franz fuhr an den Rhein, in die Stadt der guten Oper und einiger Dichter von besserem Ruf.

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