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04.3
Geschichten - Joseph Roth
Werke
4
1916-
1929
Romane und
Erzählungen
Die
Flucht ohne Ende - Seite 5
Ein
Bericht 1927
Unterwegs
mußte er einmal umsteigen. Er hielt sich nirgends auf. Er sah von
Deutschland
nur die Bahnhöfe, die Schilder, die Reklametafeln, die Kirchen, die
Gasthöfe in
der Nähe der Bahn, die stillen und grauen Straßen der Vorstädte und die
Vorortbahnen,
die an müde, dem Stall entgegentrabende Tiere erinnern. Er sah nur die
wechselnden Passagiere, einzelne Herren mit Aktentaschen in Cutaways,
die jedes
offene Fenster strafend ansahen und einen freien Platz mit finsterer
Entschlossenheit einnahmen wie eine Festung. Sie schienen kampfbereit
irgendeinen Feind zu erwarten, der zu ihrem Ärger nicht kam.
Indessenstudierten
sie in Papieren, die sie den Taschen entnommen hatten, mit dem Eifer,
mit dem
man sich auf einen bevorstehenden Feldzug vorbereitet. Es mußten
wichtige
Papiere sein. Denn die Herren beschatteten sie mit ihren Armen,
umrahmten sie
oder nahmen sie gleichsam unter
ihre Fittiche, damit kein unbefugter Blick sie treffe.
Andere,
weniger strenge Herren ohne Aktentaschen, in weltgewandten, grauen
Reiseanzügen
setzten sich mit einem Seufzer, sahen freundlich auf den
Gegenübersitzenden und
begannen bald mit einem Gespräch, das einen ernsten, moralischen, wenn
nicht
tagespolitischen Inhalt hatte. Hier und dort stieg ein Jäger ein, die
Flinte in
braunem Lederfutteral in der Rechten, in der Linken - oder auch
umgekehrt - einen
Stock mit einem Hirschgeweih als Griff. Es sah teils gemütlich und
teils bedrohlich aus.
Tunda
dachte mit Sehnsucht an die russischen Eisenbahnen und ihre harmlos
geschwätzigen
Passagiere.
In
allen
Kupees hingen Land- und Ansichtskarten, Reklametafeln für deutschen
Wein und
Zigaretten, für Landschaften, Berge, Täler, Ledermäntel, Speisewagen,
Zeitungen
und Zeitschriften, für Sicherheitsketten, mit denen man Koffer so
zuverlässig
an die Gepäcknetze schmieden konnte, daß eventuelle Diebe auch noch
daran
hängenblieben, so daß man die Missetäter nach der Rückkehr aus dem
Speisewagen gemächlich
fassen und gegen eine Entlohnung beim Stationsvorsteher abgeben
konnte. Man konnte sich aber auch, wollte man bequemer zu Geld kommen,
gegen
sogenannten Reisediebstahl versichern lassen, womit nicht der Diebstahl
einer
Reise, sondern der gelegentlich einer Reise gemeint war, gegen
Eisenbahnunfälle, gegen die ohnehin schon Hacke, Beil und Säge in
Glaskästen
ausgestellt waren, um den Unfällen von vornherein zu drohen. Man konnte
sein
Leben, seine Kinder, seine Enkel versichern lassen, so daß man
fröhlich, in der
Erwartung eines nahen Zusammenstoßes, durch Tunnels raste, enttäuscht
wieder
aus der Finsternis kam und in der nächsten Station Frankfurter
Würstchen mit
Senf essen durfte.
Welch
ein zuverlässiger Betrieb! Die Zeitschriften, die Würstchen, die
Mineralflaschen,
die Zigaretten, die Koffer, die Briefsäcke von der Post lagen sauber
und in Fächern,
hinter Glas und in Stanniolpapier und auf rollenden Karren, und wenn
der Zug
aus den großen Hallen glitt, die an Dome erinnerten, schien es, als
rollten die
Zurückgebliebenen, mit den Taschentüchern Winkenden, Schreienden, immer
etwas
Allerletztes noch Nachrufenden ebenfalls auf Rollschuhen. Selbst die
Bahnhöfe standen
nicht. Nur die Wächterhäuschen und die Signale standen wie Ehrenposten.
Daß sie nicht in die Luft schossen, erschien wie eine
Pflichtverletzung.
Tunda
stand im Korridor und rauchte, er sah die Tafel nicht, die es
ausdrücklich
verbot, weil der Mensch etwas Widersinniges nicht sieht. So will es die
Natur.
Außerdem rauchte noch ein anderer Herr, verbarg aber, als er mit
geübtem Ohr
den Schaffner kommen hörte, die Zigarette in der gehöhlten Hand. Der
Schaffner
sah zwar auch die verborgene Zigarette, stellte den braven Herrn aber
nicht zur
Rede, denn es geht den meisten Autoritäten weniger um die Einhaltung
der Gebote
als um die Einhaltung des Respekts. Der Schaffner machte nur Tunda
aufmerksam,
daß er Strafe zahlen würde - unter gegebenen Umständen, das heißt, wenn
er, der
Schaffner, nicht zufällig ein so gutmütiger Mensch wäre. Hierauf
zerdrückte
Tunda gehorsam die Zigarette, aber leider an der Fensterscheibe. Bei
dieser
Gelegenheit sagte ihm der brave Herr, der freiwillig die Pflichten des
Schaffners auf sich zu nehmen gewillt schien, daß zum Ausdrücken der
Zigaretten
die Aschenbecher da wären, allerdings in den Abteilen.
Tunda,
von zwei Seiten in die Schule genommen, versuchte durch Höflichkeit
einem
drohenden Unterricht zu entgehen, dankte, verneigte sich und begann,
die
Landschaft zu loben, gewissermaßen, um sich zu revanchieren. Der Herr
fragte
ihn, ob er ein Fremder wäre. Tunda freute sich wie ein Schüler, der mit
seinem
Klassenlehrer in einen menschlichen Kontakt gerät und zum Beispiel
Schulhefte
nach Hause
tragen darf. Bereitwillig erzählte er, daß er geradewegs über Wien aus
Sibirien
komme.
In
Anbetracht dieses Umstandes, meinte der Herr, wäre es
selbstverständlich, daß
Tunda versucht hätte, die Zigarette an der Fensterscheibe auszudrücken.
Wahrscheinlich
gäbe es auch Läuse in Sibirien.
"Freilich
gibt es auch in Sibirien Läuse", sagte Tunda zuvorkommend.
"Wo
denn sonst?" fragte der Herr mit einer hellen Stimme, die aus einem
gläsernen
Kehlkopf kam.
"Nun,
überall, wo Menschen wohnen", erwiderte Tunda.
"Doch
nicht, wo saubere Menschen wohnen", sagte der Herr.
"Es
wohnen auch in Sibirien saubere Menschen", meinte Tunda.
"Sie
scheinen ja das Land sehr zu lieben", sagte der Herr ironisch.
"Ich
liebe es", gestand Tunda.
Hierauf
entstand eine Pause.
Nach
einigen Minuten erst sagte der Herr: "Man gewöhnt sich leicht an fremde
Länder."
"Unter
gewissen Umständen ja."
"Ich
war letzten Frühling in Italien", begann der Herr, "Venedig, Rom,
Sizilien -
nachgeholte Hochzeitsreise, wissen Sie, man kam als Assessor ja gar
nicht dazu
- verzeihen Sie -"
Hier
erfolgte eine merkwürdige Verwandlung des Herrn, er war plötzlich um
einen Kopf
größer, seine trüben Augen blitzten kühn und blau, über seiner
Nasenwurzel
erschien ein winziges Koordinatensystem aus Falten – „Verzeihen
Sie", sagte der Herr mit vorgeneigtem Oberkörper: "Staatsanwalt
Brendsen."
Gleichzeitig
schlugen seine Fersen mit scharfem Knall zusammen. Tunda glaubte einen
Augenblick, seine Verhaftung stünde bevor. Er besann sich, wurde ebenso
ernst,
machte Lärm mit den Stiefeln, nahm aktive Haltung an und schoß seinen
Namen ab: „Oberleutnant
Tunda."
Nachdem
ihn der Staatsanwalt noch eine Weile gemustert hatte, setzte er seine
Erzählung
von der nachgeholten Hochzeitsreise fort.
Es
ergab sich später, daß der Staatsanwalt Tunda sogar eine Zigarette
anbot,
vorsichtig rechts und links nach dem Schaffner spähte und im Hinblick
auf
diesen äußerte:
„Ein
braver Kerl!"
„Ein
gewissenhafter Mensch!" stimmte Tunda zu.
Diese
Charakteristik schien den Staatsanwalt wieder aufzuregen,
wahrscheinlich paßte
ihm die Verbindung von gewissenhaft und Mensch nicht. Deshalb sagte er
nur:
„Na,na!"
Unter
solchem Zeitvertreib erreichten sie die Stadt am Rhein.
zurück
Es
war zehn Uhr abends.
Auf
dem Bahnsteig standen Menschen mit Regenschirmen, in nassen Kleidern.
Die
Bogenlampen schaukelten und wischten leichte Schatten über die feuchten
Steine.
Auf den Bogenlampen saßen viele Mücken und ließen sich wiegen. Man
mußte sie
bemerken, denn sie verdunkelten das Licht ganz erheblich, ließen aber
dennoch
nicht vergessen, daß es Bogenlampen waren.
Alle
wunderten sich über die schwache Leuchtkraft der Lampen, sahen auf und
schüttelten die Köpfe über die Frechheit der Insekten.
Tunda
spähte, einen schweren Koffer in der Hand, nach einem bekannten Gesicht
aus.
Ihn
zu erwarten, war natürlich Klara gekommen. Georg war aus mehreren
Gründen zu
Hause geblieben. Erstens war es ein Sonnabend, an dem der Klub tagte.
In diesem
Klub versammelten sich die Akademiker der rheinischen Stadt und die
Künstler,
die Journalisten und von den anderen Berufen nur diejenigen, die das
Ehrendoktorat hatten. Die Stadt selbst hatte eine Universität, die
Ehrendoktorate für die Aufnahme in
den Klub verteilte wie Eintrittskarten. Denn man konnte die Statuten,
die nur
Akademiker aufzunehmen erlaubten, nicht umstoßen. Allmählich war der
Andrang in
den Klub und zu den Ehrendoktoraten so groß geworden, daß die
Universität einen
Numerus clausus für Stifter aus Industriellenkreisen einführen mußte,
nachdem
schon ein anderer Numerus clausus für ausländische Juden einige Jahre
lang bestanden
hatte. Den Numerus clausus gegen ausländische Juden hatten die
einheimischen
Juden durchgesetzt, die behaupteten, ihre Vorfahren wären schon vor der
Zeit
der Völkerwanderung absichtlich mit den Römern an den Rhein gekommen.
Es sah
beinahe so aus, als wollten die Juden sagen, ihre Vorfahren hätten den
Germanen
erlaubt, sich am Rhein anzusiedeln, weshalb es die dankbare Pflicht der
heutigen Deutschen wäre, die rheinisch-römischen Juden vor den
polnischen zu bewahren.
In diesem Klub war Georg heute.
Zweitens
kam er nicht zur Bahn, weil er dadurch Klara ihres alten Vorrechts
beraubt
hätte, allein alle Angelegenheiten durchzuführen, die gewöhnlich in
anderen
Familien eine männliche Hand verlangen.
Drittens
kam Georg nicht, weil er ein wenig Angst vor dem Bruder hatte und weil
ein
friedlicher Bruder, sobald er schon im Zimmer und womöglich vielleicht
auch
noch im Bett lag, viel weniger gefährlich war als ein eben aus dem Zug
gestiegener.
Klara
steckte in einer Lederjoppe aus braunem Kalb, es erinnerte an die
Lederhemden,
die mittelalterliche Ritter unter der Rüstung trugen. Sie erweckte den
Eindruck, daß sie von weit her kam, Gefahren in dunklen Wäldern zu
bestehen
hatte, sie erinnerte an Bürgerkrieg. Sie kam mit der offenen, lauten
Herzlichkeit verlegener und braver Menschen zu Tunda.
"Ich
habe dich gleich erkannt", sagte sie.
Dann
küßte sie ihn auf den Mund. Dann versuchte sie, ihm den schweren Koffer
abzunehmen. Er konnte ihn ihr nicht entwinden und lief neben ihr her
wie ein
Kind, das ein Dienstmädchen von der Schule abgeholt hat.
Vor
dem Bahnhof sah er ein Gewimmel von Drähten, Bogenlampen, Automobilen,
in der
Mitte einen Schutzmann, der wie ein Automat die Arme streckt, rechts,
links, aufwärs,
abwärts, gleichzeitig aus einer Trillerpfeife Signale gab und so
aussah, als
würde er im nächsten Augenblick auch noch seine Beine für die
Verkehrsregelung
in Anspruch nehmen müssen. Tunda bewunderte ihn. Aus einigen Kneipen
tönte
Musik, sie füllte die Pausen, die der Verkehrslärm gelegentlich
offenließ, es
war eine Atmosphäre von Sonntagsfreude, Becherklang, Steinkohle,
Industrie, Großstadt
und Gemütlichkeit.
Der
Bahnhof schien ein Zentrum der Kultur zu sein.
Tunda
kam erst zu sich, als sie vor der Villa des Kapellmeisters hielten. Da
war ein
Gitter, das sofort zu knarren anfing, wenn man einen Knopf drückte, und
gleichzeitig leicht aufging wie Butter. Da stand ein Diener in blauer
Livree
und verneigte sich wie ein Edelmann. Man ging über knirschenden, nassen
Kies,
es war, als hätte man Sand zwischen den Zähnen. Dann kamen ein paar
Treppen,
auf deren oberster unter einer silbernen
Bogenlampe ein weißes Mädchen stand, wie ein Engel, mit Schwingen am
Hinterkopf, mit sanften, braunen Augen und knicksenden Beinen. Dann
kamen sie
in eine braungetäfelte Halle, in der man Hirschgeweihe vermißte und in
der eine
Beethovenmaske das Jagdgerät vertrat.
Denn
der Herr dieses Hauses war ein Kapellmeister.
„So
reich seid ihr also ?« sagte Tunda, der manchmal in seine alte Naivität
zurückfiel.
„Nicht
reich!" lächelte Klara verzeihend, deren soziales Gewissen sich mehr
gegen das
Wort als gegen den Zustand empörte: „Wir leben nur kultiviert. Georg
muß es
haben."
Georg
kam erst in einer Stunde nach Hause.
Er
war im Smoking, hatte weiße und glattgepuderte Wangen, roch nach Wein
und
Rasierseife, was zusammen einen Geruch von Menthol ergab. Franz und
Georg
küßten sich zum erstenmal in ihrem Leben.
Der
Kapellmeister hatte vor Jahren von russischen Flüchtlingen einen
silbernen
Samowar gekauft, als Kuriosität. Zu Ehren des Bruders, der eine Art
Russe
geworden sein mochte, wurde das Möbelstück von dem livrierten Diener
auf einem
rollenden Tischchen hereingefahren. Der Diener trug weiße Handschuhe
und griff
mit einer silbernen Zuckerzange kleine Kohlenwürfel, um den Samowar zu
heizen.
Ein
Gestank wie von einer Kleinbahnlokomotive erhob sich.
Hierauf
mußte Franz darlegen, wie man einen Samowar behandelt. Er hatte in
Rußland
keinen benützt, gestand es aber nicht, sondern verließ sich auf seine
Intuition.
Indessen
sah er viele jüdische Geräte im Zimmer, Leuchter, Becher, Thorarollen.
"Seid
ihr zum Judentum übergetreten?" fragte er.
Es
stellte sich heraus, daß in dieser Stadt, in der die ältesten jüdischen
verarmten
Familien wohnten, viele kostbare Geräte von künstlerischem Wert »halb
umsonst«
zu haben waren. Übrigens gab es in anderen Zimmern auch Buddhas, obwohl
weit
und breit am Rhein keine Buddhisten leben, es gab auch alte
Handschriften von
Hutten, eine Lutherbibel, katholische Kirchengeräte, Madonnen aus
Ebenholz und russische
Ikonen.
So
leben Kapellmeister.
Franz
Tunda schlief in einem Zimmer, das der modernen Malerei gewidmet war.
Auf
seinem Nachttisch dagegen lag »Der Zauberberg« von Thomas Mann.
zurück
Als
er am nächsten Tag erwachte, war es Sonntag. Hochmoderne, von
pazifistisch
umgestellten Kanonenfabriken aus Kriegsmaterial erzeugte Glocken riefen
die
Welt zum Gebet.
Im
Hause roch es nach Kaffee. Beim Frühstück erfuhr Tunda, daß es ein
koffeinfreier Kaffee war, der dem Herzen nicht schadete und dem Gaumen
schmeckte.
Der
Kapellmeister schlief noch. Künstler brauchen Schlaf. Klara aber hatte
auch in
der Ehe die gesunde Sitte ihres Elternhauses nicht vergessen. Sie
erwachte wie
ein Vogel mit dem ersten Sonnenstrahl. Mit dünnen Gummihandschuhen, wie
sie die
Operateure gebrauchen, wischte sie den Staub von den religiösen
Gegenständen.
Tunda
beschloß spazierenzugehen.
Er
ging in die Richtung, aus der das Klingeln der Straßenbahn von Zeit zu
Zeit
ertönte. Er ging durch stille Gartenstraßen, in denen gut gekleidete
Knaben und
Mädchen auf Fahrrädern schön geschlungene Schleifen machten.
Dienstmädchen
kehrten vom Gottesdienst heim und kokettierten. Stolze Hunde lagen wie
Löwen
hinter den Gittern.
Herabgelassene
Jalousien erinnerten an Ferien.
Dann
geriet Tunda in den alten Stadtteil, zwischen bunte Giebel, zwischen
Weinstuben
mit mittelhochdeutschen Namen; armselig gekleidete Männer kamen ihm
entgegen,
offenbar Arbeiter, die zwischen gotischen Buchstaben wohnten, aber
wahrscheinlich in Bergwerken internationaler Besitzer ihr Brot
verdienten.
Musik
ertönte. Junge Männer in Doppelreihen, mit Stöcken bewaffnet,
marschierten
hinter Pfeifern und Trommlern. Es klang wie Musik von Gespenstern oder
wie von
einer Art militarisierter Äolsharfen. Die jungen Leute marschierten mit
ernsten
Gesichtern, keiner sprach ein Wort, sie marschierten einem Ideal
entgegen.
Hinter
und neben ihnen, auf den Bürgersteigen und in der Straßenmitte
marschierten
Männer und Frauen, im gleichen Schritt, sie gingen auf
diese Weise spazieren.
Alle
marschierten zum Bahnhof, der wie ein Tempel aussah, Gepäckträger
hockten auf
den steinernen Stufen wie numerierte Bettler. Die Lokomotiven pfiffen
sakral
und ehrwürdig.
Die
Doppelreihen fielen ab und verschwanden im Bahnhof.
Hierauf
machten die Begleiter kehrt, mit lässigerem Schritt, verklärten
Gesichtern, das
Echo der Pfeifen noch in den Seelen. Es war, als hätten sie eine
freudige
Pflicht erfüllt und als dürften sie sich jetzt dem Sonntag mit ruhigem
Gewissen
hingeben.
Über
die Straße fegten abgeschminkte Freudenmädchen außer Dienst. Sie
gemahnten an
den Tod. Einige trugen Brillen.
Eine
Gruppe hurtiger Radfahrer glitt klingelnd einher. Würdig, mit
Rucksäcken,
wanderten kindlich gekleidete Männer in die Berge.
Vereinzelte,
gleichsam versprengte Feuerwehrmänner spazierten blinkend mit Weib und
Kind.
Kreiskriegerverbände
lockten auf den Litfaßsäulen mit großen MilitärDoppelkonzerten.
Hinter
den großen Spiegelscheiben der Kaffeehäuser türmte sich Schlagsahne vor
genußfreudigen Menschen in Korbstühlen.
Ein
verwachsener, komischer Zwerg verkaufte Schnürsenkel.
Ein
Epileptiker lag zuckend in der Sonne. Viele Menschen standen um ihn.
Ein Mann
erläuterte den Fall wie in der Hochschule. »Er muß immer im Schatten
gehn«, so
schloß er seine Ausführung.
In
kleinen Gruppen kamen junge Männer einher, mit viel zu kleinen Mützen,
schwarz
verpackten Gesichtern und gläsernen Augen hinter gläsernen Brillen. Es
waren
Studenten.
In
der
Ferne rauschte der Rhein.
Es
kamen auch noch andere Männer mit Studentenkappen aus Papier. Aber es
waren
keine Studenten: Es waren Schornsteinfeger, gewaschene, die ein Fest
veranstaltet hatten.
Würdige
Greise führten Hunde spazieren und Greisinnen.
In
der
Ferne ragten grünpatinierte Kirchenspitzen. Aus Weinstuben scholl
Gesang.
Schatten
verdichteten sich plötzlich über der Stadt, ein schneller Platzregen
ging
nieder, weißgekleidete Frauen ließen ihre rund gezackten weißen
Unterröcke
sehen, es war wie ein zweiter Sommer aus Leinwand.
Über
hellen, strahlenden Kleidern wölbten sich schwarze Schirme. Alles sah
aus wie
eine traumhafte, etwas überstürzte, nasse Totenfeier.
Tunda
wurde hungrig, vergaß, daß er kein Geld hatte, und trat in eine
Weinstube. Als
er die Preise auf der Karte sah, wollte er wieder hinausgehen.
Drei
Kellner verstellten ihm den Weg.
"Ich
habe kein Geld!" sagte Tunda.
"Bitte
nur den Namen", sagte der Kellner.
Als
er seinen Namen nannte, wurde Tunda als Herr Kapellmeister behandelt.
Sein
Bruder begann ihm zu imponieren.
Ein
buckliger Mann trat in das Lokal, gedrückt, krank, mit flehenden Augen
und
furchtsam zitternden Beinen schlich er von Tisch zu Tisch und legte
überall
einen Zettel hin. Er tat es wie eine geheime Sünde. Auf dem Zettel las
Tunda:
Tanz
und Gymnastik.
Schulung
des Körpers: Entspannung - Spannung,
Elastizität,
Schwung, Impuls, Gehen, Laufen,
Springen,
Eurhythmie, Raumgefühl, Choreographie,
Harmonielehre
der Bewegung, Ewige Jugend,
Improvisationen
zu Musikbegleitung bis zur Gruppenform.
Er
aß, trank und ging hinaus.
Er
erkannte die Straße nicht wieder. Die nassen Steine trockneten schnell.
Am
Himmel stand ein Regenbogen. Die Straßenbahnen fuhren schwer, mit
vielen
Menschen bepackt, der Natur in die Arme. Betrunkene stolperten über
sich
selbst. Die Kinos öffneten ihre Portale.
Die
Portiers standen rufend mit gold geränderten Mützen und verteilten
Zettel an
die Passanten. Die Sonne lag auf den höchsten Stockwerken der Häuser.
Alte,
verhutzelte Frauen gingen durch die Straßen, in Kapotthütchen mit
klingenden,
gläsernen Kirschen. Die Frauen sahen aus, als kämen sie aus alten
Schubladen,
die der Sonntag aufgesperrt hatte. Wenn sie auf spät besonnte, weite
Plätze
trafen, warfen sie merkwürdige, lange Schatten. Es gab ihrer so viele,
daß es
aussah wie eine Wallfahrt märchenhafter, alter Zauberinnen.
Über
den Himmel zogen Wolken aus Perlmutter, aus denen man Hemdknöpfe macht.
Sie
standen in einer rätselhaften, aber deutlich fühlbaren Beziehung zu den
dicken
Bernsteinspitzen, die viele Männer zwischen den Lippen hielten.
Immer
seltener wurde die Sonne, immer fahler das Perlmutter. Von allen
Sportplätzen
kehrten die Menschen zurück. Sie brachten Schweiß mit und entwickelten
Staub.
Autohupen jammerten wie überfahrene Hunde.
Freudenmädchen
erschienen in dunklen Torfahrten, von Bernhardinern und Pudeln gezogen.
Gespenstische Hausverwalter rutschten mit Stühlen, auf denen sie
festgeklebt
waren, zu den Türen hinaus und genossen den Feierabend.
Junge
Mädchen aus dem Volk kreischten, Proletarier gingen sonntäglich in
grünen
Hüten, in schiefen Anzügen, mit schweren Händen, die sich überflüssig
vorkamen.
Soldaten
gingen wie Reklamegegenstände. Es roch nach feuchten Blumen wie
Allerseelen.
Die
Bogenlampen, zu hoch über der Straße, schwankten unsicher wie
Windlichter. In
verstaubten Anlagen wirbelten Papierknäuel. Ein zager Wind erhob sich
mit
einzelnen Stößen.
Es
war, als wäre die Stadt gar nicht bewohnt. Nur am Sonntag kamen
Verstorbene auf
Urlaub aus den Friedhöfen.
Man
ahnte weit geöffnete, wartende Grüfte.
Am
Abend ging Tunda nach Haus.
Ihm
zu Ehren gab der Kapellmeister ein kleines Fest.
zurück
Es
war ein kleines Sonntagsfest. Die Teilnehmer sahen zwar nicht so aus,
als
müßten sie auf einen Sonntag warten, um ein Fest mitzumachen. Denn sie
gehörten
den gehobenen Ständen an, jenen Ständen, die auch am Mittwoch oder am
Donnerstag oder selbst am Montag eingeladen werden konnten und auch
eingeladen
wurden. Es waren Künstler, Gelehrte und Gemeinderäte. Ein Zweiter
Bürgermeister, der musikalisch interessiert war, befand sich unter den
Gästen.
Ein Professor der Universität, der am Freitag von sechs bis acht Uhr
abends las
und von den Damen der Gesellschaft frequentiert wurde. Ein
Schauspieler, der im
Staatstheater in Berlin mit Erfolg gespielt hatte. Eine junge, kleine
Schauspielerin, die zwar mit dem dicken Zweiten Bürgermeister
geschlafen hatte,
aber unbeschädigt aus seiner Umarmung wieder herausgekommen war und
teilweise
sogar erfrischt. Ein Museumsdirektor, der
ein paar Arbeiten über van Gogh geschrieben hatte, obwohl ihm Böcklin
am Herzen
lag. Der Musikkritiker eines größeren Blattes, der einen
stillschweigenden Pakt
mit dem Kapellmeister geschlossen zu haben schien.
Der
und jener hatte seine Frau mitgebracht. Die Damen zerfielen in zwei
Gruppen: in
elegante, die nach Paris tendierten, und in sachliche, die an die
masurischen
Seen erinnerten. Es lag ein Glanz von Stahl und Sieg um die letzteren.
Hier und
dort trug eine ein geschlitztes Kleid. Es bildeten sich drei Gruppen.
Erstens:
die sachlichen Damen; zweitens: die eleganten Damen; drittens: die
Männer. Nur
Franz und seine Schwägerin
pendelten zwischen den drei Gruppen hin und her und spendeten
Erfrischungen. Um
Franz, der in einer sibirischen Gloriole steckte und den großen Atem
der Steppe
und des Eismeers verbreitete, bewarben sich die kühnen Blicke einiger
eleganter
Frauen. Männer klopften ihm auf die Schulter und schilderten ihm, wie
es in
Sibirien aussah. Der Musikkritiker erkundigte sich nach der neuen Musik
in Rußland.
Er wartete aber keine Antwort ab, sondern begann einen Vortrag über das
Moskauer Orchester ohne Dirigenten zu halten. Der Museumsdirektor
kannte die
Petersburger Eremitage auswendig. Der Professor, der Marx verachtete,
zitierte
die Stellen, in denen Lenin sich selbst widersprach. Er kannte sogar
das Buch
Trotzkis von der Entstehung der Roten Armee.
Es
war keine richtige Organisation in den Gesprächen. Diese zu schaffen
war ein Fabrikant
berufen, der erst gegen Mitternacht eintraf. Es war ein Ehrendoktor und
ein
Klubmitglied. Mit rotem Gesicht, mit verzweifelt suchenden Händen, die
an die
Hände Ertrinkender erinnerten, obwohl der Fabrikant mit beiden Füßen
auf festem
Boden stand, begann er, Tunda ins Verhör zu nehmen.
Der
Fabrikant hatte Konzessionen in Rußland. »Wie steht es mit der
Industrie im
Uralgebiet?« fragte er.
"Ich
weiß es nicht", gestand Tunda.
"Und
wie mit dem Petroleum in Baku?"
"Ganz
gut", sagte Tunda und fühlte, wie er Boden verlor.
"Sind
die Arbeiter zufrieden?"
"Nicht
immer!"
"Da
haben wir‘s", sagte der Fabrikant. "Also die Arbeiter sind nicht
zufrieden.
Aber Sie wissen verdammt wenig von Rußland, lieber Freund. Man verliert
so die
Distanz zu den Dingen, wenn man in der Nähe ist. Das kenne ich. Das ist
keine
Schande, lieber Freund."
"Ja",
sagte Tunda, "man verliert die Distanz. Man ist den Dingen so nahe, daß
sie
einen gar nichts mehr angehen. So, wie Sie sich nicht darum kümmern,
wieviel
Knöpfe Ihre Weste hat. Man lebt so in den Tag hinein wie in einen Wald
hinein.
Man trifft Menschen und verliert sie wieder, wie Bäume Blätter
verlieren.
Begreifen Sie denn nicht, daß es mir gar nicht wichtig erscheint,
wieviel
Petroleum in Baku gewonnen wird? Es ist eine wunderbare Stadt. Wenn
sich ein
Wind in Baku erhebt -"
"Sie
sind ein Dichter", sagte der Fabrikant.
"Liest
man Ilja Ehrenburg in Rußland?" fragte die kleine Schauspielerin."Er
ist ein
Skeptiker."
"Ich
kenne diesen Namen gar nicht, wer ist es?" fragte strafend der
Professor.
"Es
ist ein junger russischer Schriftsteller", sagte zu allgemeinem
Erstaunen Frau
Klara.
"Fahren
Sie in diesem Jahr nach Paris?" fragte eine Dame die andere aus der
Pariser Frauengruppe.
"Ich
habe in der >Femina< die letzten Hüte gesehen, wieder topfartig,
Kostümjacken
mit zarter Andeutung von Glocken. Ich glaube, es lohnt in diesem Jahr
gar
nicht."
"Wir
waren vergangene Woche in Berlin, mein Mann und ich«, sagte die Frau
des
Musikkritikers. "Diese Stadt wächst unheimlich. Die Frauen werden immer
eleganter. "
"Mächtig,
mächtig", ließ sich der Fabrikant hören, »diese Stadt nimmt ganz
Deutschland
den Atem.«
Er
knüpfte irgendeine Geschichte an das Thema Berlin. Immer war er es, der
dem
zerfallenden Gespräch ein neues Zentrum zu geben verstand. Er sprach
von der
Industrie und vom neuen Deutschland, von den Arbeitern und dem
Untergang des
Marxismus; von der Politik und vom Völkerbund; von der Kunst und Max
Reinhardt.
Der
Fabrikant begab sich in ein abgelegenes Zimmer. Er legte sich,
halbverdeckt von
einem kupfernen Weihkessel, einer katholischen Rarität, auf ein breites
Sofa.
Er hatte die Lackschuhe aufgebunden, den Kragen aufgeknöpft, seine
Hemdbrust
stand offen wie eine doppelte Flügeltür, auf der nackten Brust lag ein
seidenes
Taschentuch.
So
traf ihn Tunda.
"Ich
habe Sie früher ganz genau verstanden, Herr Tunda", sagte der
Fabrikant. "Ich
habe ganz genau verstanden, was Sie mit dem Wind in Baku gemeint haben.
Ich
habe ganz genau verstanden, daß Sie so viel erlebt haben und daß wir
jetzt so
ahnungslos daherkommen und Sie dumme Dinge fragen. Was mich betrifft,
so habe
ich meine praktischen Fragen aus einem ganz bestimmten, egoistischen
Grunde
gestellt. Ich war gewissermaßen dazu verpflichtet. Sie verstehen das
noch
nicht. Sie müssen erst eine längere Zeit bei uns leben. Dann werden Sie
auch bestimmte
Fragen stellen und bestimmte Antworten geben müssen. Jeder lebt hier
nach
ewigen Gesetzen und gegen seinen Willen. Natürlich hat jeder einmal,
als er
anfing, beziehungsweise als er hierherkam, seinen eigenen Willen
gehabt. Er
arrangierte sein Leben, vollkommen frei, niemand hatte ihm was
dreinzureden.
Aber nach einiger Zeit, er merkte es gar nicht, wurde, was er aus
freiem
Entschluß eingerichtet hatte, zwar nicht geschriebenes, aber heiliges
Gesetz
und hörte dadurch auf, die Folge seiner Entschließung zu sein. Alles,
was ihm
nachträglich einfiel und was er später ausführen wollte, mußte er gegen
das Gesetz
durchdrücken, oder er mußte es umgehen. Er mußte warten, bis es
gewissermaßen
die Augen vor Übermüdung einen Augenblick schloß. Aber Sie kennen das
Gesetz ja
noch gar nicht. Sie wissen ja noch gar nicht, wie furchtbar offene
Augen es
hat, an den Brauen festgeheftete Augenlider, die niemals zuklappen.
Wenn es mir
zum Beispiel, als ich hierherkam, gefiel, bunte Hemden mit angenähten
Kragen
und ohne Manschetten zu tragen, so gehorchte ich mit der Zeit einem
sehr
strengen und unerbittlichen Gesetz, indem ich diese Art Hemden trug.
Sie ahnen
ja gar nicht, wie schwierig es war, aus praktischen Gründen - denn es
war eine
Zeit, in der es mir schlechtging - weiße Hemden mit auswechselbaren
Kragen
anzuziehen. Denn das Gesetz befahl: Der Fabrikant X trägt bunte Hemden
mit
festen Kragen, wodurch er beweist, daß er ein Mann der Arbeit ist wie
seine Arbeiter
und Angestellten. Er braucht nur seine Krawatte abzuknöpfen, schon
sieht er aus
wie ein Proletarier. Langsam, ganz vorsichtig, als hätte ich die weißen
Hemden
irgend jemandem gestohlen, begann ich, sie anzuziehen. Zuerst einmal in
der
Woche, am Sonntag, denn an diesem Tag pflegt das Gesetz manchmal ein
Auge zuzudrücken,
dann am Sonnabendnachmittag, dann am Freitag. Als ich zum erstenmal an
einem
Mittwoch ein weißes Hemd trug - Mittwoch ist ohnehin mein Unglückstag
-, sahen mich alle Menschen vorwurfsvoll an, meine Sekretärin im Büro
und mein
Werkführer in der Fabrik.
Nun,
Hemden sind ja auch nicht sehr wichtig. Aber sie sind symbolisch.
Wenigstens in
diesem Fall. Es geht ja auch mit den ganz wichtigen Dingen so. Wenn ich
hierherkam als Fabrikant, glauben Sie, ich könnte hier jemals
Kapellmeister
werden, und wenn ich ein zehn mal besserer wäre als Ihr Herr Bruder?
Oder
glauben Sie, Ihr Bruder könnte jemals Fabrikant werden? Nun, auch der
Beruf ist
meinetwegen keine so wichtige Sache. Es ist nicht maßgebend, wovon man
lebt. Aber
wichtig ist, zum Beispiel, die Liebe zu Frau und Kind. Wenn Sie
anfingen, aus
freiem Willen ein guter Familienvater zu sein, glauben Sie, daß Sie
jemals
aufhören können? Wenn Sie Ihrer Köchin eines Tages erklärt haben: Ich
liebe
kein helles Fleisch, glauben Sie, daß Sie nach
zehn Jahren Ihren Entschluß ändern können? Als ich hierherkam, hatte
ich viel
zu tun, ich mußte Geld beschaffen, eine Fabrik einrichten - denn ich
bin der
Sohn eines jüdischen Hausierers, müssen Sie wissen -, ich hatte keine
Zeit für
Theater, Kunst, Musik, Kunstgewerbe, religiöse Gegenstände,
israelitische
Kultusgemeinde, katholische Dome. Wenn mir also jemand mit irgendeiner
Sache an
den Leib rückte, wehrte ich ihn in einer groben Weise ab. Ich wurde
also
sozusagen ein Grobian oder ein Mann der Tat, man bewunderte meine
Energie. Das
Gesetz bemächtigte sich meiner, befahl mir Grobheit, unbekümmertes
Handeln -
ich muß, verstehen Sie, mit Ihnen so sprechen, wie es mir das Gesetz
befiehlt.
Wer befahl mir, Konzessionen in diesem dreckigen Rußland aufzunehmen?
Das
Gesetz! Glauben Sie, der Wind in Baku interessiert mich nicht mehr als
das
Petroleum? Aber darf ich Sie nach Winden fragen? Bin ich ein
Meteorologe? Was wird
das Gesetz dazu sagen?
So
wie ich, lügen alle Menschen. Jeder sagt das, was ihm das Gesetz
vorschreibt.
Die kleine Schauspielerin, die Sie früher über einen jungen russischen
Schriftsteller fragte, interessiert sich vielleicht mehr für Petroleum.
Aber
nein, die Rollen sind jedem zugeteilt. Der Musikkritiker und Ihr Bruder
zum
Beispiel: Beide spielen an der Börse, ich weiß es. Wovon reden sie? Von
gebildeten Dingen. Sie können, wenn Sie in ein Zimmer treten und die
Menschen
ansehen, sofort wissen, was jeder sagen wird. Jeder hat seine Rolle. So
ist es
in unserer Stadt. Die Haut, in der jeder steckt, ist nicht seine
eigene. Und
wie in unserer Stadt ist es in allen, wenigstens in hundert größeren
Städten
unseres Landes.
Sehen
Sie, ich war in Paris. Ich sehe davon ab, daß ich nach meiner Rückkehr
niemandem sagen durfte, daß ich lieber als armer Mann in Paris unter
der Seinebrücke
leben möchte als in unserer Stadt mit einer mittelmäßigen Fabrik.
Niemand wird
es mir glauben, ich zweifle schon selbst daran, ob es mein aufrichtiger
Wunsch
war. Aber ich wollte Ihnen was anderes sagen: In der Avenue de I‘Opera
spricht mich
einer an. Er will mir Bordelle zeigen. Ich bin natürlich vorsichtig,
der Mann
sucht meine Bedenken zu zerstreuen. Er zählt mir seine Kunden auf. Er
nennt mir
den Minister, mit dem ich eine Woche vorher verhandelt habe. Er nennt
mir nicht
nur Namen, er hat Beweise. Er zeigt mir Briefe. Ja, es ist die
Handschrift des
Ministers. Lieber Davidowiczi, schreibt ihm der Minister, ein guter
Freund von
Davidowiczi.
Weshalb
schreibt er ihm >Lieber<? Weil der Minister eine ganz bestimmte
Perversität
hat. Weil er Tag und Nacht nur an Ziegen denkt, an nichts anderes. Ich
bitte
Sie: an Ziegen. Und er ist nicht einmal Minister für Landwirtschaft. Er
legt
mit einem unwahrscheinlichen Eifer bei den Verhandlungen los. Man
glaubt, auf
den kann sich sein Ressort verlassen. Woran denkt er aber fortwährend?
An
Tiere. Wer verbietet
ihm, das zu sagen, wovon er sprechen möchte? Das Gesetz."
Der
Fabrikant mußte schnell seinen Anzug wieder in Ordnung bringen, weil
zwei Damen
sich näherten. Es war merkwürdigerweise eine aus der Gruppe der
Sachlichen mit
einer aus der Gruppe der Pariserinnen. Sie sprachen von Kleidern, es
hatte ganz
den Anschein, daß sich die Sachliche bei der Eleganten erkundigen
wollte.
"Er
müßte ja nicht" flüsterte der Fabrikant, "gerade von den Tieren so
direkt
sprechen, wie er es mit Davidowiczi tut. Aber er könnte ja auf Umwegen
von
ihnen sprechen, zum Beispiel von ihrem Nutzen für die Hauswirtschaft.
Nicht
einmal das tut er. Wer tut es denn? Was glauben Sie, wie viele Dinge da
herauskämen, wenn wir in den Schubläden jedes einzelnen suchen könnten
- und
noch mehr als in den Schubläden, in den inneren, verborgenen Winkeln?
Als
Sie von dem Wind sprachen, kamen mir die Tränen. Glauben Sie, ich hätte
weinen
dürfen? Ich darf poltern.
Ich
will Ihnen gestehen, daß ich manchmal ins Kino gehe, um mich
auszuweinen. Ja,
ins Kino."
Eine
Dame kam, sah Tunda und lächelte ihn an, hold, lockend und distanziert,
so als
hielte sie ein Zentimetermaß vor ihren Leib, so als gäbe es ein
bestimmtes
Gesetz, das befiehlt, nur eine gewisse Anzahl Zähne beim Lächeln zu
zeigen.
"Und
Sie haben niemals Heimweh gehabt?" fragte sie. »Wir haben manchmal von
Ihnen
gesprochen. Sie waren ja verschollen.« Sie neigte den Kopf, als sie
dieses Wort
aussprach. Sie kam in Verlegenheit, weil sie einem anwesenden Menschen
zu sagen
hatte, er sei verschollen gewesen. Es war ein peinlicher, vielleicht
sogar ein
unanständiger Zustand, verschollen zu sein. Es war so etwas wie einem
Lebendigen sagen, er sei scheintot gewesen.
"Ihr
Bruder hat oft von Ihnen erzählt. Wie Sie zusammen in ihre Kusine Klara
verliebt waren, wenn Sie zu Weihnachten und Ostern nach Hause kamen,
und wie
Sie deswegen beinahe böse geworden wären. Und wie Sie dann Abschied
genommen
haben, als Sie in den Krieg gingen" (beinahe hätte sie »zogen« gesagt)
"und
Ihren Bruder küßten, der so traurig war, daß er seines Beines wegen zu
Hause
bleiben mußte. Ja, wir haben oft von Ihnen gesprochen. Haben Sie
manchmal gedacht,
daß man von Ihnen sprechen könnte wie . . . "
Sie
beendete diesen Satz nicht. Wahrscheinlich hatte sie sagen wollen: wie
von
einem Toten. Aber so was sagt man einem Lebendigen nicht ins Gesicht.
Franz
wunderte sich über die Erzählungen seines Bruders.
Jedenfalls
sagt man einer Dame, die derlei Dinge erzählt: Setzen wir uns! Und sie
setzten
sich. Es gab viele Gelegenheiten zum Sitzen im Hause des
Kapellmeisters. Es war
eine besondere Eigenschaft dieser Gelegenheiten, daß man sofort in
ihnen lag,
wenn man sich in sie setzte. Es scheint, daß diese Sitte mit der Mode
der
Frauen zusammenhängt. Man trägt Kleider, die zum Liegen auffordern oder
zumindest an das Liegen erinnern. Außerdem ist eine gewisse Abkehr von
europäischen Sitten festzustellen.
Tunda
setzte sich also mit der Dame hinter den breiten, braunen Rücken eines
Buddhas,
es war beinahe wie in einer Laube hinter wildem Wein. Die
glattrasierten Beine
der Dame lagen nebeneinander wie zwei gleich gekleidete Schwestern,
beide in
seidenen Trikots – Tunda legte eine Hand um ein Bein, aber die Dame
schien es
gar nicht zu beachten. Sooft sich Schritte näherten, versuchte sie
wegzurücken.
Ach,
was tut man nicht alles für einen Verschollenen?
Wenn
Tunda alle Möglichkeiten ausgenützt hätte, die ein sibirischer Zauber
und
solide, religiöse Gegenstände verursachen, wäre sein Schicksal
vielleicht aufgeschoben,
aber keineswegs abgewendet worden. Ob
er sie später dennoch ausgenützt hat, weiß ich nicht.
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