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04.3
Geschichten - Joseph Roth
Werke
4
1916-
1929
Romane und
Erzählungen
Die
Flucht ohne Ende - Seite 6
Ein
Bericht 1927
Nachdem
die Gäste fort waren, blieben die Brüder allein in einem Zimmer;
allein, wenn
man Bilder, Götter und Heilige nicht mitzählt. Tunda war an diese
stillen
Lauscher nicht gewöhnt. Was mich betrifft, so mache ich mir selbst aus
Lakaien nichts,
die hinter meinem Sessel stehen und meine Haare zählen. Im Hause des
Kapellmeisters hätte es Lakaien sicherlich gegeben, wenn nicht die
soziale
Gesinnung der Frau Klara gewesen wäre. Es widerstrebte ihr offenbar,
Menschen zu
entwürdigen.
Bei
Göttern aber machte es nichts.
Übrigens
befand sich in dem Zimmer, in dem sie saßen, von Frau Klara
hingestellt, eine
jener praktischen Erfindungen, die man das Entzücken der Hausfrau
nennt.
Es
war eine merkwürdige Lampe, eine sanfte, auf einem Sockel stehende
Lampe, deren
Licht durch mehrere kleine, gleichmäßig im Kreis an ihrem zarten,
durchsichtigen Leib angebrachte Löcher drang. Aber diese Lampe hatte
nicht etwa
den Zweck zu leuchten, es war vielmehr ihre Aufgabe, den Rauch zu
verschlingen,
der sich im Laufe des Abends im Zimmer angesammelt hatte. Diese Lampe
ersparte offene
Fenster, Zugwind, Verkühlungen und schließlich den Arzt. Derlei
ausgezeichnete Erfindungen
werden in Deutschland und in Amerika jedes Jahr gemacht. Der
Kapellmeister
benützte auch eine: Er rauchte nämlich nikotinfreie Zigaretten. Und
selbst
deren Rauch wurde von der Zauberlampe aufgesogen.
Es
war ein hygienisches Haus ohnegleichen.
»Gute
Nacht!« sagte Klara, nachdem sie die Lampe hingestellt hatte, ging hin
und gab
ihrem Mann einen herzhaften Kuß auf die Stirn. Es war ein erotinfreier
Kuß. Franz
bekam einen gleichen und geriet trotzdem in Aufregung. Er schob den
Sessel,
wollte aufstehen, aber seine Schwägerin drückte ihn bei den Schultern
zurück.
So
blieben nun die beiden Brüder und sollten zum erstenmal miteinander
sprechen.
Der
Kapellmeister, dessen Geschicklichkeit über schwierige Anfänge
hinüberzugleiten
bekannt war, ergriff als erster das Wort und sagte sehr vernünftig das
Nächstliegende:
»Wie
gefällt dir unsere Stadt?«
Nichts
ist so ansteckend wie gesellige Höflichkeit. Franz unterdrückte den
wichtigsten
und größten Teil seiner Meinung und erwiderte:
»Ich
habe sie mir viel lustiger, lebendiger, also rheinischer vorgestellt.«
»Sie
hat eine angenehme, ruhige Bevölkerung. Die Arbeiterschaft ist hier
nicht so
radikalisiert wie in anderen Gegenden. Der Oberbürgermeister ist
Mitglied der
Deutschen Volkspartei, der Erste und der Zweite Bürgermeister sind
Sozialdemokraten. In meinem Orchester sind auch fünf Mitglieder der
Sozialdemokratischen Partei. Der Bassist ist sogar sehr gut.«
»Weshalb
wunderst du dich darüber?« fragte Franz. »Weshalb sollte die
Partei einen hindern, ein guter Bassist zu sein?«
»Doch«,
sagte der Kapellmeister, »eine politische Aktivität ist der Kunst
abträglich.
Kunst ist etwas Heiliges, dem Tag Abgewandtes. Wer ihr dient, übt eine
Art
Priesterberuf aus. Kannst du dir vorstellen, daß man eine politische
Rede hält
und dann >Parsifal< dirigiert?«
»Ich
kann mir vorstellen«, sagte Franz, »daß unter Umständen eine politische
Rede ebenso
wichtig ist wie >Parsifal<. Ein guter Politiker kann so wichtig
sein wie ein
guter Musiker. Ein Priester ist er allerdings nicht. Ein Konzertsaal
ist
ebensowenig ein Tempel der Kunst wie ein Versammlungslokal ein Tempel
der Politik.«
»Du
hast keine europäischen Anschauungen mehr«, sagte der Kapellmeister
sanft und
leise wie ein Nervenarzt. Ȁhnliche Anschauungen haben leider auch
schon einen
großen Teil von Deutschland ergriffen. Sie gehen von Berlin aus. Aber
hier am
Rhein gibt es noch ein paar alte Festungen der alten bürgerlichen
Kultur.
Unsere Traditionen reichen vom Altertum über das katholische
Mittelalter, den Humanismus,
die Renaissance, die deutsche Romantik. - -«
»Ist
das europäische Kultur?« fragte Franz und zeigte auf die Buddhas, die
Polster,
die breiten und tiefen Sofas, die orientalischen Teppiche.
»Ihr
habt, scheint es mir, einige Anleihen gemacht. Deine Gäste haben heute
einige
Negertänze getanzt, die wahrscheinlich nicht im >Parsifal<
vorkommen. Ich
verstehe nicht, wie du noch von europäischer Kultur sprechen kannst. Wo
ist
sie? In den Kleidern der Damen? Hat der Fabrikant, der heute bei dir
war,
europäische Kultur? Er gefällt mir übrigens besser als die anderen,
denn er
verachtet euch. Diese alte Kultur hat tausend Löcher bekommen. Ihr
stopft die
Löcher mit Anleihen aus Asien, Afrika, Amerika. Die Löcher werden immer
größer.
Ihr aber behaltet die europäische Uniform, den Smoking und die weiße
Hautfarbe
und wohnt in Moscheen und indischen Tempeln. Wenn ich du wäre, würde
ich einen
Burnus tragen.«
»Wir
machen ein paar Konzessionen«, sagte der Kapellmeister, »nichts mehr.
Die Welt
ist kleiner geworden, Afrika, Asien und Amerika sind uns näher. Man hat
zu
allen Zeiten fremde Sitten übernommen und sie der Kultur eingefügt.«
»Wo
aber ist die Kultur, der ihr sie einfügen wollt? Ihr habt ja lauter
Attrappen
einer alten Kultur. Sind die Studenten mit den farbigen und
schlechtsitzenden
Mützen alte deutsche Kultur? Ist es euer Bahnhof, dessen größtes Wunder
es ist,
daß Züge von ihm abgehen und in ihm ankommen? Ist Kultur in euren
Weinstuben,
wo man >Ein rheinisches Mädchen< singt, wenn man besoffen ist,
und
Charleston tanzt, wenn man nüchtern ist? Ist alte Kultur in euren
trauten
Giebeldächern, in denen Arbeiter wohnen, keine Handwerker, keine
Goldschmiede, keine
Uhrmacher, keine Meistersinger, sondern Proletarier, die in Bergwerken
leben
und in elektrischen Fahrstühlen zu Hause sind, aber nicht zwischen den
unleserlichen gotischen Buchstaben? Das ist ja ein Maskenfest und keine
Wirklichkeit! Ihr kommt ja aus den Kostümen nicht heraus! Heute sah ich
einen
Feuerwehrmann in blendender Uniform einen
Kinderwagen schieben. Es brannte nicht, weit und breit war es ruhig.
War das
ein Kindermädchen, das sich als Feuerwehrmann verkleidet hatte, oder
ein
Feuerwehrmann, der ein Kindermädchen darstellen wollte? Es kamen
Studenten mit
Mützen aus Tuch und dann Bürger mit Studentenmützen aus Papier. Waren
die
Studenten verkleidet oder die Bürger? Dann sah ich ein paar junge Leute
in Samtkappen,
mit Seemannshosen, ich fragte einen Kellner, der sagte mir, es wäre
alte
Zimmermannskleidung. Ist denn das so? Macht man Särge und Kinderwiegen
mit
Samtmützen auf dem Kopf? Wandert man noch mit Bündeln über Landstraßen,
wo es
doch fast keine Landstraßen mehr gibt und nur Automobile und
Flugzeuge?«
»Du
hast viel an einem Tag gesehen«, sagte der konziliante Kapellmeister,
»ich gehe
niemals auf die Straße.«
»Warum
nicht? Es interessiert dich nicht? Paßt es dir nicht, weil du ein
Priester der
Kunst bist, dich unter das Volk zu mischen? Bist du zufrieden zwischen
deinen
Weihbecken und Bildern und deiner alten Kultur? Erfährst du alles nur
aus den
Zeitungen?«
»Ich
lese keine Zeitungen!« lächelte der Kapellmeister. »lch lese nur
musikalische
Angelegenheiten.«
»Da
wußte ich sogar in der Kadettenschule mehr von der Welt als du!« sagte
Franz.
Ȇbrigens haben wir ein ganzes Leben nichts miteinander geredet. Jetzt
haben
wir nichts Besseres zu tun, als Politik zu besprechen, als hätten wir
uns in
einem Kupee getroffen.«
„Du
bist also nicht einmal im Schlafwagen gefahren? rief der Kapellmeister
erschüttert.
Sie
hatten nichts miteinander zu reden, wenn sie die Dinge der
Allgemeinheit außer
acht ließen, wie sich bald darauf erwies.
Selbst
dem konzilianten Kapellmeister fiel gar nichts ein. Endlich entschloß
er sich
zu fragen:
»Hast
du was von Irene gehört?«
»Sie
soll geheiratet haben«, sagte Franz.
»Ich
habe gehört, daß sie in Paris lebt«, sagte Georg.
Dann
gingen sie schlafen.
zurück
Manchmal
fuhr der Kapellmeister in die nächste kleinere oder größere Stadt am
Rhein,
blieb einige Tage fort und kam blaß und erholungsbedürftig zurück.
»Er
muß Klimawechsel haben, der arme Georg«, sagte Klara.
»Ich
brauche Entspannung«, sagte der Kapellmeister.
Er
fuhr, wie sich bald herausstellte, zu Liebeszwecken. Er erinnert an
einen
Vogel, der von Ast zu Ast hüpft und überall ein Liedchen schmettert.
Die jungen
Mädchen in den alten Kulturzentren verehren neben Boxern und
Turnlehrern auch
die Priester der Kunst. Dadurch unterschieden sie sich von ihren
Schwestern in
den größeren Städten, in denen die Barbarei heimisch ist.
Die
Ehe des Kapellmeisters glich einem stillen See mit ständiger kühler
Brise. Das
Kind schwamm vergnügt zwischen Vater und Mutter wie zwischen zwei
Häfen. Es
wurde niemals krank, es bekam nicht einmal Keuchhusten. Es weinte
nicht. Es
hatte keine Launen. Es hatte die ruhige, rauschfreie Milch seiner
Mutter
eingesogen und dementsprechend seinen Charakter gebildet. Es war ein
Muster von
einem kleinen Mädchen.
Es spielte mit Puppen aus Schwämmen, mit denen es gleichzeitig
gewaschen werden
konnte. Es sagte Papa und Mama und nannte alle Menschen mit
gleichmäßiger
Freundlichkeit Tante und Onkel.
Man
aß im Hause des Kapellmeisters viel Gemüse und Eier, Rahm und Früchte
und
manche Süßspeisen, die nach Papier schmeckten. Man trank bekömmliche
Tischweine
und erhob sich von den Mahlzeiten leicht wie ein Luftballon. Dennoch
schlief
der Kapellmeister nach dem Essen, er legte sich auf sein Sofa, aber es
schien,
als schliefe er nicht, als hätte er sich nur zurückgezogen, um allein
mit
seiner persönlichen Kultur zu sein.
Man
empfing und machte Besuche.
Innerhalb
der Stadt, die selbst ein Kulturzentrum war, gab es noch Häuser, die
kleinere
Kulturzentren waren. Es gab Künstler, die in Ateliers wohnten und die
Boheme
darstellten. Es gab einen Rechtsanwalt, der zu den jüdischen Festtagen
die
christlichen Mitbürger einlud und so wenigstens in den höheren Sphären
den
konfessionellen Frieden herstellte. Es gab einen christlichen Zeichner,
der von
jüdischen Ornamenten lebte und gegen angemessene Honorare die
Stammbäume aller alten
rheinischen Familien herstellte. Es gab einen Briefmarkensammler, der
alle paar
Wochen Ausstellungen seiner besten Markenexemplare veranstaltete,
verbunden mit
Festen, bei denen hie und da eine Ehe zustande kam. Es gab Nachfahren
alter
Dichter von der Zweiten romantischen Schule, bei denen man
interessante,
unveröffentlichte Briefe einsehen konnte. Es gab einen lebendigen
Lyriker von
Ruf, der ein Stübchen in einem Museum bewohnte, und einen alten
Professor, der
den ganzen Tag auf einem Kirchturm saß und das berühmte Glockenspiel
verursachte, das im Baedeker erwähnt wird. Es gab einen alten Friedhof,
auf dem
die Schüler der Zeichenakademie ganze Vormittage zubrachten, um die
malerischen
Grabsteine in Skizzenbüchern festzuhalten. Es gab ein paar alte,
historische
Brunnen, die der Magistrat eines Tages gesammelt und zu einer einzigen
Gruppe
im Stadtpark vereint hatte, der Bequemlichkeit halber und weil in
diesem Park schon
ohnehin ein Kriegerdenkmal im Jahre 1920 errichtet worden war und seit
dem
Jahre 1872 eine Bismarck-Eiche, von Stacheldraht umgeben, durch die
Sommer
rauschte. Außerdem gab es viele Inhaber von Fahrrädern, welche die
Automobile
des kleinen Mannes genannt werden.
Das
Ansehen, das der Kapellmeister genoß, übertrug sich schließlich auch
auf Franz,
der nur gelegentlich einiger Besuche von Sibirien erzählen mußte. Er
fügte zu
den fünfzig Quartseiten noch weitere dreißig. Er hatte schon eine Menge
Abenteuer erfunden, es war ihm ein leichtes, ein berühmter
Sibirienforscher zu
werden.
»Meine
vollkommene Untätigkeit«, schrieb er in sein Tagebuch, »bedrückt mich
in dieser
Stadt gar nicht. Und wenn ich hier noch weniger arbeiten würde, ich
käme mir
sehr nützlich vor.
Es
gibt keinen arbeitenden Menschen unter den Leuten, die ich sehe, es
seien denn
die Fabrikanten, nicht einmal die Geschäftsleute arbeiten. Es kommt mir
vor,
daß die Menschen mit den Füßen noch auf der Erde stehen, ihr ganzer
Unterleib
ist irdisch, aber von den Händen aufwärts leben sie nicht mehr in
irdischen
Luftschichten. Jeder besteht aus zwei Hälften. Eines jeden obere Hälfte
schämt
sich der unteren. Jeder hält seine Hände für bessere Gliedmaßen als
seine Füße.
Sie haben zwei Leben. Ihr Essen und Trinken und Lieben vollziehen die
unteren,
die minderwertigen Partien, ihren Beruf die oberen.
Wenn
Georg dirigiert, so ist er ein anderer Georg als jener, der mit seinen
kleinen
Anbeterinnen schläft. Gestern erzählte mir eine Dame, sie wäre im Kino
gewesen
und wenig hätte gefehlt und sie hätte ihr Gesicht verhüllt. Sie ging
ins Kino
nur mit der unteren, minderwertigen Körperpartie, sie sah den Film mit
einem
Paar vulgärer, zu niedrigen Zwecken verwendbarer Augen, die sie zur
Verfügung
hat wie ein Opernglas und ein Lorgnon. Ich schlief mit einer Frau, die
mich
nach einer Stunde weckte, um mich zu fragen, ob meine seelische Liebe
zu ihr
auch meiner körperlichen Leistungsfähigkeit entspreche. Denn ohne
Seelisches
käme sie sich >beschmutzt< vor. Ich mußte mich sehr schnell
anziehen, und
während ich meinen davongerollten Hemdknopf unter dem Bett suchte,
erklärte ich
ihr, daß meine Seele immer in jenen Körperteilen wohne, die ich gerade
zur
Ausübung irgendeiner Tätigkeit brauche. Also wenn ich spazierengehe, in
den
Füßen, und so weiter.
>Du
bist ein Zyniker<, sagte die Frau.
Unter
meinen dümmsten Kameraden in der Kadettenschule und später beim
Regiment habe
ich mich besser gefühlt. Die weiblichen Hilfskräfte zweiter Klasse aus
der
Etappe waren klüger als diese Damen. Die einzige Konzession, die sie an
die
Wirklichkeit machen, sind ihre Turnübungen jeden Morgen um sechs Uhr.
Da heißt
aber das Turnen auch nicht Turnen, sondern Eurhythmie. Sonst kämen sie
sich bei
jeder tiefen Kniebeuge beschmutzt vor.
Meine
Schwägerin erinnert mich an Natascha. Ich hätte mich niemals in
Natascha
verliebt, wenn ich den umgekehrten Weg gemacht hätte, aus dem Haus
meines
Bruders nach Rußland. Natascha hat der revolutionären Idee geopfert,
Klara
opfert teils der Kultur und teils der sozialen Gesinnung. Natascha aber
handelte offensichtlich gegen ihre Natur, während Klara sich überhaupt
nicht zu
überwinden braucht. Nichts fällt ihr leichter als dieses soziale
Empfinden, das
sie veranlaßt, die Gesundheit des Lakaien zu schonen, Kellner wie
Kriegskameraden zu behandeln und mich wie einen Milchbruder. Ich denke
manchmal, daß sie ein verzaubertes Wesen ist, sie könnte auf einen
gesunden Weg
gebracht werden, man könnte aus ihr eine Frau machen. Aber das ist
ebenso
unwahrscheinlich wie die Liebe zu einem Staubsauger, Vacuum genannt,
mit dem
sie hierzulande des Morgens über die Teppiche fahren.
Mein
Bruder spricht mir wahrscheinlich die moralische Berechtigung zu leben
ab, weil
ich keinen Beruf habe und kein Geld verdiene. Ich komme mir selbst
schuldbewußt
vor, weil ich sein Butterbrot esse. Übrigens könnte ich gar keinen
Beruf in
dieser Welt haben, es sei denn, man würde mich dafür bezahlen, daß ich
mich
über die Welt ärgere. Ich passe nicht einmal zu irgendeiner der
herrschenden Gesinnungen.
Vor
einigen Tagen habe ich eine Frau kennengelernt. Schriftstellerin und
Kommunistin. Sie hat einen rumänischen Kommunisten geheiratet,
ebenfalls einen
Schriftsteller, der mir talentlos und dumm vorkommt, der aber schlau
genug ist,
seine Dummheit in der kommunistischen Gesinnung zu verbergen und seine
Faulheit
mit Politik zu entschuldigen. Dieses Ehepaar lebt von den Subventionen
eines
kapitalistischen Onkels, eines Bankiers, und Aufsätzen für radikale
Zeitschriften. Die junge Frau trägt Schuhe mit niedrigen Absätzen und
verspottet
die Gesellschaft, von der sie lebt. Mit ihrer eigenen Tochter spricht
sie wie
die Leiterin einer Besserungsanstalt mit einem minderjährigen Zögling.
Man hält
sie für einen launischen Auswuchs der Familie und sieht ihr alle
Unarten nach.
Sie hat einen unwahrscheinlich überlegenen Blick, sie verkehrt mit
einigen
Literaten, kennt ein Berliner Nachtlokal und hat einmal, aus Protest
und der
Gesinnung wegen, in einem proletarischen
Viertel gelebt. Nach drei Monaten schickte ihr der Onkel Geld, und sie
zog nach
dem Westen. Seit jener Zeit kennt sie alle Höhen und Tiefen der
Gesellschaft
und schreibt Novellen aus dem Proletarierleben. Sagt man ihr
>Gnädige
Frau<, so bekommt man ihre Verachtung zu fühlen, und sagt man ihr
>Frau
Tedescu<, so ist sie schockiert. Mich verachtet sie schon von
vornherein,
weil ich nicht in Rußland geblieben bin. Sie weiß natürlich nicht, daß
ich im
Bürgerkrieg gekämpft habe, und würde es mir wahrscheinlich auch nie
glauben. Höflichkeit
hält sie für eine bürgerliche Gemeinheit. Ich habe eine besondere Art
von
Behandlung für sie erfunden. Ich drücke männlich ihre zarte, kleine
Hand,
schüttle sie, sage ihr >Genossin< und spreche unverblümt von
geschlechtlichen Dingen, die sie in ihren Novellen behandelt. Manchmal
ist sie
nahe am Weinen.
Ich
werde nur bei einer einzigen Gelegenheit warm und wehmütig; wenn ich an
Irene
denke. Es ist nicht einmal Irene, meine Braut, die ich gekannt habe,
als ich
noch ein dummer Oberleutnant und Bräutigam war. Es ist irgendeine
unbekannte
Frau, die ich liebe und von der ich nicht weiß, wo sie lebt.
Georg
sagte mir, er hätte gehört, sie wäre in Paris. In diesem Augenblick
wurde mir
kalt und warm, ich sah etwas leuchten, es war wie in Baku, als mir die
Dame die
lächerlichen Schaufenster von der Rue de la Paix nannte. Es ist so, als
wäre
ich mein ganzes Leben auf der Suche nach Irene und da und dort sagte
mir einer,
er hätte sie getroffen. Ich suche sie aber in Wirklichkeit ja nicht.
Ich sehne
mich auch nicht nach ihr.
Vielleicht ist sie etwas ganz anderes als die übrige Welt, und es ist
ein
letzter Rest von Gläubigkeit in mir, wenn ich an sie denke. Man müßte
vielleicht ein Schriftsteller sein, um das genau auszudrücken.
Manchmal
erscheint es mir notwendig, sie aufzusuchen. Ich müßte nach Paris
fahren,
vielleicht würde sie mir begegnen. Dazu müßte man Geld haben. Aber ich
kann es
nicht von Georg nehmen. Das ist eine lächerliche Hemmung. Er würde es
mir
wahrscheinlich geben und wäre obendrein noch sehr erfreut, daß ich ihn
verlasse. Aber für alle anderen Zwecke nähme ich Geld von Georg, nur
nicht für
diesen.
Und
es ist außerdem an der Zeit, daß ich etwas verdiene. In dieser
Weltordnung ist
es nicht wichtig, daß ich arbeite, aber es ist um so nötiger, daß ich
Geld
einnehme. Ein Mensch ohne Einkommen ist wie ein Mann ohne Namen oder
wie die
Schatten ohne Körper. Man kommt sich vor wie ein Gespenst. Das ist kein
Widerspruch zu dem, was ich oben geschrieben habe. Ich habe keine
Gewissensbisse wegen meiner Untätigkeit, sondern weil meine Untätigkeit
kein
Geld einbringt, während die Untätigkeit aller anderen gut bezahlt ist.
Geld
allein verleiht Existenzberechtigung.«
zurück
In
jener Zeit lebte ich in Berlin. Eines Tages sagte mir M.: »Ich habe
Irene
Hartmann getroffen. Ich habe sie gegrüßt. Sie erkannte mich aber nicht.
Ich
gehe zurück, denke, daß ich mich geirrt habe, und grüße wieder. Sie
erkennt
mich aber nicht.«
»Sie
haben sich bestimmt nicht geirrt?
»Nein!«
sagte M.
Ich
schrieb hierauf an Franz Tunda.
»Lieber
Freund«, schrieb ich ihm, »ich bin mir nicht klar über den Grund Deiner
Rückkehr. Du weißt es ja selbst nicht. Sollte es aber Irene sein, die
Du finden willst
- Herr M. hat sie vor kurzer Zeit in Berlin getroffen.«
Nach
einigenTagen kam Tunda.
Er
gefiel mir außerordentlich.
Es
dauert sehr lange, ehe die Menschen ihr Angesicht finden. Es ist, als
wären sie
nicht mit ihren Gesichtern geboren, nicht mit ihren Stirnen, nicht mit
ihren
Nasen, nicht mit ihren Augen. Sie erwerben sich alles im Laufe der
Zeit, und es
dauert, man muß Geduld haben, bis sie das Passende zusammensuchen.
Tunda war
jetzt erst mit seinem Angesicht fertig geworden. Seine rechte
Augenbraue war
höher als die linke. Dadurch bekam er den Ausdruck eines ständig
erstaunten,
über die sonderbaren Zustände dieser Welt hochmütig verwunderten
Mannes, er hatte
das Gesicht eines sehr vornehmen Menschen, der mit unmanierlichen
Leuten an
einem Tisch sitzen muß und ihr Gebaren mit herablassender, geduldiger,
aber
keineswegs nachsichtiger Neugier beobachtet. Sein Blick war
gleichzeitig schlau
und duldsam. Er schaute wie ein Mensch, der manche Schmerzen in Kauf
nimmt, um
Erfahrungen zu sammeln. Er sah so klug aus, daß man ihn fast für gütig
halten
konnte. In Wirklichkeit aber schien er mir schon jenen Grad der
Klugheit zu besitzen,
der einen Mann gleichgültig macht.
»Du
willst also Irene sehen?«
»Ja«,
sagte er. »Als ich deinen Brief erhielt, wollte ich sie sehen. Jetzt
ist es mir
wieder sehr zweifelhaft. Vielleicht würde es mir genügen, sie
anzuschauen und
dann zufrieden weiterzugehen.«
»Nehmen
wir den Fall, du träfst mit ihr zusammen: sie glücklich verheiratet,
liebt
wahrscheinlich ihren Mann mit jener Liebe, die sich zusammensetzt aus
Gewohnheit, Dankbarkeit, gemeinsam erlebten Ähnlichkeiten, aus der
körperlichen
Erfahrung, die von den zahlreichen Liebesstunden kommt, aus den
zeitweilig
hervorbrechenden Leidenschaften, aus der Vertrautheit, in der es keine
Scham
mehr gibt - glaubst du, sie würde einfach aus dankbarer Erinnerung an
eine
verschüttete Brautzeit an deinen Hals fliegen? Liebst du sie denn mit
der Leidenschaft,
die sie dazu berechtigen würde? Wäre es dir vor allem erwünscht?«
»Das
sind Dinge«, sagte Tunda, »die sich erst ereignen müßten, damit ich
ihre
Berechtigung erfahre. Wenn ich zu Irene rechtzeitig zurückgekehrt wäre,
hätte
mein Leben anders ausgesehen. Lauter Zufälle haben mich daran
gehindert. Ich
will dir gestehen, daß ich mir Vorwürfe mache. Ich werfe mir vor, daß
ich mich
wehrlos den Zufällen ausgeliefert habe. Jetzt ist es mir, als müßte ich
Irene
suchen, um mich zu rehabilitieren. In Wirklichkeit weiß ich nicht, was
ich
soll. Man muß doch ein Ziel haben ?«
»Immer
noch besser ein Ziel«, erwiderte ich, »als ein sogenanntes Ideal.«
»Immer
noch besser«, sagte Tunda, »wenn es wirklich ein Ziel wäre.«
Wir
erfuhren, daß Irene drei Wochen im Hotel Bellevue gewohnt hatte und
nach Paris abgereist war.
»Ich
werde hinfahren«, sagte Tunda.
zurück
Er
kam auf den Einfall, seine sibirischen Erfindungen drucken zu lassen.
Dieses
Buch war nicht beendet. Ich schrieb ein Nachwort, in dem ich mitteilte,
daß der
Autor in Sibirien verschollen und daß mir das Manuskript auf eine
wunderbare
Weise in die Hände gekommen sei.
Es
erschien unter dem Namen Baranowicz, in der Übersetzung von Tunda. Es
erschien in einem großen Berliner Verlag.
Ich
entsinne mich noch, wie Tunda überrascht war von den Straßen, den
Häusern. Er
sah die unwahrscheinlichen Ereignisse und Tatsachen, weil ihm auch die
gewöhnlichen merkwürdig erschienen. Er saß auf den Dächern der
Autobusse. Er
stand vor jedem der hundert grauenhaften hölzernen Pfeile, die in
Berlin
Richtungen anempfehlen und verbieten. Er besaß die unheimliche
Fähigkeit, den
unheimlich vernünftigen Wahnsinn dieser Stadt zu begreifen. Er hatte
beinahe Irene vergessen.
»Diese
Stadt«, so sagte er, »liegt außerhalb Deutschlands, außerhalb Europas.
Sie ist
die Hauptstadt ihrer selbst. Sie nährt sich nicht vom Lande. Sie
bezieht nichts
von der Erde, auf der sie erbaut ist. Sie verwandelt diese Erde in
Asphalt,
Ziegel und Mauer. Sie spendet mit ihren Häusern dem Flachland Schatten,
sie
liefert aus ihren Fabriken dem Flachland Brot, sie bestimmt die Sprache
des
flachen Landes, die nationalen Sitten,
die nationalen Trachten. Es ist der Inbegriff einer Stadt. Das Land
verdankt
ihr seine Existenz und geht gleichsam aus Dankbarkeit in ihr auf. Sie
hat ihre eigene
Tierwelt im zoologischen Garten und im Aquarium, im Vogelhaus und im
Affenhaus,
ihre eigenen Pflanzen im botanischen Garten, ihre eigenen Felder aus
Sand, auf
denen Fundamente gesät werden und Fabriken aufgehen, sie hat sogar ihre
eigenen
Häfen, ihr Fluß ist ein Meer, sie ist ein Kontinent. Sie allein von
allen
Städten, die ich bis jetzt gesehen habe, hat Humanität aus Mangel an
Zeit und
anderen praktischen Gründen. In ihr würden viel mehr Menschen umkommen,
wenn
nicht tausend vorsichtige, fürsorgliche Einrichtungen Leben und
Gesundheit
schützten, nicht weil das
Herz es befiehlt, sondern weil ein Unfall eine Verkehrsstörung
bedeutet, Geld
kostet und die Ordnung verletzt. Diese Stadt hat den Mut gehabt, in
einem
häßlichen Stil erbaut zu sein, und das gibt ihr den Mut zur weiteren
Häßlichkeit. Sie stellt Pfeiler, Hölzer, Planken, ekelhafte, gläserne,
bunte,
von innen beleuchtete Kröten an die Straßenränder, in die Kreuzungen,
auf die
Plätze. Ihre Verkehrspolizisten stehen mit metallenen Signalen da, die
wie eben
und provisorisch von der Eisenbahnverwaltung ausgeliehen sind, und
tragen dabei
gespenstisch weiße Handschuhe.
Außerdem
duldet sie noch in sich die deutsche Provinz, freilich, um sie eines
Tages
aufzufressen. Sie nährt die Düsseldorfer, die Kölner, die Breslauer, um
sich
von ihnen zu nähren. Sie hat keine eigene Kultur in dem Sinne wie
Breslau,
Köln, Frankfurt, Königsberg. Sie hat keine Religion. Sie hat die
häßlichsten
Gotteshäuser der Welt. Sie hat keine Gesellschaft. Aber sie hat alles,
was überall
in allen anderen Städten erst
durch die Gesellschaft entsteht: Theater, Kunst, Börse, Handel, Kino,
Untergrundbahn.«
Wir
sahen in einigen Tagen: einen Amokläufer und eine Prozession; eine
Filmpremiere, eine Filmaufnahme, den Todessprung eines Artisten „Unter
den
Linden“, einen Überfallenen, das Asyl für Obdachlose, eine Liebesszene
im
Tiergarten am hellichten Tag, rollende Litfaßsäulen, von Eseln gezogen,
dreizehn Lokale für homosexuelle und lesbische Paare, ein schüchternes,
normales Paar zwischen vierzehn und sechzehn, das seine Namen in die
Bäume
schnitt und von einem Wachtmeister aufgeschrieben wurde, weil es eine
Beschädigung öffentlichen Gutes verübte, einen Mann, der Strafe zahlte,
weil er
quer über einen Platz gegangen war statt im rechten Winkel, eine
Versammlung der
Zwiebelessersekte und die Heilsarmee.
Ich
führte meinen Freund Tunda auch in das Lokal der Künstler. Es war die
Zeit, in
der die Literaten, die Schauspieler, die Filmregisseure, die Maler
wieder Geld
verdienten. Es war die Zeit nach der Stabilisierung des deutschen
Geldes, in
der neue Bankkontos angelegt wurden,
sogar die radikalsten Zeitschriften gut bezahlte Inserate hatten und
die
radikalen Schriftsteller in den literarischen Beilagen der
Ich
zeigte Tunda alle berühmten Leute: den Schriftsteller, der mit schönem,
frühgebleichtem Haar dasaß, mit silbernem, wie von einem Juwelier
verfertigtem
Kopf, der die sanften Bosheiten verfaßte und dessen Stil zu einer
Hälfte aus
gutem Geschmack und zur anderen aus Furcht vor Sentimentalität bestand;
den Herausgeber
einer Zeitung, der seine Herzensgüte jedem offerierte - auch denen, die
nicht
auf sie reflektierten -, statt des schriftstellerischen Ehrgeizes eine
gewöhnliche männliche
Eitelkeit besaß und der, mit einer großen Geschicklichkeit für
Börsengeschäfte
begabt, Geld verdiente und die Großindustrie bekämpfte; den bekannten
Zeichner,
der, von mittelmäßigem Talent, so lange alle Berühmtheiten zeichnete,
bis sie
nicht umhin konnten, ihren eigenen Glanz auf ihn zurückzustrahlen; den
revolutionären Autor revolutionärer Erzählungen, der, ein Opfer der
Justiz,
drei Monate gesessen hatte für die Freiheit, für die Gerechtigkeit, für
eine
neue Welt - und nichts anderes erreicht hatte als seinen eigenen Ruhm,
der vorläufig
auch nicht schaden konnte.
Ich
zeigte Tunda die nachdrängende, immer wieder sich erneuernde Jugend,
die mit
dem Hochmut der Späterkommenden die bereits Anwesenden grüßte, fremde
Erfolge
erörterte, um für die eigenen zu profitieren, Monokel trug und bunte
Krawatten,
an die Nachkommenschaft reicher Bankiers erinnerte und vor der Wahl,
der Enkel
einer jüdischen
Großmutter oder der uneheliche Sohn eines Hohenzollernprinzen zu sein,
noch unentschlossen schwankte.
Ich
zeigte Tunda alle, die mich verachten und die ich grüßen muß, weil ich
vom Schreiben lebe.
Am
nächsten Tag schickte Tunda Geld: seiner Frau nach Baku und Baranowicz
nach Irkutsk. An Baranowicz schrieb er einen ausführlichen Brief.
Erst
am 27. August sollte ich ihn in Paris wiedersehen.
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