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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen







Die Flucht ohne Ende - Seite 6
Ein Bericht 1927


XX


Nachdem die Gäste fort waren, blieben die Brüder allein in einem Zimmer; allein, wenn man Bilder, Götter und Heilige nicht mitzählt. Tunda war an diese stillen Lauscher nicht gewöhnt. Was mich betrifft, so mache ich mir selbst aus Lakaien nichts, die hinter meinem Sessel stehen und meine Haare zählen. Im Hause des Kapellmeisters hätte es Lakaien sicherlich gegeben, wenn nicht die soziale Gesinnung der Frau Klara gewesen wäre. Es widerstrebte ihr offenbar, Menschen zu entwürdigen.
 
Bei Göttern aber machte es nichts.
 
Übrigens befand sich in dem Zimmer, in dem sie saßen, von Frau Klara hingestellt, eine jener praktischen Erfindungen, die man das Entzücken der Hausfrau nennt.
 
Es war eine merkwürdige Lampe, eine sanfte, auf einem Sockel stehende Lampe, deren Licht durch mehrere kleine, gleichmäßig im Kreis an ihrem zarten, durchsichtigen Leib angebrachte Löcher drang. Aber diese Lampe hatte nicht etwa den Zweck zu leuchten, es war vielmehr ihre Aufgabe, den Rauch zu verschlingen, der sich im Laufe des Abends im Zimmer angesammelt hatte. Diese Lampe ersparte offene Fenster, Zugwind, Verkühlungen und schließlich den Arzt. Derlei ausgezeichnete Erfindungen werden in Deutschland und in Amerika jedes Jahr gemacht. Der Kapellmeister benützte auch eine: Er rauchte nämlich nikotinfreie Zigaretten. Und selbst deren Rauch wurde von der Zauberlampe aufgesogen.
 
Es war ein hygienisches Haus ohnegleichen.
 
»Gute Nacht!« sagte Klara, nachdem sie die Lampe hingestellt hatte, ging hin und gab ihrem Mann einen herzhaften Kuß auf die Stirn. Es war ein erotinfreier Kuß. Franz bekam einen gleichen und geriet trotzdem in Aufregung. Er schob den Sessel, wollte aufstehen, aber seine Schwägerin drückte ihn bei den Schultern zurück.
 
So blieben nun die beiden Brüder und sollten zum erstenmal miteinander sprechen.
 
Der Kapellmeister, dessen Geschicklichkeit über schwierige Anfänge hinüberzugleiten bekannt war, ergriff als erster das Wort und sagte sehr vernünftig das Nächstliegende:
 
»Wie gefällt dir unsere Stadt?«
 
Nichts ist so ansteckend wie gesellige Höflichkeit. Franz unterdrückte den wichtigsten und größten Teil seiner Meinung und erwiderte:
 
»Ich habe sie mir viel lustiger, lebendiger, also rheinischer vorgestellt.«
 
»Sie hat eine angenehme, ruhige Bevölkerung. Die Arbeiterschaft ist hier nicht so radikalisiert wie in anderen Gegenden. Der Oberbürgermeister ist Mitglied der Deutschen Volkspartei, der Erste und der Zweite Bürgermeister sind Sozialdemokraten. In meinem Orchester sind auch fünf Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei. Der Bassist ist sogar sehr gut.«
 
»Weshalb wunderst du dich darüber?« fragte Franz. »Weshalb sollte die Partei einen hindern, ein guter Bassist zu sein?«
 
»Doch«, sagte der Kapellmeister, »eine politische Aktivität ist der Kunst abträglich. Kunst ist etwas Heiliges, dem Tag Abgewandtes. Wer ihr dient, übt eine Art Priesterberuf aus. Kannst du dir vorstellen, daß man eine politische Rede hält und dann >Parsifal< dirigiert?«
 
»Ich kann mir vorstellen«, sagte Franz, »daß unter Umständen eine politische Rede ebenso wichtig ist wie >Parsifal<. Ein guter Politiker kann so wichtig sein wie ein guter Musiker. Ein Priester ist er allerdings nicht. Ein Konzertsaal ist ebensowenig ein Tempel der Kunst wie ein Versammlungslokal ein Tempel der Politik.«
 
»Du hast keine europäischen Anschauungen mehr«, sagte der Kapellmeister sanft und leise wie ein Nervenarzt. »Ähnliche Anschauungen haben leider auch schon einen großen Teil von Deutschland ergriffen. Sie gehen von Berlin aus. Aber hier am Rhein gibt es noch ein paar alte Festungen der alten bürgerlichen Kultur. Unsere Traditionen reichen vom Altertum über das katholische Mittelalter, den Humanismus, die Renaissance, die deutsche Romantik. - -«
 
»Ist das europäische Kultur?« fragte Franz und zeigte auf die Buddhas, die Polster, die breiten und tiefen Sofas, die orientalischen Teppiche.
 
»Ihr habt, scheint es mir, einige Anleihen gemacht. Deine Gäste haben heute einige Negertänze getanzt, die wahrscheinlich nicht im >Parsifal< vorkommen. Ich verstehe nicht, wie du noch von europäischer Kultur sprechen kannst. Wo ist sie? In den Kleidern der Damen? Hat der Fabrikant, der heute bei dir war, europäische Kultur? Er gefällt mir übrigens besser als die anderen, denn er verachtet euch. Diese alte Kultur hat tausend Löcher bekommen. Ihr stopft die Löcher mit Anleihen aus Asien, Afrika, Amerika. Die Löcher werden immer größer. Ihr aber behaltet die europäische Uniform, den Smoking und die weiße Hautfarbe und wohnt in Moscheen und indischen Tempeln. Wenn ich du wäre, würde ich einen Burnus tragen.«
 
»Wir machen ein paar Konzessionen«, sagte der Kapellmeister, »nichts mehr. Die Welt ist kleiner geworden, Afrika, Asien und Amerika sind uns näher. Man hat zu allen Zeiten fremde Sitten übernommen und sie der Kultur eingefügt.«
 
»Wo aber ist die Kultur, der ihr sie einfügen wollt? Ihr habt ja lauter Attrappen einer alten Kultur. Sind die Studenten mit den farbigen und schlechtsitzenden Mützen alte deutsche Kultur? Ist es euer Bahnhof, dessen größtes Wunder es ist, daß Züge von ihm abgehen und in ihm ankommen? Ist Kultur in euren Weinstuben, wo man >Ein rheinisches Mädchen< singt, wenn man besoffen ist, und Charleston tanzt, wenn man nüchtern ist? Ist alte Kultur in euren trauten Giebeldächern, in denen Arbeiter wohnen, keine Handwerker, keine Goldschmiede, keine Uhrmacher, keine Meistersinger, sondern Proletarier, die in Bergwerken leben und in elektrischen Fahrstühlen zu Hause sind, aber nicht zwischen den unleserlichen gotischen Buchstaben? Das ist ja ein Maskenfest und keine Wirklichkeit! Ihr kommt ja aus den Kostümen nicht heraus! Heute sah ich einen Feuerwehrmann in blendender Uniform einen Kinderwagen schieben. Es brannte nicht, weit und breit war es ruhig. War das ein Kindermädchen, das sich als Feuerwehrmann verkleidet hatte, oder ein Feuerwehrmann, der ein Kindermädchen darstellen wollte? Es kamen Studenten mit Mützen aus Tuch und dann Bürger mit Studentenmützen aus Papier. Waren die Studenten verkleidet oder die Bürger? Dann sah ich ein paar junge Leute in Samtkappen, mit Seemannshosen, ich fragte einen Kellner, der sagte mir, es wäre alte Zimmermannskleidung. Ist denn das so? Macht man Särge und Kinderwiegen mit Samtmützen auf dem Kopf? Wandert man noch mit Bündeln über Landstraßen, wo es doch fast keine Landstraßen mehr gibt und nur Automobile und Flugzeuge?«
 
»Du hast viel an einem Tag gesehen«, sagte der konziliante Kapellmeister, »ich gehe niemals auf die Straße.«
 
»Warum nicht? Es interessiert dich nicht? Paßt es dir nicht, weil du ein Priester der Kunst bist, dich unter das Volk zu mischen? Bist du zufrieden zwischen deinen Weihbecken und Bildern und deiner alten Kultur? Erfährst du alles nur aus den Zeitungen?«
 
»Ich lese keine Zeitungen!« lächelte der Kapellmeister. »lch lese nur musikalische Angelegenheiten.«
 
»Da wußte ich sogar in der Kadettenschule mehr von der Welt als du!« sagte Franz. »Übrigens haben wir ein ganzes Leben nichts miteinander geredet. Jetzt haben wir nichts Besseres zu tun, als Politik zu besprechen, als hätten wir uns in einem Kupee getroffen.«
 
„Du bist also nicht einmal im Schlafwagen gefahren? rief der Kapellmeister erschüttert.
 
Sie hatten nichts miteinander zu reden, wenn sie die Dinge der Allgemeinheit außer acht ließen, wie sich bald darauf erwies.
 
Selbst dem konzilianten Kapellmeister fiel gar nichts ein. Endlich entschloß er sich zu fragen:
 
»Hast du was von Irene gehört?«
 
»Sie soll geheiratet haben«, sagte Franz.
 
»Ich habe gehört, daß sie in Paris lebt«, sagte Georg.
 
Dann gingen sie schlafen.

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XXI

Manchmal fuhr der Kapellmeister in die nächste kleinere oder größere Stadt am Rhein, blieb einige Tage fort und kam blaß und erholungsbedürftig zurück.
 
»Er muß Klimawechsel haben, der arme Georg«, sagte Klara.
 
»Ich brauche Entspannung«, sagte der Kapellmeister.
 
Er fuhr, wie sich bald herausstellte, zu Liebeszwecken. Er erinnert an einen Vogel, der von Ast zu Ast hüpft und überall ein Liedchen schmettert. Die jungen Mädchen in den alten Kulturzentren verehren neben Boxern und Turnlehrern auch die Priester der Kunst. Dadurch unterschieden sie sich von ihren Schwestern in den größeren Städten, in denen die Barbarei heimisch ist.
 
Die Ehe des Kapellmeisters glich einem stillen See mit ständiger kühler Brise. Das Kind schwamm vergnügt zwischen Vater und Mutter wie zwischen zwei Häfen. Es wurde niemals krank, es bekam nicht einmal Keuchhusten. Es weinte nicht. Es hatte keine Launen. Es hatte die ruhige, rauschfreie Milch seiner Mutter eingesogen und dementsprechend seinen Charakter gebildet. Es war ein Muster von einem kleinen Mädchen. Es spielte mit Puppen aus Schwämmen, mit denen es gleichzeitig gewaschen werden konnte. Es sagte Papa und Mama und nannte alle Menschen mit gleichmäßiger Freundlichkeit Tante und Onkel.
 
Man aß im Hause des Kapellmeisters viel Gemüse und Eier, Rahm und Früchte und manche Süßspeisen, die nach Papier schmeckten. Man trank bekömmliche Tischweine und erhob sich von den Mahlzeiten leicht wie ein Luftballon. Dennoch schlief der Kapellmeister nach dem Essen, er legte sich auf sein Sofa, aber es schien, als schliefe er nicht, als hätte er sich nur zurückgezogen, um allein mit seiner persönlichen Kultur zu sein.
 
Man empfing und machte Besuche.
 
Innerhalb der Stadt, die selbst ein Kulturzentrum war, gab es noch Häuser, die kleinere Kulturzentren waren. Es gab Künstler, die in Ateliers wohnten und die Boheme darstellten. Es gab einen Rechtsanwalt, der zu den jüdischen Festtagen die christlichen Mitbürger einlud und so wenigstens in den höheren Sphären den konfessionellen Frieden herstellte. Es gab einen christlichen Zeichner, der von jüdischen Ornamenten lebte und gegen angemessene Honorare die Stammbäume aller alten rheinischen Familien herstellte. Es gab einen Briefmarkensammler, der alle paar Wochen Ausstellungen seiner besten Markenexemplare veranstaltete, verbunden mit Festen, bei denen hie und da eine Ehe zustande kam. Es gab Nachfahren alter Dichter von der Zweiten romantischen Schule, bei denen man interessante, unveröffentlichte Briefe einsehen konnte. Es gab einen lebendigen Lyriker von Ruf, der ein Stübchen in einem Museum bewohnte, und einen alten Professor, der den ganzen Tag auf einem Kirchturm saß und das berühmte Glockenspiel verursachte, das im Baedeker erwähnt wird. Es gab einen alten Friedhof, auf dem die Schüler der Zeichenakademie ganze Vormittage zubrachten, um die malerischen Grabsteine in Skizzenbüchern festzuhalten. Es gab ein paar alte, historische Brunnen, die der Magistrat eines Tages gesammelt und zu einer einzigen Gruppe im Stadtpark vereint hatte, der Bequemlichkeit halber und weil in diesem Park schon ohnehin ein Kriegerdenkmal im Jahre 1920 errichtet worden war und seit dem Jahre 1872 eine Bismarck-Eiche, von Stacheldraht umgeben, durch die Sommer rauschte. Außerdem gab es viele Inhaber von Fahrrädern, welche die Automobile des kleinen Mannes genannt werden.
 
Das Ansehen, das der Kapellmeister genoß, übertrug sich schließlich auch auf Franz, der nur gelegentlich einiger Besuche von Sibirien erzählen mußte. Er fügte zu den fünfzig Quartseiten noch weitere dreißig. Er hatte schon eine Menge Abenteuer erfunden, es war ihm ein leichtes, ein berühmter Sibirienforscher zu werden.
 
»Meine vollkommene Untätigkeit«, schrieb er in sein Tagebuch, »bedrückt mich in dieser Stadt gar nicht. Und wenn ich hier noch weniger arbeiten würde, ich käme mir sehr nützlich vor.
 
Es gibt keinen arbeitenden Menschen unter den Leuten, die ich sehe, es seien denn die Fabrikanten, nicht einmal die Geschäftsleute arbeiten. Es kommt mir vor, daß die Menschen mit den Füßen noch auf der Erde stehen, ihr ganzer Unterleib ist irdisch, aber von den Händen aufwärts leben sie nicht mehr in irdischen Luftschichten. Jeder besteht aus zwei Hälften. Eines jeden obere Hälfte schämt sich der unteren. Jeder hält seine Hände für bessere Gliedmaßen als seine Füße. Sie haben zwei Leben. Ihr Essen und Trinken und Lieben vollziehen die unteren, die minderwertigen Partien, ihren Beruf die oberen.
 
Wenn Georg dirigiert, so ist er ein anderer Georg als jener, der mit seinen kleinen Anbeterinnen schläft. Gestern erzählte mir eine Dame, sie wäre im Kino gewesen und wenig hätte gefehlt und sie hätte ihr Gesicht verhüllt. Sie ging ins Kino nur mit der unteren, minderwertigen Körperpartie, sie sah den Film mit einem Paar vulgärer, zu niedrigen Zwecken verwendbarer Augen, die sie zur Verfügung hat wie ein Opernglas und ein Lorgnon. Ich schlief mit einer Frau, die mich nach einer Stunde weckte, um mich zu fragen, ob meine seelische Liebe zu ihr auch meiner körperlichen Leistungsfähigkeit entspreche. Denn ohne Seelisches käme sie sich >beschmutzt< vor. Ich mußte mich sehr schnell anziehen, und während ich meinen davongerollten Hemdknopf unter dem Bett suchte, erklärte ich ihr, daß meine Seele immer in jenen Körperteilen wohne, die ich gerade zur Ausübung irgendeiner Tätigkeit brauche. Also wenn ich spazierengehe, in den Füßen, und so weiter.
 
>Du bist ein Zyniker<, sagte die Frau.
 
Unter meinen dümmsten Kameraden in der Kadettenschule und später beim Regiment habe ich mich besser gefühlt. Die weiblichen Hilfskräfte zweiter Klasse aus der Etappe waren klüger als diese Damen. Die einzige Konzession, die sie an die Wirklichkeit machen, sind ihre Turnübungen jeden Morgen um sechs Uhr. Da heißt aber das Turnen auch nicht Turnen, sondern Eurhythmie. Sonst kämen sie sich bei jeder tiefen Kniebeuge beschmutzt vor.
 
Meine Schwägerin erinnert mich an Natascha. Ich hätte mich niemals in Natascha verliebt, wenn ich den umgekehrten Weg gemacht hätte, aus dem Haus meines Bruders nach Rußland. Natascha hat der revolutionären Idee geopfert, Klara opfert teils der Kultur und teils der sozialen Gesinnung. Natascha aber handelte offensichtlich gegen ihre Natur, während Klara sich überhaupt nicht zu überwinden braucht. Nichts fällt ihr leichter als dieses soziale Empfinden, das sie veranlaßt, die Gesundheit des Lakaien zu schonen, Kellner wie Kriegskameraden zu behandeln und mich wie einen Milchbruder. Ich denke manchmal, daß sie ein verzaubertes Wesen ist, sie könnte auf einen gesunden Weg gebracht werden, man könnte aus ihr eine Frau machen. Aber das ist ebenso unwahrscheinlich wie die Liebe zu einem Staubsauger, Vacuum genannt, mit dem sie hierzulande des Morgens über die Teppiche fahren.
 
Mein Bruder spricht mir wahrscheinlich die moralische Berechtigung zu leben ab, weil ich keinen Beruf habe und kein Geld verdiene. Ich komme mir selbst schuldbewußt vor, weil ich sein Butterbrot esse. Übrigens könnte ich gar keinen Beruf in dieser Welt haben, es sei denn, man würde mich dafür bezahlen, daß ich mich über die Welt ärgere. Ich passe nicht einmal zu irgendeiner der herrschenden Gesinnungen.
 
Vor einigen Tagen habe ich eine Frau kennengelernt. Schriftstellerin und Kommunistin. Sie hat einen rumänischen Kommunisten geheiratet, ebenfalls einen Schriftsteller, der mir talentlos und dumm vorkommt, der aber schlau genug ist, seine Dummheit in der kommunistischen Gesinnung zu verbergen und seine Faulheit mit Politik zu entschuldigen. Dieses Ehepaar lebt von den Subventionen eines kapitalistischen Onkels, eines Bankiers, und Aufsätzen für radikale Zeitschriften. Die junge Frau trägt Schuhe mit niedrigen Absätzen und verspottet die Gesellschaft, von der sie lebt. Mit ihrer eigenen Tochter spricht sie wie die Leiterin einer Besserungsanstalt mit einem minderjährigen Zögling. Man hält sie für einen launischen Auswuchs der Familie und sieht ihr alle Unarten nach. Sie hat einen unwahrscheinlich überlegenen Blick, sie verkehrt mit einigen Literaten, kennt ein Berliner Nachtlokal und hat einmal, aus Protest und der Gesinnung wegen, in einem proletarischen Viertel gelebt. Nach drei Monaten schickte ihr der Onkel Geld, und sie zog nach dem Westen. Seit jener Zeit kennt sie alle Höhen und Tiefen der Gesellschaft und schreibt Novellen aus dem Proletarierleben. Sagt man ihr >Gnädige Frau<, so bekommt man ihre Verachtung zu fühlen, und sagt man ihr >Frau Tedescu<, so ist sie schockiert. Mich verachtet sie schon von vornherein, weil ich nicht in Rußland geblieben bin. Sie weiß natürlich nicht, daß ich im Bürgerkrieg gekämpft habe, und würde es mir wahrscheinlich auch nie glauben. Höflichkeit hält sie für eine bürgerliche Gemeinheit. Ich habe eine besondere Art von Behandlung für sie erfunden. Ich drücke männlich ihre zarte, kleine Hand, schüttle sie, sage ihr >Genossin< und spreche unverblümt von geschlechtlichen Dingen, die sie in ihren Novellen behandelt. Manchmal ist sie nahe am Weinen.
 
Ich werde nur bei einer einzigen Gelegenheit warm und wehmütig; wenn ich an Irene denke. Es ist nicht einmal Irene, meine Braut, die ich gekannt habe, als ich noch ein dummer Oberleutnant und Bräutigam war. Es ist irgendeine unbekannte Frau, die ich liebe und von der ich nicht weiß, wo sie lebt.
 
Georg sagte mir, er hätte gehört, sie wäre in Paris. In diesem Augenblick wurde mir kalt und warm, ich sah etwas leuchten, es war wie in Baku, als mir die Dame die lächerlichen Schaufenster von der Rue de la Paix nannte. Es ist so, als wäre ich mein ganzes Leben auf der Suche nach Irene und da und dort sagte mir einer, er hätte sie getroffen. Ich suche sie aber in Wirklichkeit ja nicht. Ich sehne mich auch nicht nach ihr. Vielleicht ist sie etwas ganz anderes als die übrige Welt, und es ist ein letzter Rest von Gläubigkeit in mir, wenn ich an sie denke. Man müßte vielleicht ein Schriftsteller sein, um das genau auszudrücken.
 
Manchmal erscheint es mir notwendig, sie aufzusuchen. Ich müßte nach Paris fahren, vielleicht würde sie mir begegnen. Dazu müßte man Geld haben. Aber ich kann es nicht von Georg nehmen. Das ist eine lächerliche Hemmung. Er würde es mir wahrscheinlich geben und wäre obendrein noch sehr erfreut, daß ich ihn verlasse. Aber für alle anderen Zwecke nähme ich Geld von Georg, nur nicht für diesen.
 
Und es ist außerdem an der Zeit, daß ich etwas verdiene. In dieser Weltordnung ist es nicht wichtig, daß ich arbeite, aber es ist um so nötiger, daß ich Geld einnehme. Ein Mensch ohne Einkommen ist wie ein Mann ohne Namen oder wie die Schatten ohne Körper. Man kommt sich vor wie ein Gespenst. Das ist kein Widerspruch zu dem, was ich oben geschrieben habe. Ich habe keine Gewissensbisse wegen meiner Untätigkeit, sondern weil meine Untätigkeit kein Geld einbringt, während die Untätigkeit aller anderen gut bezahlt ist. Geld allein verleiht Existenzberechtigung.«

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XXII

In jener Zeit lebte ich in Berlin. Eines Tages sagte mir M.: »Ich habe Irene Hartmann getroffen. Ich habe sie gegrüßt. Sie erkannte mich aber nicht. Ich gehe zurück, denke, daß ich mich geirrt habe, und grüße wieder. Sie erkennt mich aber nicht.«

»Sie haben sich bestimmt nicht geirrt?
 
»Nein!« sagte M.
 
Ich schrieb hierauf an Franz Tunda.
 
»Lieber Freund«, schrieb ich ihm, »ich bin mir nicht klar über den Grund Deiner Rückkehr. Du weißt es ja selbst nicht. Sollte es aber Irene sein, die Du finden willst - Herr M. hat sie vor kurzer Zeit in Berlin getroffen.«
 
Nach einigenTagen kam Tunda.
 
Er gefiel mir außerordentlich.
 
Es dauert sehr lange, ehe die Menschen ihr Angesicht finden. Es ist, als wären sie nicht mit ihren Gesichtern geboren, nicht mit ihren Stirnen, nicht mit ihren Nasen, nicht mit ihren Augen. Sie erwerben sich alles im Laufe der Zeit, und es dauert, man muß Geduld haben, bis sie das Passende zusammensuchen. Tunda war jetzt erst mit seinem Angesicht fertig geworden. Seine rechte Augenbraue war höher als die linke. Dadurch bekam er den Ausdruck eines ständig erstaunten, über die sonderbaren Zustände dieser Welt hochmütig verwunderten Mannes, er hatte das Gesicht eines sehr vornehmen Menschen, der mit unmanierlichen Leuten an einem Tisch sitzen muß und ihr Gebaren mit herablassender, geduldiger, aber keineswegs nachsichtiger Neugier beobachtet. Sein Blick war gleichzeitig schlau und duldsam. Er schaute wie ein Mensch, der manche Schmerzen in Kauf nimmt, um Erfahrungen zu sammeln. Er sah so klug aus, daß man ihn fast für gütig halten konnte. In Wirklichkeit aber schien er mir schon jenen Grad der Klugheit zu besitzen, der einen Mann gleichgültig macht.
 
»Du willst also Irene sehen?«
 
»Ja«, sagte er. »Als ich deinen Brief erhielt, wollte ich sie sehen. Jetzt ist es mir wieder sehr zweifelhaft. Vielleicht würde es mir genügen, sie anzuschauen und dann zufrieden weiterzugehen.«
 
»Nehmen wir den Fall, du träfst mit ihr zusammen: sie glücklich verheiratet, liebt wahrscheinlich ihren Mann mit jener Liebe, die sich zusammensetzt aus Gewohnheit, Dankbarkeit, gemeinsam erlebten Ähnlichkeiten, aus der körperlichen Erfahrung, die von den zahlreichen Liebesstunden kommt, aus den zeitweilig hervorbrechenden Leidenschaften, aus der Vertrautheit, in der es keine Scham mehr gibt - glaubst du, sie würde einfach aus dankbarer Erinnerung an eine verschüttete Brautzeit an deinen Hals fliegen? Liebst du sie denn mit der Leidenschaft, die sie dazu berechtigen würde? Wäre es dir vor allem erwünscht?«
 
»Das sind Dinge«, sagte Tunda, »die sich erst ereignen müßten, damit ich ihre Berechtigung erfahre. Wenn ich zu Irene rechtzeitig zurückgekehrt wäre, hätte mein Leben anders ausgesehen. Lauter Zufälle haben mich daran gehindert. Ich will dir gestehen, daß ich mir Vorwürfe mache. Ich werfe mir vor, daß ich mich wehrlos den Zufällen ausgeliefert habe. Jetzt ist es mir, als müßte ich Irene suchen, um mich zu rehabilitieren. In Wirklichkeit weiß ich nicht, was ich soll. Man muß doch ein Ziel haben ?«
 
»Immer noch besser ein Ziel«, erwiderte ich, »als ein sogenanntes Ideal.«
 
»Immer noch besser«, sagte Tunda, »wenn es wirklich ein Ziel wäre.«
 
Wir erfuhren, daß Irene drei Wochen im Hotel Bellevue gewohnt hatte und nach Paris abgereist war.
 
»Ich werde hinfahren«, sagte Tunda.

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XXIII

Er kam auf den Einfall, seine sibirischen Erfindungen drucken zu lassen. Dieses Buch war nicht beendet. Ich schrieb ein Nachwort, in dem ich mitteilte, daß der Autor in Sibirien verschollen und daß mir das Manuskript auf eine wunderbare Weise in die Hände gekommen sei.
 
Es erschien unter dem Namen Baranowicz, in der Übersetzung von Tunda. Es erschien in einem großen Berliner Verlag.
 
Ich entsinne mich noch, wie Tunda überrascht war von den Straßen, den Häusern. Er sah die unwahrscheinlichen Ereignisse und Tatsachen, weil ihm auch die gewöhnlichen merkwürdig erschienen. Er saß auf den Dächern der Autobusse. Er stand vor jedem der hundert grauenhaften hölzernen Pfeile, die in Berlin Richtungen anempfehlen und verbieten. Er besaß die unheimliche Fähigkeit, den unheimlich vernünftigen Wahnsinn dieser Stadt zu begreifen. Er hatte beinahe Irene vergessen.
 
»Diese Stadt«, so sagte er, »liegt außerhalb Deutschlands, außerhalb Europas. Sie ist die Hauptstadt ihrer selbst. Sie nährt sich nicht vom Lande. Sie bezieht nichts von der Erde, auf der sie erbaut ist. Sie verwandelt diese Erde in Asphalt, Ziegel und Mauer. Sie spendet mit ihren Häusern dem Flachland Schatten, sie liefert aus ihren Fabriken dem Flachland Brot, sie bestimmt die Sprache des flachen Landes, die nationalen Sitten, die nationalen Trachten. Es ist der Inbegriff einer Stadt. Das Land verdankt ihr seine Existenz und geht gleichsam aus Dankbarkeit in ihr auf. Sie hat ihre eigene Tierwelt im zoologischen Garten und im Aquarium, im Vogelhaus und im Affenhaus, ihre eigenen Pflanzen im botanischen Garten, ihre eigenen Felder aus Sand, auf denen Fundamente gesät werden und Fabriken aufgehen, sie hat sogar ihre eigenen Häfen, ihr Fluß ist ein Meer, sie ist ein Kontinent. Sie allein von allen Städten, die ich bis jetzt gesehen habe, hat Humanität aus Mangel an Zeit und anderen praktischen Gründen. In ihr würden viel mehr Menschen umkommen, wenn nicht tausend vorsichtige, fürsorgliche Einrichtungen Leben und Gesundheit schützten, nicht weil das Herz es befiehlt, sondern weil ein Unfall eine Verkehrsstörung bedeutet, Geld kostet und die Ordnung verletzt. Diese Stadt hat den Mut gehabt, in einem häßlichen Stil erbaut zu sein, und das gibt ihr den Mut zur weiteren Häßlichkeit. Sie stellt Pfeiler, Hölzer, Planken, ekelhafte, gläserne, bunte, von innen beleuchtete Kröten an die Straßenränder, in die Kreuzungen, auf die Plätze. Ihre Verkehrspolizisten stehen mit metallenen Signalen da, die wie eben und provisorisch von der Eisenbahnverwaltung ausgeliehen sind, und tragen dabei gespenstisch weiße Handschuhe.
 
Außerdem duldet sie noch in sich die deutsche Provinz, freilich, um sie eines Tages aufzufressen. Sie nährt die Düsseldorfer, die Kölner, die Breslauer, um sich von ihnen zu nähren. Sie hat keine eigene Kultur in dem Sinne wie Breslau, Köln, Frankfurt, Königsberg. Sie hat keine Religion. Sie hat die häßlichsten Gotteshäuser der Welt. Sie hat keine Gesellschaft. Aber sie hat alles, was überall in allen anderen Städten erst durch die Gesellschaft entsteht: Theater, Kunst, Börse, Handel, Kino, Untergrundbahn.«
 
Wir sahen in einigen Tagen: einen Amokläufer und eine Prozession; eine Filmpremiere, eine Filmaufnahme, den Todessprung eines Artisten „Unter den Linden“, einen Überfallenen, das Asyl für Obdachlose, eine Liebesszene im Tiergarten am hellichten Tag, rollende Litfaßsäulen, von Eseln gezogen, dreizehn Lokale für homosexuelle und lesbische Paare, ein schüchternes, normales Paar zwischen vierzehn und sechzehn, das seine Namen in die Bäume schnitt und von einem Wachtmeister aufgeschrieben wurde, weil es eine Beschädigung öffentlichen Gutes verübte, einen Mann, der Strafe zahlte, weil er quer über einen Platz gegangen war statt im rechten Winkel, eine Versammlung der Zwiebelessersekte und die Heilsarmee.
 
Ich führte meinen Freund Tunda auch in das Lokal der Künstler. Es war die Zeit, in der die Literaten, die Schauspieler, die Filmregisseure, die Maler wieder Geld verdienten. Es war die Zeit nach der Stabilisierung des deutschen Geldes, in der neue Bankkontos angelegt  wurden, sogar die radikalsten Zeitschriften gut bezahlte Inserate hatten und die radikalen Schriftsteller in den literarischen Beilagen der
 
Ich zeigte Tunda alle berühmten Leute: den Schriftsteller, der mit schönem, frühgebleichtem Haar dasaß, mit silbernem, wie von einem Juwelier verfertigtem Kopf, der die sanften Bosheiten verfaßte und dessen Stil zu einer Hälfte aus gutem Geschmack und zur anderen aus Furcht vor Sentimentalität bestand; den Herausgeber einer Zeitung, der seine Herzensgüte jedem offerierte - auch denen, die nicht auf sie reflektierten -, statt des schriftstellerischen Ehrgeizes eine gewöhnliche männliche Eitelkeit besaß und der, mit einer großen Geschicklichkeit für Börsengeschäfte begabt, Geld verdiente und die Großindustrie bekämpfte; den bekannten Zeichner, der, von mittelmäßigem Talent, so lange alle Berühmtheiten zeichnete, bis sie nicht umhin konnten, ihren eigenen Glanz auf ihn zurückzustrahlen; den revolutionären Autor revolutionärer Erzählungen, der, ein Opfer der Justiz, drei Monate gesessen hatte für die Freiheit, für die Gerechtigkeit, für eine neue Welt - und nichts anderes erreicht hatte als seinen eigenen Ruhm, der vorläufig auch nicht schaden konnte.
 
Ich zeigte Tunda die nachdrängende, immer wieder sich erneuernde Jugend, die mit dem Hochmut der Späterkommenden die bereits Anwesenden grüßte, fremde Erfolge erörterte, um für die eigenen zu profitieren, Monokel trug und bunte Krawatten, an die Nachkommenschaft reicher Bankiers erinnerte und vor der Wahl, der Enkel einer jüdischen Großmutter oder der uneheliche Sohn eines Hohenzollernprinzen zu sein, noch unentschlossen schwankte.
 
Ich zeigte Tunda alle, die mich verachten und die ich grüßen muß, weil ich vom Schreiben lebe.
 
Am nächsten Tag schickte Tunda Geld: seiner Frau nach Baku und Baranowicz nach Irkutsk. An Baranowicz schrieb er einen ausführlichen Brief.
 
Erst am 27. August sollte ich ihn in Paris wiedersehen.


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