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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Die Flucht ohne Ende - Seite 7
Ein Bericht 1927



XXIV

Er kam nach Paris am 16. Mai um sieben Uhr morgens.
 
Er hatte den Sonnenaufgang gesehen. Über einer Landschaft aus dunklem Grün, in der sich gewöhnliche Laubwälder wie Zypressenhaine ausnahmen, rollte, wie mit der Zeitlupe aufgenommen, ein glühender Ball empor und verblaßte zusehends.
 
Es war Tunda, als hätte er zum erstenmal den Aufgang der Sonne gesehen. Immer war sie aus Nebeln aufgestiegen, die den Übergang von der Nacht zum Tage verhüllen und aus dem Morgen ein Geheimnis machen. Diesmal aber erschienen ihm Nacht und Tag deutlich voneinander getrennt durch einige saubere Wolkenstriche, auf denen der Morgen heraufstieg wie auf Treppen.
 
Er hatte in Paris einen klaren, blauen Morgenhimmel erwartet. Aber der Morgen in Paris ist mit einem weichen Bleistift gezeichnet. Ein zerstäubter Rauch von Fabriken vermischt sich mit unsichtbaren Resten silberner Gaslampen und hängt über den Fronten der Häuser.
 
In allen Städten der Welt sind es um sieben Uhr morgens die Frauen, die zuerst aus den Häusern treten: Dienstmädchen und Stenotypistinnen. In allen Städten, die Tunda bis jetzt gesehen hatte, bringen die Frauen noch eine Erinnerung von Liebe, Nacht, Betten und Träumen in die Straßen. Die Pariserinnen aber, die des Morgens die Straßen betreten, scheinen die Nacht vergessen zu haben. Sie haben die frische, neue Schminke auf Lippen und Wangen, die wunderbarerweise an eine Art Morgentau erinnert. Es sind vollkommen angezogene Frauen, es ist, als gingen sie ins Theater. Sie aber gehen mit klaren, nüchternen Augen in einen klaren, nüchternen Tag. Sie gehen schnell, mit starken Beinen, auf sicheren Füßen, die zu wissen scheinen, wie man Pflastersteine behandelt. Tunda hatte, als er sie gehen sah, den Eindruck, daß sie niemals Absätze und Sohlen verbrauchen.
 
Er ging durch häßliche, alte Gassen mit aufgerissenem Pflaster und billigen Läden. Aber wenn er den Blick erhob über die Ladenschilder, waren es Paläste, die mit unberührter Gleichgültigkeit Händler zu ihren Füßen duldeten. Es waren immer die gleichen, alten Fensterscheiben, in acht Parallelogramme aufgeteilt, mit den gleichen, grauen, dünn gerillten, bis zur Hälfte herabgelassenen Jalousien. Nur selten war ein Fenster offen, und selten stand an einem offenen Fenster ein unbekleideter Mensch.
 
Vor den Läden saßen Katzen, sie schwenkten die Schweife wie Fahnen. Sie saßen mit sorgfältig beobachtenden Augen wie Wachhunde vor den Körben mit grünem Salat und gelben Mohrrüben, dem bläulich schimmernden Kohl und den rosaroten Radieschen. Die Läden sahen aus wie Gemüsegärten, und trotz der weichen, bleifarbenen Atmosphäre, welche die Sonne verhüllte, trotz dem Rauch und der plötzlich aus dem Asphalt aufsteigenden Hitze war es Tunda, als wanderte er durch freies Land, und er roch den Duft der aufsteigenden Erde.
 
Er gelangte auf einen kleinen, runden Platz mit einem lächerlichen Denkmal in der Mitte. Ja, als er dieses Denkmal sah, lachte er laut, daß er glaubte, die Menschen würden aus den Häusern treten. Aber nicht einmal diejenigen, die draußen waren, gaben auf ihn acht. Es waren eine dicke, schwarze Frau, die vor einem Putzereiladen stand, und ein großer Mann mit einem weithin glänzenden, schwarzen Schnurrbart, der eben sein kleines Schokoladengeschäft öffnete. Sie sprachen miteinander, schienen Tunda zu sehen, aber ihn absichtlich nicht zu beachten. Sie machten Witze am frühen Morgen. Tunda lachte vor dem Denkmal.
 
Es stellte einen glattrasierten Herrn in einem flatternden Mantel in Lebensgröße auf einem Sockel vor. Daß der Tod seinen Alltag nicht unterbrochen hatte, schien ihm eine ausgemachte Sache. Eine kleine Störung, nichts weiter. Man stellte sich, statt den weiten Weg ins Jenseits zu wandern, bequem in der Mitte eines runden Platzes hin, ein Theaterchen mit klassischen Säulen im Hintergrund, und hing weiter seiner Beschäftigung nach, nämlich dem Dichten.
 
Der Platz, mit Ausnahme seiner zwei Läden, schlief noch. Die Häuser legten sich um ihn, in sanfter Rundung, wie ein Ring um einen Finger. Von einigen Lücken aus liefen strahlenförmig Gassen nach allen Seiten, und aus einer schimmerte das dunkle Grün eines offenbar dichten Parks herüber, in dem Vögel lärmten.
 
An der Ecke war ein Hotel, ein Hotel wie ein Laden.
 
Tunda ging hinein, es war dunkel, eine Glocke wimmerte, und eine junge, geschminkte Frau trat hinter einem billigen, sanft geblümten Vorhang hervor. Sie erschien sehr kühn und hoher Bewunderung wert, weil sie den Mut hatte, in dieser Dunkelheit, hinter diesem Vorhang zu leben, weil sie Tunda mit ebenso rücksichtsloser, fast aggressiver, aber doch wieder freundlicher Stimme nach seinen Wünschen fragte. Sie kam ihm sehr kühn vor, es schien, daß sie die großartige Fähigkeit hatte, als ein Mensch aus Fleisch und Blut durch Träume zu gehen und inmitten von Wundern selbst ein Wunder zu sein.
 
In diesem Hotel, dieser Frau wegen, mietete Tunda ein Zimmer im sechsten Stock. Vom Fenster aus konnte er den weichen Hut des steinernen Dichters sehen, Spatzen, die auf seinem Kopf tanzten, das Dach mit dem dreieckigen Giebelvorsprung des Theaters, alle strahlenförmigen Straßen, rechts das dunkle Grün des Gartens und weit und breit hüpfende Schornsteine wie Kinder in einem blauen Dunst.
 
Am Nachmittag ging er durch kleine und große, enge und breite Straßen, in denen Kaffeeterrassen blühten mit runden Tischchen auf dünnen Beinen, und die Kellner gingen wie Gärtner einher, und wenn sie Kaffee und Milch in Tassen schütteten, war es, als besprengten sie weiße Beete. An den Rändern standen Bäume und Kioske, es war, als verkauften die Bäume Zeitungen. In den Schaufenstern - er dachte an die törichten Schaufenster der Rue de la Paix - tanzten die Waren durcheinander, aber in einer ganz bestimmten und stets übersichtlichen Ordnung. Die Polizisten in den Straßen lustwandelten, ja, sie lustwandelten, eine kleine Pelerine auf der rechten oder auf der linken Schulter - daß dieses Kleidungsstück vor Hagel und Wolkenbruch schützen sollte, war merkwürdig. Doch trugen sie es mit einem unerschütterlichen Vertrauen auf die Qualität des Stoffes oder auf die Güte des Himmels - wer kann es wissen? Sie gingen nicht wie Polizisten herum, sondern wie Nichtstuer, die Zeit haben, sich die Welt anzusehen.
 
Es schien Tunda, daß er einen von ihnen fragen könnte, wo Irene sei, und er würde ihm antworten oder wenigstens einen guten Rat geben. In dieser Stadt lebte !rene. In dieser Stadt lebte Frau G. Seit dem Augenblick, in dem er Paris betreten hatte, konnte er beide Frauen nicht mehr voneinander unterscheiden. Sie wurden eine Frau, und er liebte sie. Er beschloß, an Frau G. zu schreiben.
 
Er wußte ihre Adresse. Er hatte sie ein dutzendmal umgeschrieben, und außerdem lag in einem Fach seiner Brieftasche jener fatale Zettel, mit dem sie sich verraten hatte.
 
Er hatte neues, weiches, glattes Quartpapier gekauft, es war ihm, als begänne mit diesem Papier ein neuer Abschnitt seines Lebens. Es hängt viel von solchen Dingen ab, entscheidende Briefe, Schicksalsbriefe, müssen auf einem gefälligen, einladenden, aufmunternden, fröhlichen, festlichen Papier geschrieben werden. Er schrieb diesen Brief mit violetter Tinte, um ihn gleichsam von allen anderen, gewöhnlichen Briefen auszuzeichnen. Er hatte Frau G. vor allem ein Geständnis zu machen und eines, das sie vielleicht enttäuschen würde.
 
Als er aber zu schreiben anfing, glaubte er, daß gerade die französische Sprache für Geständnisse geschaffen war. Nichts Leichteres, als auf französisch aufrichtig zu sein. Die nackte Wahrheit, die immer einen brutalen Klang hat, liegt weich gebettet in den Wendungen und dennoch klar gezeichnet, sie ist mehr sichtbar als hörbar, wie es sich für eine Wahrheit geziemt. Es war gewiß ein fehlerhafter Brief, aber in keiner Sprache lassen sich so noble, so selbst um Verzeihung bittende Fehler machen wie in der französischen. Als er den Brief geschlossen und die Adresse sorgfältig gemalt hatte, war er fast so mutig wie seine junge, geschminkte Hotelwirtin.
 
Einige Tage vergingen. Es kam keine Antwort. Er wartete. Aber dieses Warten war nicht mit Qual verwandt und nicht mit Furcht, sondern es war wie das Warten vor einem herabgelassenen Theatervorhang.
 
Er blieb den größten Teil des Tages zu Hause. Am späten Morgen erwachte er von einem regelmäßig jeden Tag einsetzenden Geräusch auf der Straße, dessen Ursache zu ergründen er sich nicht entschließen konnte. Er war neugierig. Er wollte sehen, was er jeden Morgen hörte. Aber er schob es auf - von einem Tag zum andern, es war angenehm, daß er freiwillig aufschieben konnte, und der Neugier zu befehlen gewährte einen ungeahnten, einen herrschaftlichen, einen wirklichen Machtgenuß.
 
Ein Diener kam und säuberte das Zimmer, obwohl Tunda noch im Bett lag. Dieser Diener schien seit] ahrzehnten im Hotel beschäftigt, dennoch verrichtete er seine Arbeit mit einem großen, erschütternden Interesse, jedes Staubkörnchen betrachtete er mit einem neugierigen Wohlgefallen, das Waschbecken drehte er um, als hoffte er, auf der Rückseite Unerwartetes zu entdecken. Er sagte jeden Morgen: »Es ist schönes Wetter heute, Sie müßten in den Park gehen!« J eden Morgen sagte T unda: »Ich erwarte einen wichtigen Brief.« Er sprach zu Tunda wie ein guter Onkel zu einem eigensinnigen Neffen oder wie ein sanfter Irrenwärter zu einem gutgearteten Patienten. Er war, dieser Diener, ironisch und höflich, obwohl er gerne wie ein Poltron erscheinen wollte und immer die Wahrheit ins Gesicht sagte. »Sie schlafen aber gern!« sagte er einmal. Und je länger Tunda schlief, desto häufiger entschuldigte er sich: »Ich habe Sie geweckt, verzeihen Sie!“
 
Eines Tages kam er früher als gewöhnlich, schwenkte ein blaues Kuvert und rief: »Das ist der Brief, den Sie erwarten!“ Er legte ihn auf die Decke und zog schnell die Hand zurück, so als brennte ihn das Papier, als würde es bald explodieren. Es war ein billiges, durchsichtiges, gemeines Kuvert, es fühlte sich an wie ein Löschblatt und enthielt die Rechnung.
 
An diesem Tag ging Tunda zum zweitenmal aus, setzte sich in den nahen Park, einem Teich gegenüber, auf dem Knaben kleine Segelschiffchen schwimmen ließen. Er wollte einen Brief herbeilocken. Der Brief sollte überlistet werden. Er sollte nicht wissen, daß man ihn mit Ungeduld erwartete, dann würde er gewiß kommen.
 
Aber es kam kein Brief.
 
Tunda fragte noch einmal die junge Frau, ob man ihn nicht gesucht hätte. Und genau wie das erstemal sagte sie mit einem tröstenden Kopfnicken es war wie das kalte, berufliche Beileid eines Sarghändlers -: »Die letzte Post ist noch nicht dagewesen; der Briefträger kommt gegen sieben Uhr.« - Es kam auch mit der letzten Post nichts.

Es wurde wieder Morgen, das bekannte unbekannte Geräusch weckte Tunda, der Diener kam, er kaute noch an seinem Frühstück. Plötzlich sagte er, während er den Hahn der Wasserleitung zärtlich zu polieren begann:
 
»Irgend jemand hat gestern nach Ihnen gefragt.«
 
»Wer? Wann? Um wieviel Uhr? Eine Dame?«
»Es war so gegen fünf Uhr nachmittags-«
 
Und er zog an seiner dicken, silbernen Kette eine dicke, silberne Uhr hervor, sah einige Sekunden lang auf sie, als hätte er sich auf dem Zifferblatt etwas notiert und wiederholte:
 
»Ja, gegen fünf Uhr nachmittags.«
 
»Und wer war es?«
 
»Eine Dame.«
 
»Hat sie nichts zurückgelassen?«
 
»Nein.«
 
»Eine junge Dame?«
 
»Ja, es wird wohl eine junge Dame gewesen sein.«
 
»Und hat sie nicht gesagt, daß sie wiederkommt?«
 
»Mir nicht.«
 
»Wem denn sonst?«
 
»Niemandem.«
 
Dann putzte er weiter ausführlich den Hahn der Wasserleitung, warf die Seife in die Luft wie einen Ball und fing sie wieder auf, lächelte und sagte:
 
»Eine hübsche, kleine, junge Dame.«
 
»Und Sie allein haben mit ihr gesprochen?«
 
»Ja, ich ganz allein.«
 
»Und warum haben Sie es gestern nicht gesagt?«
 
»Gestern abend war ich frei. Ich bin spazierengegangen.«
 
»Hier haben Sie ein Trinkgeld. Und wenn sie noch einmal kommt, sagen Sie es mir, bevor Sie spazierengehen.«
 
Er warf das Geldstück in die Luft, wie vorhin die Seife, sagte:
 
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie gestört habe« und ging.
 
Dann kam ein langer Sonnabend, der Diener brachte neue Bettwäsche und Handtücher, er streichelte sie, bevor er sie auf eine Sessellehne hängte, und wandte sich zum Gehen. Er hielt die Klinke einen Moment in der Hand, zögerte, als hätte er noch etwas Wichtiges, aber Peinliches zu sagen. Schließlich sprach er, schon halb in der Tür: »Es ist niemand dagewesen.«
 
Tunda erwachte am hellen Sonntagmorgen.
 
Der Himmel war ganz nahe über dem Fenster, weiße Wölkchen wehten, es war unbestreitbar Mai in der Welt.
 
Es klopfte an der Tür, und der Diener sagte:
 
»Jemand will Sie sprechen -«
 
Frau G. trat ein.
 
Sie streifte langsam einen Handschuh ab, er fiel auf die Bettdecke, leicht, von einem zärtlichen Wind hingelegt. Da lag er, hohl, schlaff, aber wie ein weiches, lebendiges, merkwürdiges Tier.
 
»Nun, mein Freund«, sagte sie, »sind Sie gekommen, mich zu sehen oder die Revolution vorzubereiten?«
 
»Sie zu sehen! Glauben Sie mir immer noch nicht? Es ist alles wahr, was ich Ihnen geschrieben habe. Ich schwöre es!«
 
Tunda holte seine Papiere herbei, als wäre sie von der Polizei, als gälte es, seine Freiheit zu retten.
 
Sie setzte sich aufs Bett - und das war wie ein Wunder. Sie kraute mit drei Fingern die Papiere, sah sie mit Verachtung an und zog die Photographie Irenes sofort hervor.
 
»Wer ist diese schöne Frau?«
 
»Sie war meine Braut.«
 
»Und sie ist tot?« fragte sie mit einer ruhigen Stimme, es gab nichts Einfacheres in der Welt als den Tod Irenes. Nicht nur Irene, alle Frauen waren tot, begraben.
 
»Ich glaube, daß sie noch lebt«, sagte Tunda schüchtern, als bäte er um Entschuldigung.
 
Er küßte ihre Hand, sie steckte mit der Linken eine Zigarette in den Mund, und er sprang auf, um Streichhölzer zu holen.
 
Es schien plötzlich in der ganzen Welt nichts Wichtigeres zu geben als diese Streichhölzer. Das Streichholz brannte, ein kleines, blaues Freudenfeuer. »Auf Wiedersehen!« sagte sie, sah ihn aber nicht an, sondern die Photographie Irenes, die noch auf dem Bett lag. Der Himmel war immer noch blau.

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XXV

Tunda hatte ein paar Empfehlungen - von seinem Bruder und von Bekannten. Er machte Besuche.
 
Es waren Besuche höchst langweiliger Art. Es waren gelehrte und halbgelehrte Männer, würdig, aber von einer durch witzige Veranlagung gemilderten Würde. Es waren Männer mit glatten, alten und gut erhaltenen Gesichtern und sorgfältig gebürsteten, grauen Bärten, in denen man noch die Zähne der Kämme sehen konnte. Diese Männer bekleideten öffentliche Stellungen, sie waren Professoren oder Schriftsteller oder Präsidenten humanitärer und sogenannter kultureller Vereine.
 

Sie hatten seit dreißig Jahren wenig anderes mehr zu tun gehabt, als zu repräsentieren. Von ihren deutschen Kollegen unterschieden sie sich durch bestimmte, runde, vollkommene Bewegungen und eine Politesse des Redens.
 
Tunda lernte den Präsidenten Marcel de K. kennen. Er bewohnte eine Villa in einem Vorort von Paris, den er nur zwei- oder dreimal im Jahre verließ, um besonderen, festlichen Sitzungen der Akademie beizuwohnen.
 
Er versicherte Tunda, daß er Deutschland liebe.
 
»Herr Präsident«, sagte Tunda, »Sie tun mir eine große Ehre an, indem Sie mich, einen Privatmann, Ihrer wertvollen Liebe zu Deutschland versichern. Aber ich bin beinahe nicht befugt, diese Ihre freundliche Versicherung entgegenzunehmen. Ich habe kein öffentliches Amt, nicht einmal ein privates. Ich wäre sogar in Verlegenheit, wenn ich Ihnen sagen müßte, was mein Beruf ist. Ich bin vor nicht langer Zeit aus Rußland zurückgekommen, habe mich kaum in Deutschland umgesehen und war zwei Wochen in Berlin. Etwas länger lebte ich bei meinem Bruder in der Stadt X. am Rhein. Ich habe nicht einmal Zeit gefunden, mich in meiner Heimat, in Österreich, zurechtzufinden.«
 
Er hatte den alten, ehrwürdigen Herrn in eine gewisse Verlegenheit gebracht. Deshalb sagte er: »Ich könnte Ihnen noch am meisten von Sibirien erzählen, wenn es Sie interessiert.«
 
Sie sprachen von Rußland. Der Präsident hatte die Vorstellung, daß in Petersburg immer noch geschossen wird.
 
Tunda erlebte bei diesem Präsidenten einen delikaten Geschmack, der ihm jede Ahnungslosigkeit erlaubte. Er hatte das Recht, gar nichts zu wissen. Frankreich gab ihm alles, was er brauchte: Berge, Meer, Geheimnis, Klarheit, Natur, Kunst, Wissenschaft, Revolution, Religion, Geschichte, Freude, Anmut und Tragik, Schönheit, Witz, Satire, Aufklärung und Reaktion.
 
Tunda betrachtete den alten Herrn mit dem reinen Vergnügen, das manche Menschen auf einem Spaziergang in einem gepflegten Garten empfinden. Er sah sein altes, gleichmäßiges Gesicht, an dem der Kummer mit Vorsicht gearbeitet hatte, die Enttäuschungen lagen in ihren vorbestimmten Falten, die kleinen Freuden des Lebens hatten einen schönen, klaren Glanz in den Augen hinterlassen, um den schmalen, scharfen und weiten Mund war der Bart gebreitet wie eine silberne Ruhe, auf dem Kopf waren nur soviel Haare ausgegangen, wieviel nötig sind, eine schöne, kluge, repräsentative Stirn entstehen zu lassen. Welch ein Greis! Keiner konnte mit größerer Berechtigung Herr Präsident heißen als er.
 
Tunda hatte die Gewohnheit angenommen, der Schönheit zu mißtrauen. Deshalb glaubte er in der ersten Zeit dem Präsidenten kein Wort, auch nicht das gleichgültigste. Wenn er zum Beispiel erzählte, daß er vor zwanzig Jahren in der Kammer diesen oder jenen Minister beiseite gerufen hatte, um ihm unter vier Augen die Wahrheit zu sagen, so hielt es Tunda für eine Übertreibung, die das Alter entschuldigt. Denn die Wahrheiten, die der Herr de K. zu sagen hatte, konnten auch ohne Furcht vor eventuellen Folgen in der Öffentlichkeit gesagt werden.
 
Nachdem er aber den freundlichen Herrn drei- und viermal gesprochen hatte, begann er zu ahnen, daß der Alte keineswegs übertrieb. Nicht die Tatsachen übertrieb er, sondern den Grad und die Gefahren seiner Aufrichtigkeit. Das, was er mit einem gewissen Schauder die Wahrheit nannte, war ein gleichgültiger, fast ein lächerlicher Teil der Wahrheit. Er übertrieb wirklich nicht mit Wissen. Wenn er ein allgemeines, oft wiederholtes, zur Banalität entwürdigtes Wort über Deutschland sagte, so war es in seinem Mund keine gedankenlose Wiederholung, sondern etwas wie eine höfliche Entdeckung. Er machte immer wieder längst erledigte Erfahrungen. Wenn er väterlich sagte:
 
»Ich schätze Ihre Gesellschaft, lieber junger Herr«, so mußte sich Tunda wirklich ausgezeichnet fühlen. In diesem bedächtigen Munde, infolge der langsamen Bewegungen der Zunge, bekam jede Phrase ihre alte, ursprüngliche Bedeutung. Und es war selbstverständlich, daß der alte Herr einen Minister unter vier Augen sprechen mußte, um ihm etwa zu sagen:
 
»Ich habe den doppelten Sinn Ihrer Rede wohl gemerkt.«
 
Tunda sah bei diesem Herrn, worin ein wichtiger Teil der Vornehmheit besteht: nämlich in der Furcht vor der Übertreibung (schon die ungeschminkte Wahrheit ist eine Übertreibung); in dem Vertrauen auf die Richtigkeit, auf die Gerechtigkeit der oft erprobten Wendung - denn schon eine neue Formulierung schießt über das Ziel hinaus.
 
Er lernte bei dem würdigen Präsidenten einige Menschen kennen: den Herausgeber einer Zeitschrift »von Bedeutung«, seine Mitarbeiter, eine Frau, von deren Beziehungen zu einem Minister Andeutungen gemacht wurden, einen Herrn von Adel, der am Rhein zu Hause war und Verwandte auf Schloßruinen in Frankreich, Italien und Österreich hatte. Es war einer von jenen Aristokraten, die Zeitschriften herausgeben, um sich durch eine Abart schöpferischer Tätigkeit ihres klangvollen Namens würdig zu erweisen. Sie haben sich mit der besiegelten Ohnmacht der Aristokratie noch nicht abgefunden, und während sie an den Tischen ihrer Erben, der Industriellen, den Hunger stillen, vergessen sie nicht einen Augenblick, daß sie diese Tische auch zieren. Weil sie nicht, wie manche ihrer Standesgenossen, die Fähigkeit haben, auch nur repräsentative Fabrikdirektoren und Empfangschefs in Kohlengebieten zu werden, beschäftigen sie sich mit der Politik. Und weil sie durch Kriege keine Besitzvergrößerungen mehr erhoffen, machen sie Friedenspolitik. Der besondere Reiz des Mannes, von dem hier die Rede ist, lag übrigens noch darin, daß er aus Prinzip für eine Diktatur war, für starke Fäuste. Er erwartete ein geeinigtes Europa unter der Herrschaft eines Papstes mit weltlicher Diktaturgewalt oder etwas Ähnliches. Wenn er sprach, legte er die Hände zusammen, so daß sich die Spitzen der Finger berührten, er muß es einmal von einem Abbe gelernt haben, wie man Giebel aus Händen konstruiert. Er sprach mit der eindringlichen, leisen und klangvollen Stimme beruflicher Hypnotiseure und bekleidete nüchterne Erzählungen mit mystischen Schimmern. Im übrigen gab er sich gerne für einen armen Teufel aus - - auch das kann in der guten Gesellschaft ein Reiz sein.
 
Frauen reicher Fabrikanten, die sich immer noch unverstanden wähnen, aber wenig Gelegenheit haben, mit der Literatur Fühlung zu bekommen - weil Literaten unter Umständen doch gefährlich werden können -, ergeben sich gerne Aristokraten mit literarischen Neigungen, in denen die weibliche Seele alles findet, wessen sie bedarf: Verständnis, Zartheit, Adel, einen Schuß Boheme. Jener Herr aß nicht nur an den Tischen der Industrie, er schlief auch in ihren Betten. In den unregelmäßigen Zwischenräumen gab er seine Zeitschrift heraus. Er hatte Mitarbeiter aus allen Lagern. Denn es gibt auch ehrliche Menschen, die am europäischen Frieden Interesse haben.
 
Wie zum Beispiel jenen Diplomaten, der an der Berliner französischen Botschaft beschäftigt, seine Karriere von einer deutsch-französischen Verständigung abhängig gemacht hatte. Er lebte seit Jahren in Deutschland und haßte es aufrichtig. Aber was konnte dieser Haß gegen seine Liebe zu sich selbst? Jeden Schritt der sogenannten Annäherung schrieb man ihm zugute, er vollbrachte Leistungen wider seinen Willen, er war ein Spezialist für Liebe zu Deutschland.
 
Ehrlicher, aber auch ahnungslos war die Dame mit den Beziehungen, die außer einem freundlichen Gesicht und einer gut gebauten Statur gerade soviel Verstand hatte, wie ein Zeitungsbericht erfordert und ein Gespräch mit einem deutschen Minister.
 
Sie alle sprachen in weihevollen Stunden von einer Gemeinsamkeit der europäischen Kultur. Einmal fragte Tunda:
 
»Glauben Sie, daß Sie imstande wären, mir präzise zu sagen, worin diese Kultur besteht, die Sie zu verteidigen vorgeben, obwohl sie gar nicht von außen angegriffen wird?«
 
»In der Religion!« - sagte der Präsident, der niemals die Kirche besuchte.
 
„In der Gesittung« - die Dame, von deren illegitimen Beziehungen die Welt wußte.
 
»In der Kunst« - der Diplomat, der seit seiner Schulzeit kein Bild betrachtet hatte.
 
»In der Idee Europa« - sagte klug, weil allgemein ein Herr namens Rappaport.
 
Der Aristokrat aber begnügte sich mit dem Zuruf:
 
»Lesen Sie doch meine Zeitschrift!«
 
»Sie wollen«, sagte Tunda, »eine europäische Gemeinschaft erhalten, aber Sie müßten sie erst herstellen. Denn die Gemeinschaft ist ja nicht vorhanden, sonst würde sie sich schon selbst zu erhalten wissen. Ob man überhaupt irgend etwas herstellen kann, scheint mir ja sehr zweifelhaft. Und wer sollte übrigens diese Kultur, wenn sie noch da wäre, angreifen? Etwa der offizielle Bolschewismus? Der will sie ja auch in Rußland.«
 
»Aber zugleich hier - jedenfalls hier zerstören, um sie vielleicht allein zu besitzen«, rief der Herr Rappaport.
 
»Ehe er dazu kommt, ist sie wahrscheinlich durch einen neuen Krieg verschwunden.«
 
»Eben den wollen wir ja verhindern«, sagten mehrere auf einmal.
 
»Wollten Sie es nicht auch im Jahre 1914? Als aber der Krieg ausbrach, gingen Sie in die Schweiz, gaben dort Zeitschriften heraus, und hier erschoß man die Kriegsdienstverweigerer. Sie haben jedenfalls genug, um ein Billett nach Zürich rechtzeitig zu lösen, und immer Beziehungen, um einen gültigen Paß zu bekommen. Aber das Volk? Ein Arbeiter muß sogar in Friedenszeiten drei Tage auf ein Visum warten. Nur einen Einberufungsschein bekommt er sofort.«
 
»Sie sind ein Pessimist«, sagte der gütige Präsident.
 
In diesem Augenblick betrat ein Herr das Zimmer, den Tunda schon kannte. Es war Herr de V. Er kam eben von einer Amerikareise zurück. Er war wieder Sekretär, nicht mehr bei dem Rechtsanwalt, sondern bei einem hohen Politiker.
 
Nie hätte er gedacht, so sagte er, daß Tunda wirklich nach Paris kommen könnte. Und welch ein glücklicher Zufall, der sie bei seinem alten, lieben Freund - so dürfe er doch wohl sagen -, dem Herrn Präsidenten, zusammenführte.
 
Dann begann der Sekretär, von Amerika zu erzählen.
 
Er war ein »geborener Erzähler«. Er ging von einer anschaulichen und übertriebenen Situation aus und kam von privaten Erlebnissen auf allgemeine Zustände. Er hob und senkte die Stimme, er erzählte die Hauptsachen sehr leise, so daß er Nebensachen mit lauter Stimme übertäuben durfte. Sehr ausführlich schilderte er den Verkehr in den Straßen und die praktischen Hotels. Über die Amerikaner machte er sich lustig. Theatervorstellungen beschrieb er mit Bosheit. Von Frauen deutete er Intimes an. Jedesmal zog er an den Bügelfalten über seinen Knien, es erinnerte von ferne an die schüchterne Bewegung eines jungen Mädchens, das seine Schürze zupft. Der Sekretär war unbedingt ein sympathischer Mensch. Aber seine plötzliche Rückkehr aus Amerika bewirkte, daß der alte, gütige Präsident Tunda nicht mehr häufig einlud und daß er nicht mehr »Lieber Herr« zu ihm sagte, sondern »Mein Herr«.

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XXVI

Tunda konnte bei Frau G. den intimen Freund eines großen Dichters und andere Menschen sehen.
 
Die Damen saßen in Hüten, eine ältere Dame zog nicht die Handschuhe aus. Sie nahm das kleine Gebäck mit den ledernen Fingern entgegen, steckte es zwischen Lippen aus Karmin, kaute es mit Zähnen aus Porzellan - ob ihr Gaumen echt war, blieb zweifelhaft. Aber nicht sie, sondern der Freund des großen Dichters erregte Aufsehen.
 
Der Freund des Dichters, ein Ungar, hatte sich in Paris so akklimatisiert wie einmal in Budapest. Die ungarische Melodie, mit der er französisch sang, hätte die empfindlichen Ohren der Franzosen beleidigt, wenn er nicht in dieser Melodie Geschichten aus dem Leben seines großen literarischen Freundes vorgetragen hätte. Auch der Ungar war ein Kulturvermittler und polyglott seit seiner Geburt. Er konnte davon leben. Denn er übersetzte Molnar, Anatole France, Proust und Wells - - jeden in die Sprache, in der es gerade verlangt wurde, und außerdem die gangbaren Possen in alle Sprachen zugleich. Er war bekannt auf der Pressetribüne des Völkerbundes in Genf, in den Kanzleien der Berliner Revuetheater, der Theateragenten und in den Feuilletonredaktionen aller großen Zeitungen des Kontinents.
 
Er sprach wie eine Flöte. Es war wunderbar, daß er mit dieser weichen Kehle in der Liga für Menschenrechte Protektionen für ungarische Freunde durchsetzen konnte. Er tat überhaupt manches Gute, nicht aus angeborener Hilfsbereitschaft, sondern weil ihn seine Verbindungen zwangen, Gefälligkeiten zu erweisen.
 
Es traf sich, daß er mit Tunda zusammen das Haus der Frau G. verließ. Er gehörte zu jenen mitteleuropäischen Männern, die ihre Gesprächspartner am Arm führen, bei jeder Straßenecke stehenbleiben oder zu sprechen aufhören müssen. Sie verstummen, wenn man ihnen den Arm entzieht, wie eine elektrische Lampe erlischt, wenn man den Kontakt aus der Wand entfernt.
 
»Sie kennen Herrn de V.?« fragte er.
 
»Nicht sehr genau!« erwiderte Tunda.
 
»Welch ein geschickter Mann - sehen Sie, jetzt kommt er gerade aus Amerika zurück. Eine Weltreise ist für ihn ein Katzensprung. Er hat übrigens schon die halbe Welt gesehen. Das kostet ihn keinen Pfennig. Er ist immer bei irgendeinem reichen oder wenigstens einflußreichen Mann beschäftigt. Als Sekretär oder -«
 
Er wartete eine lange Minute, dann sagte er: »Mit Frau G. ist es aus.«
 
Er ließ Tundas Arm los, stellte sich ihm gegenüber, als erwarte er etwas  Außerordentliches.
 
Statt dessen aber sagte Tunda gar nichts.
 
»Sie wußten es wohl?« fragte er.
 
»Nein!«

»Aber Sie interessieren sich nicht für den Herrn.«
 
»Nur wenig.«
 
»Dann gehen wir einen Kaffee trinken.«
 
Und sie gingen einen Kaffee trinken.


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XXVII

Um diese Zeit begann Tundas Geld auszugehen.
 
Er schrieb seinem Bruder. Georg antwortete, daß er mit barem Geld leider nicht helfen könne. Sein Haus stände allerdings immer offen.
 
Die Kühnheit der schönen Hotelwirtin, die Tunda so bewundert hatte, verwandelte sich in Hohn. Denn die schönen, jungen und kühnen Wirtinnen der Hotels haben nicht umsonst ein Leben hinter dunklen, billig geblümten Vorhängen verbracht. Dafür will man bezahlt sein. Die Armut eines Mieters halten sie für eine ausgeklügelte Bosheit, ihnen persönlich vom Mieter zugedacht.
 
Die Vorstellung, die der kleine Bürger von der Armut hat: Der Arme hat sich lange um die Armut beworben, um mit ihrer Hilfe seinem Nächsten ein Leid anzutun.
 
Aber gerade vom kleinen Bürger ist, wer gar nichts hat, abhängig. Hoch oben hinter den Wolken lebt Gott, dessen Allgüte sprichwörtlich geworden ist. Ein bißchen tiefer unten leben die verwöhnten Menschen, denen es gutgeht und die vor jeder Ansteckung mit der Armut so gefeit sind, daß sich bei ihnen die wunderbaren Tugenden entwickeln: Verständnis für die Not, Barmherzigkeit, Güte und sogar Vorurteilslosigkeit. Aber zwischen diesen Edlen und den andern, die den Edelmut am ehesten brauchen, sind als Isolatoren die Mittelständler geklemmt, die den Brothandel betreiben und die Versorgung der Menschen mit Kost und Quartier. Die ganze »soziale Frage« wäre gelöst, wenn die Reichen, die ein Brot verschenken können, auch die Bäcker der Welt wären. Es gäbe viel weniger Ungerechtigkeit, wenn die Juristen vom obersten Gerichtshof in den kleinen Strafgerichten säßen und die Polizeipräsidenten selbst die kleinen Diebe verhaften wollten.
 
So aber ist es nicht.
 
Der Hoteldiener fühlte zuerst, daß Tunda kein Geld mehr hatte. Im Laufe eines langen Lebens hatte er seinen angeborenen Instinkt für den Besitzstand der wechselnden Herren zu einer Prophetie entwickelt. Er hatte Millionen Rasierklingen stumpf werden sehen, Millionen Seifen kleiner werden, Millionen Zahnpastatuben flach werden. Er hatte tausend Anzüge aus den Kleiderschränken auswandern sehen. Er lernte erkennen, ob einer hungrig aus einem Park zurückkehrte oder satt aus einem Gasthaus.

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