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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Die Flucht ohne Ende - Seite 8
Ein Bericht 1927



XXVIII

Tunda kannte Europa noch nicht. Er hatte anderthalb Jahre für eine große Revolution gekämpft. Aber hier erst wurde ihm klar, daß man Revolutionen nicht gegen eine »Bourgeoisie« macht, sondern gegen Bäcker, gegen Kellner, gegen kleine Gemüsehändler, winzige Fleischhauer und machtlose Hoteldiener.
 
Niemals hatte er die Armut gefürchtet, er hatte sie kaum gefühlt. Aber in der Hauptstadt der europäischen Welt, aus der die Gedanken der Freiheit ausgehen und ihre Gesänge, sah er, daß man keine trockene Brotrinde umsonst bekommt. Die Bettler haben ihre ganz bestimmten wohltätigen Spender, und aus jedem mitleidigen Herzen, an das man klopft, kommt die Antwort: Schon besetzt!
 
Er ging einmal zu Frau G.
 
Zum erstenmal kam es ihm in den Sinn, daß zwischen ihr und ihm gar nichts bestand, daß jener Nachmittag, jener Abend in Baku nichts mehr waren als die Begegnung zweier Menschen auf einem Bahnhof, bevor sie in verschiedene Züge steigen. Er erkannte, daß ihre Fähigkeiten zu erleben, Schmerzen zu fühlen, Freude, Angst, Kummer, Jubel und alles, was Leben ausmacht, erstorben waren. Er konnte nicht entscheiden, ob der Besitz, ob die materielle Sicherheit, in der sie lebte, sie stumpf gemacht hatten. Sie hatte ja die bewundernswerte, rätselhafte Fähigkeit, mit schlanken Fingern die Gegenstände und die Menschen, mit schönen schmalen Füßen und Zehen den Boden zu berühren. Jede ihrer Bewegungen hatte doch ihren Sinn, einen fernen, einen dichterischen Sinn, er war da außer dem unmittelbaren Zweck und wichtiger als dieser. In ihr war der Siedlungsbereich der europäischen Kultur, von der die Unglücksverhüter, die Europäer, sprachen. Keinen anderen, keinen stärkeren Beweis für die Existenz einer europäischen Kultur als diese Frau G. Aber damit sie sei, waren die Menschen ohne Herz, die Bäcker hart und die Armen ohne Brot. Und sie, das Resultat dieses Unglücks, wußte es nicht, durfte es nicht wissen, sie durfte nicht einmal eine große Leidenschaft fühlen, weil Leidenschaft der Schönheit schadet. So einfach war die Welt trotzdem nicht, wie Natascha einmal erklärt hatte. Es gibt auch andere Gegensätze als reich und arm. Aber es gibt eine Not, der man tausend Erkenntnisse und das Leben verdankt, und einen Reichtum, der tot macht, tot und schön, tot und zauberhaft, tot, glücklich und vollkommen.
 
Wie durch irgendein Gesetz verpflichtet, sagte Tunda: »Ich liebe Sie!« - vielleicht nur, um seine Anwesenheit zu erklären.
 
Denn was hätte er sonst hier zu suchen gehabt? Er suchte wie ein Mensch, der einen Menschen verliert, aus dem Trieb, der manchmal stärker ist als der Trieb der Selbsterhaltung, nach einem letzten Mittel, sie zu halten.
 
Er dachte die ganze Zeit: Was würde sie sagen, wenn es ihm einfiele, sie um Geld zu bitten. Wie häßlich käme es ihr vor, erstens, daß er kein Geld hatte, zweitens, daß er in ihrer Gegenwart davon sprach, drittens, daß er keine wichtigeren Sorgen hatte als die, was er morgen essen werde? Wie würde sie ihn verachten! Wie häßlich ist Geld, das man nicht hat! Um wieviel häßlicher, wenn man es mitten in der schönsten Stadt der Welt vor einer schönen Frau nötig hat. Arm sein war in ihren Augen das Unmännlichste - und nicht nur in ihren Augen. In dieser Welt war Armut Unmännlichkeit, Schwäche, Torheit, Feigheit und ein Laster.
 
Er verließ sie mit jener falschen, hoffnungslosen Freudigkeit, die dem Lächeln müder Artisten im Variete gleicht, mit jener Freudigkeit, die wir hundertmal im Tage anlegen, als hätten wir uns vor einem Publikum zu verneigen. Er nahm von ihr einen stillen Abschied wie ein überzeugter Selbstmörder von einem geliebten und verachteten Leben. Er ging die Rue de Berri entlang, in der sie wohnte, erreichte die Champs Elysees und befand sich außerhalb dieser Menschen, die er dennoch mit dem Ärmel streifte. Als stünde er wie ein Bettler jenseits der Welt und sähe sie nur durch eine harte, undurchdringliche, in all ihrer Freundlichkeit bedrohliche Fensterscheibe.
 
Es war ein heller Nachmittag, die kleinen Automobile liefen wie Kinder über die breiten Straßen, verspielt, heiter, lärmend. Da gingen die schönen, alten Herren, helle Handschuhe an den Händen, helle Gamaschen an den Füßen - und im übrigen waren sie dunkel gekleidet und feierlich und zugleich lebenslustig. Sie gingen in den Bois de Boulogne, um dort ihren fröhlichen, einem zweiten Morgen gleichen Lebensabend zu verbringen. Da gingen die kleinen Mädchen, die gesitteten, reifen, klugen Weltstadtkinder, die ihre Mutter an der Hand führen und mit der zierlichen Sicherheit der Damen über das Pflaster wandern, zauberhafte Wesen zwischen Tier und Prinzessin. Da saßen auf den Terrassen die erwachsenen Damen, zwischen roten Lippen gelbe Halme wie dünne Flöten. Die Welt lag hinter Glas, wie in einem Museum alte und wertvolle Teppiche, um deren Zerfall man zittert.
 
Tunda begegnete dem Freund des großen Dichters, denn es war die Zeit, in der in Paris die Angehörigen einer bestimmten Gesellschaftsschicht die Champs Elysees bevölkern - wenn mit dem Wort bevölkern der Spaziergang dieser Damen und Herren bezeichnet werden darf.
 
Es war, als würde sie jemand führen, wie man Tiere in den zoologischen Gärten oder in den Menagerien zur bestimmten Zeit des Tages herumführen mag; es war, wie man Museen für einige Stunden in der Woche öffnet und den Anblick seltener und alter Kostbarkeiten freigibt.
 
Wer dirigierte diese Menschen? Wer legte sie aus, in diesem Museum, das Champs Elysees genannt war, wer hieß sie herumgehen und sich drehen wie Mannequins? Wer führte sie in die Salons der Präsidenten und bei den Tees der schönen Frauen zusammen? Wie kamen die großen Dichter zu ihren Freunden und diese zu den großen Dichtern?
 
Wie kam der Herr de V zu dem Präsidenten?
 
Es waren keine Zufälle, es waren Gesetze.
 
Ach, was trieben sie nicht alles! Manchmal kamen sie Tunda vor wie Totenwürmer, die Welt war ihr Sarg, aber im Sarg lag niemand. Der Sarg lag in der Erde, und die Würmer bohrten Wege durch das Holz, bohrten Löcher, kamen zusammen, bohrten weiter, und einmal wird der Sarg ein einziges Loch sein - dahin die Würmer und der Sarg, und die Erde wundert sich, daß keine Leiche dringelegen hat. –


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XXIX

Eines Tages faßte Tunda den Entschluß, den würdigen Präsidenten um Hilfe zu bitten. Er hatte einige Wochen gezögert. Denn er wußte nicht, ob es besser war, dem alten Herrn, der wahrscheinlich seine eigenen Schritte sehr sorgfältig überlegte und sich selbst vielleicht niemals einen noch so geringen Fehler verziehen hätte, einen ausführlichen, wenn auch knappen, wirkungsvollen und höflichen Brief zu schreiben oder ihn zu besuchen.
 
Tunda erfuhr, daß alle seine Erlebnisse nicht ausreichten, um ihn in einer Welt, in der er nicht heimisch war, sicher zu machen. Auf einmal verstand er die Furchtsamkeit der Invaliden, dieser Invaliden, die im Fegefeuer des Krieges Augen, Ohren, Nasen und Beine verlieren und in der Heimat dem Befehl eines Dienstmädchens gehorchen, das sie vom »Eingang für Herrschaften« verjagt. Er hatte Herzklopfen. Was er an Mut und an Lebenskraft jemals aufgebracht hatte, war nur die Folge bestimmter Situationen gewesen, und Feigheit war das Wesen des gezähmten Menschen.
 
Er schrieb einige Briefe und zerriß sie wieder. Er zwang sich, an die roten Nächte zu denken, an den flammenden Purpur seiner vergangenen Tage, an das gewaltige, unendliche, absolute Weiß des sibirischen Eises, an die gefährliche Stille der Wälder, die er durchwandert hatte und in denen nichts anderes hörbar war als der Atem des Todes, an den würgenden Hunger, der in seinen Eingeweiden gefressen hatte, an seine gefährliche Flucht und an jenen Tag, an dem er ohnmächtig über den Rücken eines galoppierenden Pferdes gehängt war, an jenen Augenblick, in dem er das Bewußtsein verlor und der so war wie ein jäher, aber dennoch langsamer Fall in eine schwarzrote Schlucht aus Weichheit, Entsetzen und Tod. Aber keine Erinnerung half. Denn die Gegenwart ist tausendmal stärker als die stärkste Vergangenheit - - und er verstand den Schmerz der Menschen, die vor zehn Jahren eine gefährliche Operation heroisch überstanden haben und heute an einem Zahnschmerz zugrunde gehen.
 
Er entschloß sich, den Herrn Präsidenten aufzusuchen. Er hatte sich nicht angekündigt, und es war ihm, als er vor der Tür stand, ein Trost zu denken, daß er die ersten zwei Minuten mit der Entschuldigung seines plötzlichen Besuches ausfüllen konnte. Darauf würde der Präsident sicherlich mit gewohnter und gleichsam meisterhaft gehandhabter Herzlichkeit erwidern, es sei ihm gerade sehr angenehm, daß Tunda ihn aufsuche. Dann würde Tunda den Mut aufbringen, ihn zu enttäuschen.
 
Der Herr Präsident war zu Hause, und er war allein. Wiederum bewunderte Tunda die präzise, die ahnungslose und unerbittliche Maschinerie des Zeremoniells, das keinen Augenblick stockte und das sich um den Zweck seines Besuches nicht kümmerte, ihn die Ehren genießen ließ, die nur einem Unabhängigen, Stolzen, Freien gebühren. Ebenso zuvorkommend wie der Diener ihn heute noch behandelte, ebenso unerschütterlich würde er ihn morgen abweisen, wenn er endgültig und allen sichtbar in die traurige Kategorie der vergeblichen Bittsteller gesunken war. Es gibt keine Ausnahmen. Tunda dachte an das Gesetz, von dem einmal der angeheiterte Fabrikant gesprochen hatte. Man hat schon längst den Ausbruch aus seiner Klasse, seinem Stand, seiner Kategorie vollzogen, aber das Zeremoniell weiß noch nichts davon, und ehe es einen Aufstieg oder einen Absturz zur Kenntnis genommen hat, kann dieser und jener nicht mehr wahr sein. Tunda war wie einer, der aus einer durch Erdbeben vernichteten Stadt kommt und von den Ahnungslosen so empfangen wird, als käme er geradewegs aus einem fahrplanmäßig eingelaufenen Zug.
 
Erschienen ihm aber Vorzimmer und Diener noch wie in alten Zeiten - wie hatten sich die wenigen Wochen zu Dezennien plötzlich ausgedehnt! -, so empfand er im Anblick des Herrn Präsidenten doch die ganze Veränderung seiner Lage. Denn die Besitzenden, die Ruhigen, die Sorglosen, ja auch nur die mäßig Versorgten entwickeln einen Abwehrinstinkt gegen jeden Einbruch in ihre geschützte Welt, sie scheuen auch nur die Berührung mit einem Menschen, von dem sie eine Bitte erwarten dürfen, und ahnen die Nähe der Hilflosigkeit mit jener Sicherheit, die den Tieren der Prärie vor einem Waldbrand zu eigen wird. Der Herr Präsident hätte die ganze Veränderung in Tundas Lage erraten, und wenn er ihm bis dahin als ein Millionär und Klubgenosse des Citroen bekannt gewesen wäre, in dem Augenblick hätte er sie erraten, in dem sich ihm Tunda näherte, um ihm seine Armut einzugestehen - - der Präsident hätte sie erraten dank der prophetischen Gabe, die den Besitz, die Wohlgeborgenheit, die Bürgerlichkeit begleitet wie der Schäferhund den blinden Bürstenbinder.
 
Des Präsidenten Adel verwandelte sich in Furcht, seine Zurückhaltung in Strenge, seine Vorsicht in Verdrossenheit. Ja, sogar seine Schönheit war einer billigen, äußerlichen, leicht erklärbaren Eitelkeit gewichen. Sein schöner, silberner Bart war das Ergebnis eines Kammes und einer Bürste, seine glatte Stirn ein Abzeichen des gedankenlosen und bequemen Egoismus, seine gepflegten Fingernägel eine Art soignierter Krallen, sein Blick der Ausdruck eines glatten, gläsernen Auges, das die Bilder der Welt nicht anders aufnahm als ein Spiegel.  
 
»Es geht mir schlecht, Herr Präsident!« sagte Tunda.
 
Der Präsident machte ein noch ernsteres Gesicht und wies auf einen bequemen, ledernen Sessel, wie ein Arzt, bereit, zu horchen und mit jenem freudigen Interesse zu hören, mit der Ärzte eine Krankheitsgeschichte vernehmen, weil es ihr Studium auf jeden Fall fördern kann. Er saß da wie der Ewige, im Schatten wie in einer Wolke, während auf Tunda durch das Fenster ein breiter Sonnenstreifen fiel, so daß seine Knie beleuchtet waren und das Licht vor ihm stand wie eine goldene, durchsichtige Wand, hinter welcher der Herr Präsident saß und hörte oder auch nicht hörte. Dann aber geschah das Merkwürdige, daß der Herr Präsident aufstand - die Wand aus gläsernem Gold war bis zu ihm vorgerückt, er durchbrach sie, da wurde sie ein goldener Schleier, der sich seinen Körperformen anpaßte, auf seiner Schulter lag und ein paar weiße Haarschuppen auf seinem blauen Anzug sichtbar machte. Der Präsident stand, menschlich geworden, streckte Tunda die Hand entgegen und sagte: »Vielleicht kann ich was für Sie tun.«


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XXX

Tunda ging durch die heiteren Straßen mit der großen Leere im Herzen, wie sie ein entlassener Sträfling auf seinem ersten Gang in die Freiheit fühlt. Er wußte, daß der Präsident ihm nicht helfen konnte, auch wenn er ihm die Möglichkeit verschaffte, zu essen und einen Anzug zu kaufen. Ebensowenig macht man einen Sträfling frei, wenn man ihn aus dem Gefängnis entläßt. Ebensowenig macht man ein elternloses Kind glücklich, wenn man ihm einen Platz im Waisenhaus sichert. In dieser Welt war er nicht zu Hause. Wo war er es? In den Massengräbern.
 
Das blaue Licht brannte auf dem Grab des Unbekannten Soldaten. Die Kränze dorrten. Junge Engländer standen da, die weichen, grauen Hüte in den Händen und die Hände auf dem Hintern. Aufgebrochen aus dem Cafe de la Paix waren sie, das Grabmal zu sehn. Ein alter Vater dachte an seinen Sohn. Zwischen ihm und den jungen Engländern war das Grab. Tief unter den beiden lagen die Gebeine des Unbekannten Soldaten. Der Alte und die Jungen reichten sich über das Grab hinweg die Blicke. Es war ein stilles Einverständnis zwischen ihnen. Es war, als schlössen sie einen Pakt, den toten Soldaten nicht gemeinsam zu beklagen, sondern gemeinsam zu vergessen.
 
Tunda war schon einigemal an diesem Denkmal vorübergegangen. Immer umstanden es Touristen, die Reisehüte in der Hand - und nichts kränkte ihn mehr als ihre Ehrenbezeugung. Es war, wie wenn Weltenbummler, die auch noch fromm sind, während eines Gottesdienstes eine berühmte Kirche besichtigen und, den Reiseführer in der Hand, vor einem Altar niederknien, aus Gewohnheit und um sich nichts vorwerfen zu müssen. Ihre Andacht ist eine Lästerung und ein Lösegeld für ihr Gewissen. Nicht dem toten Soldaten zu Ehren, sondern den Überlebenden zur Beruhigung brannte das blaue Flämmchen unter dem Arc de Triomphe. Nichts war grausamer als die ahnungslose Andacht eines überlebenden Vaters am Grabe seines Sohnes, den er geopfert hatte, ohne es zu wissen. Manchmal war es Tunda, als läge er selbst dort unten, als lägen wir alle dort unten, die wir aus einer Heimat auszogen, fielen, begraben wurden oder auch zurückkehrten, aber nicht mehr heimkehrten - denn es ist gleichgültig, ob wir begraben oder gesund sind. Wir sind fremd in dieser Welt, wir kommen aus dem Schattenreich.
 
Nach einigen Tagen ließ ihn der Herr Präsident kommen.
 
Zwischen beiden war nunmehr die Distanz, die zwischen dem Helfer und dem Hilflosen besteht, eine andere Distanz als die zwischen dem Älteren und dem Jüngeren, dem Heimischen und dem Fremden, dem Mächtigen und dem zwar Schwachen, aber Selbständigen. In den Blicken des Präsidenten lag zwar keine Geringschätzung, aber auch nicht mehr jene stille Bereitschaft zur Hochachtung, die noble Menschen für jeden Fremden übrig haben, die Gastfreundschaft der Vorurteilslosigkeit. Vielleicht war Tunda sogar seinem Herzen nähergekommen. Aber sie waren nicht mehr gleich Freie. Vielleicht hätte der Alte von nun an sogar eines seiner Geheimnisse Tunda anvertraut; aber nicht mehr eine seiner Töchter.
 
»Ich habe etwas gefunden«, sagte der Präsident. »Da ist der Herr Cardillac, dessen Tochter eine Reise nach Deutschland unternimmt und die ein wenig Konversation braucht. Man sucht ja gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten ältere Damen auf, die aus dem Elsaß stammen. Aber ich bin prinzipiell gegen diese Art Lehrerinnen, weil sie zwar die Sprache beherrschen, aber ein ganz anderes Gebiet der Sprache - nicht dasjenige, das eine junge Dame aus reichem Hause nötig hat. Es fehlt diesen Lehrerinnen an den nötigen Vokabeln. Dagegen dachte ich, daß ein junger Mann von guter Erziehung, von Welt, von Kenntnissen, von allerhand Erfahrung« - die Zahl der Tugenden Tundas wuchs zusehends - »gerade die richtige und notwendige Sprache führt. Es wird sich darum handeln, der jungen Dame auch von den Zuständen des Landes zu erzählen, in das sie jetzt fährt, ohne Kritik natürlich und ohne in ihr Vorurteile zu erwecken. Diese Vorurteile wären um so schlimmer, als Herr Cardillac, der, unter uns gesagt, gar nicht so heißt, Verwandte, entfernte Verwandte allerdings, in Deutschland besitzt, in Dresden und Leipzig, wenn ich nicht irre.«
 
Als bedürfte ein Präsident, der sich für den europäischen Frieden einsetzte, Hochachtung für Deutschland bezeugte, als bedürfte ein solcher Präsident der Erklärung dafür, daß er einen Herrn Cardillac kenne, der deutsche Verwandte besitzt, sagte der alte Herr:
 
»Herrn Cardillac kenne ich nicht genau, er selbst ist mir vor einigen Jahren empfohlen worden, von einer alten Mailänder Familie, die weltbekannte Kachelöfen und weitverbreitete Nippesgegenstände erzeugt. Herr Cardillac ist ein wohlsituierter Mann, er beschäftigt sich, glaube ich, mit Kunsthandel, seine Beziehungen sind zwar mehr geschäftlicher als gesellschaftlicher Natur, aber Sie wissen ja, mein lieber Herr« - er sagte wieder: mein lieber Herr - »wie nach dem Krieg geschäftlich und gesellschaftlich identische Begriffe geworden sind - -«
 
Und der Herr Präsident versank für einige Augenblicke in Schweigen, in eine Erholungspause, um sich von dem Schock, den er sich durch die Feststellung der Identität von gesellschaftlich und geschäftlich  selbst zugefügt hatte, zu kurieren.
 
Er wollte zwar den Frieden unter den Nationen, aber er verstand darunter den Frieden einiger gesellschaftlicher Schichten, er hatte zwar keine Vorurteile, er kam sich wie der fortschrittlichste Mensch der gebildeten Welt vor, aber die Kategorien, die er sich geschaffen hatte, lagen festgegründet gerade auf den Vorurteilen, die er ablehnte. Mit denen, die man »Reaktionäre« nennt, hatte der Präsident die Fundamente gemein, nur war sein Haus luftiger, es hatte mehr Fenster, mußte aber in dem Augenblick zusammenbrechen, in dem man das Fundament anrührte. Gewiß schämte er sich seiner Bekanntschaft mit Herrn Cardillac. Daß er von diesem Herrn sprechen mußte, war ihm unangenehm. Vielleicht wäre es ihm ebenso leichtgefallen, Tunda einem andern und höher gestellten Fräulein zu empfehlen. Aber so hoch stand Tunda nicht mehr in seinen Augen, seitdem er ihn um Hilfe gebeten hatte.

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