Barbara
1
1918
Sie
hieß Barbara. Klang ihr Name nicht wie Arbeit? Sie hatte eines jener
Frauengesichter,
die so aussehen, als wären sie nie jung gewesen. Man kann ihr Alter
auch nicht
mutmaßen. Es lag verwittert in den weißen Kissen und stach von diesen
ab durch
eine Art gelblichgrauer Sandsteinfärbung. Die grauen Augen flogen
rastlos hin
und her wie Vögel, die sich in den Wust
der Pölster verirrt; zuweilen aber kam eine Starrheit
in diese Augen; sie blieben an einem dunklen Punkt oben an der weißen
Zimmerdecke kleben, einem Loch oder einer rastenden Fliege. Dann
überdachte
Barbara ihr Leben.
Barbara
war 10 Jahre alt, als ihre Mutter starb. Der Vater war ein wohlhabender
Kaufmann gewesen, aber er hatte angefangen zu spielen und hatte der
Reihe nach
Geld und Laden verloren; aber er saß weiter im Wirtshause und spielte.
Er war
lang und dürr und hielt die Hände krampfhaft in den Hosentaschen
versenkt. Man
wußte nicht: Wollte er auf diese Art das noch übrige Geld festhalten
oder es
verhüten, daß jemand
in seine Tasche greife und sich von deren Inhalt oder Leere überzeuge?
Er
liebte es, seine Bekannten zu überraschen, und wenn es seinen Partnern
beim Kartenspiel schien, daß er schon alles verloren habe, zog er zur
allgemeinen
Verblüffung noch immer irgendeinen Wertgegenstand, einen Ring oder eine
Berlocke, hervor und spielte weiter. Er starb schließlich in einer
Nacht, ganz
plötzlich, ohne Vorbereitung, als wollte er die Welt überraschen. Er
fiel, wie
ein leerer Sack, zu
Boden und war tot. Aber die Hände hatte er noch immer in den Taschen,
und die
Leute hatten Mühe, sie ihm herauszuzerren. Erst damals sah man, daß die
Taschen
leer waren und daß er vermutlich nur deshalb gestorben war, weil er
nichts mehr
zu verspielen hatte . . .
Barbara
war I6 Jahre alt. Sie kam zu einem Onkel, einem dicken Schweinehändler,
dessen
Hände wie die Pölsterchen „Ruhe sanft“ oder „Nur ein halbes Stündchen“
aussahen, die zu Dutzenden in seinem Salon herumlagen. Er tätschelte
Barbara
die Wange, und ihr schien es, als kröchen fünf kleine Ferkelchen über
ihr Gesicht. Die Tante
war eine große Person, dürr und mager wie eine Klavierlehrerin. Sie
hatte
große, rollende Augen, die aus den Höhlen quollen, als wollten sie
nicht im
Kopfe sitzen bleiben, sondern rastlos spazierengehen. Sie waren
grünlichhell,
von jener unangenehmen Grüne, wie sie die ganz billigen Trinkgläser
haben. Mit
diesen Augen sah sie alles, was im Hause und im Herzen des
Schweinehändlers
vorging, über den sie übrigens eine unglaubliche Macht hatte. Sie
beschäftigte
Barbara, „so gut es ging“, aber es ging nicht immer gut. Barbara mußte
sich
sehr in acht nehmen, um nichts zu zerbrechen, denn die grünen Augen der
Tante
kamen gleich wie schwere Wasserwogen heran und rollten kalt über den
heißen
Kopf der Barbara.
Als
Barbara 20 Jahre alt war, verlobte sie der Onkel mit einem seiner
Freunde,
einem starkknochigen Tischlermeister mit breiten, schwieligen Händen,
die
schwer und massiv waren wie Hobel. Er zerdrückte ihre Hand bei der
Verlobung,
daß es knackte und sie aus seiner mächtigen Faust mit Not ein Bündel
lebloser
Finger rettete. Dann gab er ihr einen kräftigen Kuß auf den Mund. So
waren sie
endgültig verlobt.
Die
Hochzeit, die bald darauf stattfand, verlief regelrecht und
vorschriftsmäßig mit
weißem Kleide und grünen Myrten, einer kleinen, öligen Pfarrersrede und
einem
asthmatischen Toast des Schweinehändlers. Der glückliche
Tischlermeister
zerbrach ein paar der feinsten Weingläser, und die Augen der
Schweinehändlerin
rollten über seine starken Knochen, ohne ihm was anhaben zu können.
Barbara saß
da, als säße sie auf der Hochzeit einer Freundin. Sie wollte es gar
nicht begreifen,
daß sie Frau war. Aber sie begriff es schließlich doch. Als sie Mutter
war,
kümmerte sie sich mehr um ihren Jungen als um den Tischler, dem sie
täglich in
die Werkstätte sein Essen brachte. Sonst machte ihr der fremde Mann mit
den
starken Fäusten keine Umstände. Er schien von einer eichenhölzernen
Gesundheit,
roch immer nach frischen Hobelspänen und war schweigsam wie eine
Ofenbank.
Eines Tages fiel ihm in seiner Werkstätte ein schwerer Holzbalken auf
den Kopf
und tötete ihn auf der Stelle.
Barbara
war 22 Jahre alt, nicht unhübsch zu nennen, sie war Meisterin, und es
gab
Gesellen, die nicht übel Lust hatten, Meister zu werden. Der
Schweinehändler
kam und ließ seine fünf Ferkel über die Wange Barbaras laufen, um sie
zu
trösten. Er hätte es gar zu gerne gesehen, wenn Barbara sich noch
einmal
verheiratet hätte. Sie aber verkaufte bei einer günstigen Gelegenheit
ihre
Werkstätte und wurde Heimarbeiterin. Sie
stopfte Strümpfe, strickte wollene Halstücher und verdiente ihren
Unterhalt für
sich und ihr Kind.
Sie
ging fast auf in der Liebe zu ihrem Knaben. Es war ein starker Junge,
die
groben Knochen hatte er von seinem Vater geerbt, aber er schrie nur zu
gerne
und strampelte mit seinen Gliedmaßen so heftig, daß die zusehende
Barbara oft
meinte, der Junge hätte mindestens ein Dutzend fetter Beinchen und
Arme. Der
Kleine war häßlich, von einer geradezu robusten Häßlichkeit. Aber
Barbara sah
nichts Unschönes an ihm. Sie war stolz und zufrieden und lobte seine
guten
geistigen und seelischen Qualitäten vor allen Nachbarinnen. Sie nähte
Häubchen und
bunte Bänder für das Kind und verbrachte ganze Sonntage damit, den
Knaben herauszuputzen.
Mit der Zeit aber reichte ihr Verdienst nicht aus, und sie mußte andere
Einnahmequellen suchen. Da fand sich, daß sie eigentlich eine zu große
Wohnung
hatte. Und sie hängte eine Tafel an das Haustor, an der mit komischen,
hilflosen Buchstaben, die jeden Augenblick vom Papier herunterzufallen
und auf
dem harten Pflaster zu zerbrechen drohten, geschrieben stand, daß in
diesem Hause
ein Zimmer zu vermieten wäre. Es kamen Mieter, fremde Menschen, die
einen
kalten Hauch mit sich in die Wohnung brachten, eine Zeitlang blieben
und sich
dann wieder von ihrem Schicksal hinausfegen ließen in eine andere
Gegend. Dann
kamen neue.
Aber
eines Tages, es war Ende März, und von den Dächern tropfte es, kam er.
Er hieß
Peter Wendelin, war Schreiber bei einem Advokaten und hatte einen
treuen Glanz
in seinen goldbraunen Augen. Er machte keine Scherereien, packte gleich
aus und
blieb wohnen.
Er
wohnte bis in den April hinein. Ging in der Früh aus und kam am Abend
wieder.
Aber eines Tages ging er überhaupt nicht aus. Seine Türe blieb zu.
Barbara
klopfte an und trat ein, da lag Herr Wendelin im Bette. Er war krank.
Barbara
brachte ihm ein warmes Glas Milch, und in seine goldbraunen Augen kam
ein
warmer, sonniger Glanz.
Mit
der Zeit entwickelte sich zwischen beiden eine Art Vertraulichkeit. Das
Kind
Barbaras war ein Thema, das sich nicht erschöpfen ließ. Aber man sprach
auch
natürlich von vielem andern. Vom Wetter und von den Ereignissen. Aber
es war
so, als steckte etwas ganz anderes hinter den gewöhnlichen Gesprächen
und als
wären die alltäglichen Worte nur Hüllen für etwas Außergewöhnliches,
Wunderbares.
Es
schien, als wäre Herr Wendelin eigentlich schon längst wieder gesund
und
arbeitsfähig und als läge er nur so zu seinem Privatvergnügen länger im
Bett
als notwendig. Schließlich mußte er doch aufstehen. An jenem Tage war
es warm
und sonnig, und in der Nähe war eine kleine Gartenanlage. Sie lag zwar
staubig
und trist zwischen den grauen Mauern, aber ihre Bäume hatten schon das
erste
Grün. Und wenn man die Häuser rings vergaß, konnte man für eine Weile
meinen,
in einem schönen, echten Park zu sitzen. Barbara ging zuweilen in jenen
Park
mit ihrem Kinde. Herr Wendelin ging mit. Es war ein Nachmittag, die
junge Sonne
küßte eine verstaubte Bank, und sie sprachen. Aber alle Worte waren
wieder nur
Hüllen, wenn sie abfielen, war nacktes Schweigen um die beiden, und im
Schweigen zitterte der Frühling.
Aber
einmal ergab es sich, daß Barbara Herrn Wendelin um eine Gefälligkeit
bitten
mußte. Es galt eine kleine Reparatur an dem Haken der alten Hängelampe,
und
Herr Wendelin stellte einen Stuhl auf den wackligen Tisch und stieg auf
das
bedenkliche Gerüst. Barbara stand unten und hielt den Tisch. Als Herr
Wendelin
fertig war, stützte er sich zufällig auf die Schulter der Barbara und
sprang
ab. Aber er stand schon lange unten und hatte festen Boden unter seinen
Füßen,
und er hielt immer noch ihre Schulter umfaßt. Sie wußten beide nicht,
wie ihnen
geschah, aber sie
standen
fest und rührten sich nicht und starrten nur einander an. So verweilten
sie
einige Sekunden. Jedes wollte sprechen, aber die Kehle war wie
zugeschnürt, sie
konnten kein Wort hervorbringen, und es war ihnen wie ein Traum, wenn
man rufen
will und doch nicht kann. Sie waren beide blaß. Endlich ermannte sich
Wendelin.
Er ergriff Barbaras Hand und würgte hervor: „Du!“ „Ja!“ sagte sie, und
es war,
als ob sie einander erst jetzt erkannt hätten, als wären sie auf einer
Maskerade nur so nebeneinander hergegangen und hätten erst jetzt die
Masken
abgelegt.
Und
nun kam es wie eine Erlösung über beide. „Wirklich? Barbara? Du ?“
stammelte
Wendelin. Sie tat die Lippen auf, um „Ja“ zu sagen, da polterte
plötzlich der kleine Philipp von einem Stuhl herab und erhob ein
jämmerliches Geschrei.
Barbara mußte Wendelin stehenlassen, sie eilte zum Kinde und beruhigte
es.
Wendelin folgte ihr. Als der Kleine still war und nur noch ein
restliches
Glucksen durch das Zimmer flatterte, sagte Wendelin:„Ich hol' sie mir
morgen!
Leb woh!!“ Er nahm seinen Hut und ging, aber um ihn war es wie
Sonnenglanz, als
er im Türrahmen stand und noch einmal auf Barbara zurückblickte.
Als
Barbara allein war, brach sie in lautes Weinen aus. Die Tränen
erleichterten
sie, und es war ihr, als läge sie an einer warmen Brust. Sie ließ sich
von dem
Mitleid, das sie mit sich selbst hatte, streicheln. Es war ihr lange
nicht so
wohl gewesen, ihr war wie einem Kinde, das sich in einem Wald verirrt
und nach
langer Zeit wieder zu Hause angekommen war.
So
hatte sie lange im Walde des Lebens herumgeirrt, um jetzt erst nach
Hause zu treffen.
Aus einem Winkel der Stube kroch die Dämmerung hervor und wob Schleier
um
Schleier um alle Gegenstände. Auf der Straße ging der Abend herum und
leuchtete
mit einem Stern zum Fenster herein. Barbara saß noch immer da und
seufzte still
in sich hinein. Das Kind war in einem alten Lehnstuhl eingeschlummert.
Es
bewegte sich plötzlich im Schlafe, und das brachte Barbara zur
Besinnung. Sie machte
Licht, brachte das Kind zu Bett und setzte sich an den Tisch.
Das
helle, vernünftige Lampenlicht ließ sie klar und ruhig denken. Sie
überdachte
alles, ihr bisheriges Leben, sie sah ihre Mutter, ihren Vater, wie er
hilflos
am Boden lag, ihren Mann, den plumpen Tischler, sie dachte an ihren
Onkel, und
sie fühlte wieder seine fünf Ferkel.
Aber
immer und immer wieder war Peter Wendelin da, mit dem sonnigen Glanz in
seinen
guten Augen. Gewiß würde sie morgen „Ja“ sagen, der gute Mensch, wie
lieb sie
ihn hatte. Warum hatte sie ihm eigentlich nicht schon heute „Ja“
gesagt? Aha!
Das Kind! Plötzlich fühlte sie etwas wie Groll in sich aufsteigen. Es
dauerte
bloß den Bruchteil
einer Sekunde, und sie hatte gleich darauf die Empfindung, als hätte
sie ihr
Kind ermordet. Sie stürzte zum Bett, um sich zu überzeugen, daß dem
Kind kein
Leid geschehn war. Sie beugte sich darüber und küßte es und bat es mit
einem
hilflosen Blick um Verzeihung. Nun dachte sie, wie doch jetzt alles so
ganz
anders werden müßte. Was geschah mit dem Kinde? Es bekam einen fremden
Vater,
würde er es liebhaben
können? Und sie, sie selbst? Dann kamen andere Kinder, die sie mehr
liebhaben
würde. - - - - War das möglich? Mehr lieb? Nein, sie blieb ihm treu,
ihrem
armen Kleinen. Plötzlich war es ihr, als würde sie morgen das arme,
hilflose
Kind verlassen, um in eine andere Welt zu gehen. Und der Kleine blieb
zurück. -
- Nein, sie wird ja bleiben, und alles wird gut sein, sucht sie sich zu
trösten. Aber immer wieder kommt
diese Ahnung. Sie sieht es, ja, sie sieht es schon, wie sie den Kleinen
hilflos
läßt. Selbst wird sie gehen mit einem fremden Manne. Aber er war ja gar
nicht
fremd!
Auf
einmal schreit der Kleine laut auf im Schlafe. „Mama! Mama!“ lallt das
Kind;
sie läßt sich zu ihm nieder, und er streckt ihr die kleinen Händchen
entgegen.
Mama! Mama! es klingt wie ein Hilferuf. Ihr Kind! - So weint es, weil
sie es
verlassen will. Nein! Nein! Sie will ewig bei ihm bleiben.
Plötzlich
ist ihr Entschluß reif. Sie kramt aus der Lade Schreibzeug und Papier
und
zeichnet mühevoll hinkende Buchstaben auf das Blatt. Sie ist nicht
erregt, sie
ist ganz ruhig, sie bemüht sich sogar, so schön als möglich zu
schreiben. Dann
hält sie den Brief vor sich und überliest ihn noch einmal.
„Es
kann nicht sein. Wegen meines Kindes nicht!“ Sie steckt das Blatt
in einen Umschlag und
schleicht sich leise in den Flur zu seiner Tür.
Morgen
würde er es finden.
Sie
kehrt zurück, löscht die Lampe aus, aber sie kann keinen Schlaf finden,
und sie
sieht die ganze Nacht zum Fenster hinaus.
Am
nächsten Tage zog Peter Wendelin aus. Er war müde und zerschlagen, als
hätte er
selbst alle seine Koffer geschleppt, und es war kein Glanz mehr in
seinen
braunen Augen. Barbara blieb den ganzen Tag über in ihrem Zimmer. Aber
ehe
Peter Wendelin endgültig fortging, kam er mit einem Sträußlein
Waldblumen
zurück und legte es stumm auf den Tisch der Barbara. Es lag ein
verhaltenes
Weinen in ihrer Stimme,
und als sie ihm die Hand zum Abschied gab, zitterte sie ein wenig.
Wendelin sah
sich noch eine Weile im Zimmer um, und wieder kam ein goldener Glanz in
seine
Augen, dann ging er. Drüben im kleinen Park sang eine Amsel, Barbara
saß still
und lauschte. Draußen am Haustor flatterte wieder die Tafel mit der
Wohnungsanzeige im Frühlingswind.
Mieter
und Monde kamen und gingen, Philipp war groß und ging in die Schule. Er
brachte
gute Zeugnisse heim, und Barbara war stolz auf ihn. Sie bildete sich
ein, aus
ihrem Sohne müsse etwas Besonderes werden, und sie wollte alles
anwenden, um
ihn studieren zu lassen. Nach einem Jahre sollte es sich entscheiden,
ob er
Handwerker werden oder ins Gymnasium kommen sollte. Barbara wollte mit
ihrem
Kinde höher hinauf.
Alle die Opfer sollten nicht umsonst gebracht sein.
Zuweilen
dachte sie noch an Peter Wendelin. Sie hatte seine vergilbte
Visitkarte, die
vergessen an der Tür steckengeblieben war, und die Blumen, die er ihr
zum
Abschied gebracht hatte, in ihrem Gebetbuch sorgfältig aufbewahrt. Sie
betete
selten, aber an Sonntagen schlug sie die Stelle auf, wo die Karte und
die
Blumen lagen, und verweilte lange über den Erinnerungen.