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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Karriere

Er war dreiundzwanzig Jahre zweiter Buchhalter bei der Firma Reckzügel und Compagnie, Sattel- und Riemenzeug-Export en gros, und verdiente dreihundertundfünfzig Kronen im Monat.
 
Und hieß Gabriel Stieglecker.
 
Und weiters ist über ihn zu sagen, daß er, um nicht ganz zu verhungern, nach Nebenverdiensten suchte und einige fand. Er leistete bei den Firmen Brüder Pollacek, Simon Silberstein und Bruder, Rosalie Funkel Aushilfsdienste jeden Monat einige Tage vor Ultimo. Zusammen hatte Gabriel Stieglecker sechshundertundfünfund-siebzig Kronen im Monat. Und davon starb er nun schon drei Jahre und fünf Monate lang.
 
Er war ein ausgezeichneter, prompter und verläßlicher Buchhalter. Die Firmen Brüder Pollacek, Simon Silberstein und Bruder und Rosalie Funkel konnten sich dank den Leistungen des Gabriel Stieglecker einen eigenen Buchhalter ersparen. Er hielt ihre Bücher in Ordnung, wußte auch, was vor Steuerbehörden und Polizei verborgen bleiben mußte, und war diskret wie ein Brunnenloch.
 
Gabriel Stieglecker liebte seinen Beruf. Die grüne Tinte bevorzugte er vor der blauen und vor dieser die rote. Aber am liebsten war ihm die violette. Alle Buchhalter der Welt schrieben Zahlen in schwarzer Kaisertinte. Gabriel Stieglecker schrieb grundsätzlich violette Zahlen. Er behauptete, von der violetten Tinte bestimmt zu wissen, daß sie dauerhafter sei als die andere und mit einer unerreichbaren Intensität durch die Poren des Papiers dringe. Ja, es sei sogar anzunehmen, daß mit violetter Tinte geschriebene Ziffern noch lange nach dem völligen Zerfall des Papiers gleichsam wie transparente Bilder in der Luft fortbeständen.
 
Was die von Gabriel Stieglecker geschriebenen Ziffern selbst betrifft, so ist zu bemerken, daß sie niemals mit andern zu verwechseln waren. Sie hatten eine persönliche Note, einen Charakter, waren Individualitäten. Die 3 hatte keinen Bauch, die 2 keinen Buckel, die 7 keinen Schwanz. Sondern alle Ziffern hatten „Linie“, waren zart und schlank wie moderne Frauen und konnten an künstlerischem Schwung nur von Modellzeichnungen in den neuesten Modezeitschriften übertroffen werden.
 
Denn Gabriel Stieglecker liebte seine Geschöpfe, die Ziffern. Er blies ihnen sozusagen seinen Atem ein, und davon erschienen sie so unterernährt. Er spielte mit ihnen wie ein Knabe mit Zinnsoldaten, er ließ sie in Doppelreihen aufmarschieren und markierte den Rand eines Exerzierplatzes durch einen grasgrünen Strich. Oder er richtete mit roter Tinte ein Blutbad unter ihnen an, das aber niemals mutwillig und schrankenlos sich über das Blachfeld ergießen durfte, sondern mittels eines Lineals gewissermaßen in säuberliche Kanäle abgeleitet wurde.
 
Ordnung mußte sein, auf jeden Fall.
 
Nur so ist es zu verstehen, daß Gabriel Stieglecker nun schon den sechsten Monat des vierten Jahres mit sechshundertundfünfundsiebzig Kronen Monatslohn stirbt. Ich sage: „stirbt“, nicht etwa aus Vergeßlichkeit, sondern mit Absicht. Denn die Geschichte ist wahr, Gabriel Stieglecker heißt anders, aber er lebt. Die Geschichte ist übrigens zu merkwürdig, als daß jemand anderer als das Leben sie erfunden haben könnte. Wie aus dem Folgenden zu ersehen ist.
 
Gabriel Stieglecker war immer noch Gast am Stammtisch im Cafe Aspern, wo er allsonntäglich einen Schwarzen mit Sacharin trank. Und allsonntäglich mußte er, der gerade damit beschäftigt war, über den seltsamen Patinaglanz seiner gestern erstandenen violetten Tinte nachzudenken, Vorwürfe anhören. Warum er denn noch immer nicht eine Gehaltserhöhung verlangt habe? Und ob er denn nicht einsehe, daß er schändlich ausgebeutet würde? heutzutage? von der Firma? der sauberen Gesellschaft?
 
Um diese Vorwürfe rasch und sicher vergessen zu können, ging Gabriel Stieglecker jeden Sonntag nach der Stammtischsitzung ins Büro Zahlen schreiben. Gabriel Stieglecker erledigte das ganze Montagsmorgenpensum und wäre eigentlich sehr glücklich darüber schlafen gegangen, wenn ihn nicht die Sorge geplagt hätte, daß er - am nächsten Morgen nichts mehr zu tun haben würde.
 
So waren Gabriel Stiegleckers Sonntagsnächte qualvoll und zerrissen. Gabriel Stieglecker war überhaupt gegen Sonntage.
 
An einem und demselben Tag geschah folgendes:
 
Die Wäscherin kündigte eine zehnprozentige Erhöhung an; die Elektrische führte den Zweikronentarif ein; und die Wirtin erhöhte den Mietzins mit Rücksicht auf die „Verteuerung der Elektrizität“ um dreißig Kronen.
 
(Daß Gabriel Stieglecker trotzdem kein elektrisches Licht im Zimmer hatte, setze ich als selbstverständlich voraus und erwähne es nur zum Zweck der Beruhigung aller jener, die sich etwa über das Vorgehen der Wirtin Gabriel Stiegleckers aufregen sollten.)
 
Diese drei Katastrophen veranlaßten den zweiten Buchhalter Gabriel Stieglecker, sich beim ersten Buchhalter Rat zu erbitten.
 
Der erste Buchhalter nahm seine Brille ab, die er bei der Arbeit trug, und setzte den goldenen Zwicker auf; was er sonst nur zu tun pflegte, wenn ihn der Prokurist rufen ließ.
 
Der erste Buchhalter sah aber nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, durch die Mitte der Zwickergläser, sondern über deren oberen Goldrand hinweg auf Gabriel. Dabei neigte er den Kopf auf die Brust, und es sah aus, als wollte er mit imaginären Hörnern gegen Gabriel anrennen.
 
„Die zwanzigprozentige Aufbesserung dürfte Ihnen doch wohl genügen, oder nicht?« sagte der erste Buchhalter, der nur deshalb erster war, weil er schon zweiunddreißig Jahre im Hause Ziffern schrieb; nur mit Kaisertinte natürlich. Seine Frage war geflüstert, aber sie trug deutlich die Tonfarbe eines etwa in Wolkenpölstern gedämpften Donnergrollens.
 
„Ich habe keine zwanzigprozentige Aufbesserung erhalten!“ stöhnte Gabriel.
 
„Dann müssen Sie sie verlangen“, sagte der erste Buchhalter laut, wobei er den Zwicker wieder abnahm und die Brille aufsetzte.
 
Infolgedessen mußte sich Gabriel Stieglecker entfernen.
 
Er ging an seinen Schreibtisch und dachte nach. Eine zwanzigprozentige Aufbesserung direkt verlangen konnte man nicht. Wohl aber konnte man unter behutsamer Berufung auf die seinerzeit gütigst erfolgte Aufbesserung an alle Angestellten und mit Rücksicht auf die durch die allgemeine Teuerung besonders erschwerte Lebensführung um eine Gehaltserhöhung von fünfzig Kronen ergebenst ansuchen.
 
Gabriel Stieglecker tauchte eine neue Feder in die violette Tinte mit dem seltsamen Patinaglanz und schrieb einen Brief an seinen Chef. Er bat um fünfzig Kronen und zeichnete schließlich nicht nur hochachtungsvoll ergebenst, sondern auch noch ganz tief, in der unteren Ecke rechts, seinen Namen. So tief, daß der Familienname fast unter den Tisch gefallen wäre.
 
Am nächsten Morgen fand Gabriel Stieglecker auf seinem Tisch einen Brief, in dem ihm die Firma mitteilte, daß sein Gehalt ab Fünfzehnten dieses Monats um fünfundzwanzig Kronen mehr betrage.
 
Zu Hause fand Gabriel Stieglecker zu seiner großen Überraschung einen anderen Brief vor. Und zwar von der Firma Simon Silberstein und Bruder, bei der Gabriel aushilfsweise Buchhalter war. Vielleicht stand darin um Gottes willen, daß die Firma auf seine weiteren Dienste verzichte? Dann konnte er freilich verzweifeln.
 
Aber die Firma Simon Silberstein und Bruder teilte dem Buchhalter Gabriel Stieglecker mit, daß sie ihren Betrieb bedeutend erweitert habe und daß sie ihn als ersten Buchhalter mit einem Anfangsgehalt von tausend Kronen zu engagieren wünsche. Gabriel Stieglecker möchte sofort schriftlich mitteilen, ob er diese Stellung anzunehmen „bereit, eventuell in der Lage“ wäre.
 
Gabriel Stieglecker überzeugte sich zuerst von der Echtheit der Unterschrift und setzte sich sofort an seinen Schreibtisch, um seine Bereitwilligkeit zum Eintritt bei der Firma Simon Silberstein und Bruder unter den ihm im Schreiben Zahl soundso mitgeteilten Bedingungen kundzugeben. Aber er erinnerte sich, daß er zu Hause keine violette Tinte habe. Mit schwarzer Kaisertinte aber konnte er einen Brief von solch entscheidender Bedeutung natürlich nicht schreiben.
 
Während er Polenta mit Sauce aß, kamen ihm Bedenken. Jetzt mußte er natürlich kündigen! Aber wie? Konnte man so ohne weiteres einen Brief an die Firma schreiben? Ging das so? Jetzt war er dreiundzwanzig Jahre im Hause. Noch zwei Jahre, und er würde ein Jubiläum feiern. Der Chef selbst würde kommen und ihm ein Präsent überreichen, vielleicht eine außertourliche Zuwendung, und der Prokurist würde eine kleine Rede halten, und der Oberbuchhalter würde seinen goldenen Zwicker aufhaben. Konnte man so ohne weiteres kündigen?
 
Und wenn schon! Die Kündigung allein hätte natürlich wenig gemacht! Aber sicherlich würde ihn der Chef, zumindest Herr Reckzügel junior, in das Chefzimmer rufen. Und das Zimmer, ja, das war es, was Gabriel eigentlich fürchtete.
 
Es war eine Doppeltür. Die erste war aus Holz, und die zweite war gepolstert. Sie erinnerte so von ungefähr an eine Kassaschranktür, nur war sie lautlos und vornehm. Wenn man die Tür nur ansah, fühlte man schon weiche Müdigkeit. Sitzend auf gepolsterten Lederstühlen, war man in den vorhypnotischen Zustand versetzt, in den man unbedingt fallen mußte, wenn der Herr Reckzügel jemanden anredete. Im Zimmer standen breite, behagliche Ledersofas um einen nußbraunen Tisch. In der Ecke links wuchtete ein massiver Schreibtisch, und an der linken Wand schlief die braune Feuerkassa mit ihren zugefallenen metallenen Klappenlidern über den Schlössern. In der Luft aber war ein sinnbetörender Duft von Havanna, Ananasäpfeln und Perolin.
 
Dieses Zimmer malte sich Gabriel so deutlich aus, daß er in eine Art Lethargie fiel. In diesem Zustand schrieb er einen Brief an die Firma Simon Silberstein und Bruder, in dem er hervorhob, daß er die Ehre wohl zu schätzen wisse, aber mit Rücksicht auf sein langjähriges Verhältnis zu dem Hause, in dem er jetzt seit nunmehr dreiundzwanzig Jahren bedienstet sei, um eine Bedenkzeit von acht Tagen bitten
müsse.
 
Diese acht Tage waren die unangenehmsten in Gabriels nicht sehr angenehmem Leben.
 
Gabriel Stieglecker hatte sogar seine Ziffern vergessen. Er dachte nicht mehr recht an sie, und es kam vor, daß er - man denke! - mit schwarzer Kaisertinte eine ganze Zahlenreihe auf der Soll-Seite schrieb. Hier und dort hatte sogar eine 2 schon einen Buckel, eine 7 schon einen Schwanz. Es war schrecklich.
 
Am Montag hatte sich Gabriel zu entscheiden. Am Sonntag ging er nicht in sein Stammcafe. Und auch nicht ins Büro.
 
Vielmehr machte Gabriel einen Spaziergang durch den Stadtpark in Anbetracht des schon frühlingsmilden Wetters. Und begegnete der Firma Simon Silberstein und Bruder.
 
Die Firma Silberstein und Bruder war unerhört freundlich mit Gabriel. Sie nahm die Voraussetzung, daß er als Buchhalter eintreten würde, als schon gegeben an und ließ sich überhaupt nur mehr in Detailfragen ein. Schließlich lud sie ihn auch noch zu einem bescheidenen Nachtmahl im Parkrestaurant ein. - -
 
Als Gabriel am Sonntagabend heimkehrte, stand es bei ihm fest, daß er bei der Firma Silberstein und Bruder eintreten würde. Er stand um fünf Uhr früh auf, rasierte sich und machte mit einem Stuhl Gelenksübungen. Er atmete tief, hielt den Atem ein und führte sich überhaupt sehr sonderbar auf. Er gymnastizierte sich Mut zu. Dann fuhr er ins Büro mit der Straßenbahn; zum ersten Male seit der Einführung des Zweikronentarifes.
 
Er setzte sich schnell und mit jünglinghafter Gebärde an den Schreibtisch, tunkte eine neue Feder in die violette Tinte mit dem seltsamen Patinaglanz und schrieb, schrieb seine Kündigung.
 
Just als er hochachtungsvoll ergebenst schließen wollte, kam der Diener. Gabriel sollte zum Chef.
 
Seit dem ersten Jänner, an welchem Tage Gabriel Stieglecker nach althergebrachter Sitte
dem Chef viel Glück zum neuen Jahre gewünscht hatte, war Gabriel Stieglecker nicht in dem gefährlichen, hypnotisierenden Zimmer gewesen. Was wollte der Chef? Vielleicht hatte er schon eine Ahnung und wollte gar Gabriel zuvorkommen? Nun! Desto besser!
 
Im Zimmer des Chefs duftete es sehr nachdrücklich nach Zigarren, Ananas und Perolin.
 
Der Herr Reckzügel senior stand in der Mitte unter dem Kronleuchter, dessen unterster Messingknopf sich bequem in seiner Glatze spiegelte, und hielt einen dunkelblauen Rock in der Hand.
 
Gabriel blieb hart an der gepolsterten Tür stehen. Er war betäubt. Wie durch eine sehr dicke Wand hörte er den Chef:
 
„Herr Stieglecker, ich wollte nur sagen, daß ich diesen noch an und für sich“ - Herr Reckzügel sagte immer „an und für sich“ – „sehr gebrauchsfähigen Rock in meinem Schrank gefunden habe. Ich glaube bemerkt zu haben, daß Sie sich gegenwärtig leider in nicht sehr günstigen Verhältnissen befinden. Ich wollte nur sagen, daß an und für sich nichts daran wäre. Sie wissen, wie ich es meine, wenn Sie et cetera.“  Herr Reckzügel sagte immer „et cetera“, wenn er nichts Passendes wußte.
 
Gabriel Stieglecker wankte mit dem Rock hinaus und an seinen Schreibtisch. Hier brach er zusammen. Den Kündigungsbrief zerriß er in unzählige Fetzen. Und dachte dabei angestrengt nach, daß er den Rock zerreiße.
 
Wie konnte man da kündigen? Der Rock, der Rock! Durfte er so undankbar sein? Einen Rock hatte ihm der gegeben, und er sollte kündigen?! Das tat er nicht, er, Gabriel Stieglecker. Sondern er tat folgendes: Er tunkte abermals eine neue Feder in die violette Tinte mit dem seltenen Patinaglanz und schrieb an die Firma Simon Silberstein und Bruder, daß er für die gestrige freundliche Einladung sehr dankbar sei, jedoch mit Rücksicht auf ganz besondere, erst im Laufe der letzten Stunde eingetretene Umstände gezwungen sei usw.
 
Dann schrieb Gabriel mit derselben Feder tadellos schlanke Ziffern mit violetter, patinaschimmernder Tinte auf die Haben-Seite.
 
Es waren die herrlichsten Ziffern, die Gabriel Stieglecker je geschrieben hatte.

 






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