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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Kranke Menschheit 1
undatiert


Es war eine stille Gasse. Wie irgendeine in einem Vorort. Der Lärm  der Großstadt drang in die Gasse nur als fernes, seltsames Summen und Klingeln. Kleine Häuser und dürftige Gärten umsäumten sie. Herbstlich-mild und freundlich war der Tag. Einer von den Tagen, die man genießen soll mit gleichmutsvoller, ruhiger Seele.
 
Wenn man in der Gasse fortging, immer fort, dann kam man wohl  irgendwohin ins Freie, wo sich die kleinen Häuser nicht mehr aneinanderklammerten, sondern lose standen und frei, wo Wiesen waren und Sträucher, wo dunkle Berge und Wälder lockten; wo Menschenpaare gingen und aus Tüten Zwetschken aßen und die Hände verschlungen hielten, um einander am hellen Tag ihre Liebe durch stark-zärtlichen Druck zu bezeigen; wo aus Häusern Stangen mit häßlichen Strohgeflechten hingen und verkündeten, daß aufs neue ein Herbst gekommen war mit neuern, heurigem, Fröhlichkeit und, ach, Vergessenheit bringendem Trunk.
 
Aber die wenigen Menschen, die an diesem Tage in der Gasse gingen, hatten keine Zeit, den Wiesen und Wäldern zuzueilen, sich der Liebe oder dem Weine hinzugeben. Sie wendeten sich stadtwärts, sie gingen im Trott des Alltags: Männer in blauen, ölbefleckten Arbeitskleidern, Männer mit Amtskappen, Frauen in Kleidern, die hell und bunt waren wie der Tag; sie trugen große Taschen leicht und sicher, und die unförmliche Last vermochte nicht die zierliche Schönheit ihres Schrittes zu hemmen, der die Frauen dieser Stadt auszeichnet.
 
Einer ging unter ihnen, der nicht zu den Menschen dieser Gasse zu gehören schien, der irgendwie fremd war in der Gasse, der kein Ziel zu haben schien wie sie. Ein großer Mann in schlichtem, dunklem Gewand, barhaupt, ein wenig gebeugt, ein wenig unsicheren, schwankenden Schrittes, den rechten Fuß mit einiger Mühe schleppend. Er sah die Menschen, die vorübergingen, forschend an, und die Frauen erschraken ein bißchen, wenn sie der Blick traf, aus Augen, die groß, dunkel, ein wenig starr in dem bleichen Antlitz standen. Er sah die Häuser an, eines nach dem anderen, und schien eines von ihnen zu suchen. Aber er hatte offenbar keine Eile; er ging ganz langsam, schier, als ob er sich gefürchtet hätte, zu finden, was er suchte. Man kommt auch mit langsamem, schwankendem Schritt zum Ziele: Da stand unter den niederen Häusern eines, das groß war und stattlich, nicht aufdringlich, eher anmutig und freundlich wie ein Landsitz, der vor langen Zeiten einem großen Herrn zur Kurzweil gedient hatte, wenn er ausruhen wollte von den Anstrengungen der Machtausübung. Die Inschrift freilich, die das große Tor trug, war wenig anmutig. „Spitalseingang“ stand dort in großen Buchstaben.
 
Der fremde Mann in der stillen Gasse zuckte ein bißchen zusammen, als er zu dem Hause gelangte und die Inschrift las. Und er ging ein bißchen schneller; deutlicher merkte man das Nachschleppen des rechten Fußes. Er ging an dem Hause vorüber, weiter in der stillen Gasse, die ins Freie führte zu Wiesen und zum Wald. Der Mann konnte nicht in den Wald gehen, in den ruhigen, weiten, freien; er konnte es gestern nicht, er durfte es heute und morgen nicht.
 
Er gehorchte dem Zwang, der in ihm war und ihn unsichtbar umgab, und ging zurück zu dem Hause, das wie ein alter, freundlicher Landsitz aussah und die Inschrift „Spitalseingang“ trug.
 
Ein blondes Mädchen stürmte aus einem Hauseingang, verfolgt von einem strahlenden Burschen. Es kreischte und lief blind in sorglosem Ungestüm. Und stieß mit dem Manne zusammen, der in der Gasse ging. Er taumelte, suchte Halt an einem Gitter und sah in das heiße, junge Gesicht. Das Mädchenlachen erlosch. Da kam schon der Bursche, nahm heftig den Arm des Mädchens und führte es die Gasse entlang den Wiesen und Sträuchern zu. Und das Mädchenlachen erfüllte wieder die Gasse und kam zurück zu dem Manne, der noch beim Gitter stand und der freien, unbekümmerten Jugend nachsah, die es eilig hatte, seinem Blick zu entrinnen. Noch ein Weilchen stand das Jugendlachen in seinem Ohr, ward schließlich mißtönend, verzerrt und verließ ihn.
 
Dann stand er wieder vor dem freundlich-ernsten Landsitz. Er maß das Haus mit langem Blick und suchte die Mauern zu durchdringen und des Hauses Geheimnisse zu erforschen.
 
Er sah eine Tafel, auf der geschrieben stand, daß die Kranken der ersten und zweiten Klasse täglich von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends und die Kranken der dritten Klasse an vier Tagen der Woche von zwei bis vier Uhr nachmittags Besuche empfangen dürfen. Eines wußte er nun: Es war Ordnung hinter dem braunen Tor. Da freute er sich in der schönen Erkenntnis, daß die Menschen Ordnungssinn haben und ihn überall, wo sie nur können und es für nötig halten, betätigen. Nur die große Welt, in der sie alle, die Brüder und Schwestern, die Klassen und die Rassen und die Völker, nebeneinander leben müssen, ist noch ein wenig in Unordnung. Da nützen selbst die Tafeln mit der Einteilung für die Menschen der ersten und zweiten und die Menschen der dritten Klasse nicht viel. Aber einmal, irgend einmal wird schon der schöne, immer wache, immer taten bereite Ordnungssinn der Menschen Ordnung schaffen, überall, in den Städten, in den Ländern, in der ganzen, großen, schönen Welt. Heute wollte er zufrieden sein in dem Bewußtsein, daß Ordnung war hinter dem stattlichen braunen Tor.
 
Und der fremde Mann in der stillen Gasse versuchte, ein wenig zu lächeln; es ward aber ein verzerrtes Grinsen, bei dem der rechte Mundwinkel tiefer hing als der linke.
 
Da tat sich die kleine Pforte auf, die neben dem großen braunen Tore war, ein kleiner, dicker Mann mit einem Käppchen auf dem Kopfe kam heraus und sagte mit beflissener Freundlichkeit: „Guten Tag, Herr, wollen Sie zu uns kommen? Bitte, gehen Sie nur weiter!“ Seine Hand wies höflich einladend den Weg.
 
Ein kleiner Schauer lief über die lange, schmale Gestalt des Mannes, aber es war der Zwang in ihm und um ihn, der Zwang, der ihn oft begleitet hatte in stillen Gassen und auf breiten, lärmenden Straßen und Plätzen. Und er ging durch die Pforte und bückte sich ein wenig, weil sie nieder war.
 
Sorgsam schloß der freundliche Türhüter die Pforte der Nervenheilanstalt und geleitete, immer ruhig-höflich, den fremden Mann wie einen Gast. Er führte ihn in eine große, helle Vorhalle, wo Menschen auf Sesseln, Bänken und in Rollwägelchen saßen und warteten. Heinrich Reinegg setzte sich zu ihnen und begann zu warten wie sie. Es ist gleichgültig, dachte er, wo man wartet. Irgendwo, irgendwie warten wir immer.
 
Sie musterten den Neuen neugierig, fast wohlwollend. Und tuschelten. Eine Frau kam in blauer Schwesterntracht, groß und ernst, und half einem Mädchen, das im Rollstuhl saß, beim Aufstehen. Das Gesicht des Mädchens war fein und schmal und lächelnd. Indes: Das Leid schien im Kampf mit der Heiterkeit zu liegen. Das Mädchen stützte sich auf zwei Stöcke, die am Ende einen Gummibelag hatten. Schon hatte es sich aufgerichtet, da rutschte ein Stock auf dem glatten Boden, und das Mädchen fiel mit einem leise klagenden Ruf zu Boden. Heinrich Reinegg, der zunächst saß, half der Schwester, das Mädchen auf die Beine zu bringen. Es war kein schweres Bemühen; unheimlich leicht war dieser Mädchenkörper. Das Mädchen sah dankend in diegroßen, dunklen, starren Augen des fremden Mannes; es erschrak nicht wie die Frauen draußen vor dem braunen Tor; es lächelte wieder: heiter und ein wenig leidvoll.
 
Nun stand das Mädchen wieder auf den schmalen Füßen und mußte gehen. Es setzte zaghaft den linken Fuß vor, schnellte den rechten ein wenig in die Höhe und dann nach vorne und zur Erde. Dann waren zwei Schritte getan. Die Schwester führte das Mädchen langsam und geduldig zu einer weißen Türe. Heinrich Reinegg dachte einen Augenblick an die zierlichen, sicheren, leichten Schritte der Frauen und Mädchen, die draußen in der Gasse gingen.
 
„Die wird nicht mehr tanzen“, sagte ein Mann, der über dem linken Auge eine schwarze Binde trug; sie verdunkelte sein hageres Gesicht. Niemand antwortete.
 
Eine alte Frau schüttelte den kleinen, grauen Kopf. Es war eine ganz leichte, mißbilligende Bewegung. Sie erfolgte in regelmäßigen, kleinen Zeitabständen. Warum sollte sie nicht den Kopf schütteln, dachte Heinrich Reinegg, es ist ganz natürlich, daß sie es tut.
 
Unwillig sah die alte Frau den Mann mit der schwarzen Binde an. Sie beugte sich zu dem jungen Mann, der gleichgültig neben ihr saß, und begann zu flüstern. Der junge Mann sagte ruhig: „Reg dich nicht auf, Mutter, warum regst du dich auf? Es steht nicht dafür.“ Teilnahmslos ging sein Blick über den Raum, über die Menschen und Gegenstände.
 
Ein paar Augenblicke lang blieb er an den Händen eines kleinen, schwarzhaarigen Mädchens haften, die ohne Unterlaß in einem Buche blätterten. Aber als das Mädchen seinen Blick fühlte und ihn ansah, wendete er sich unbewegt ab.
 
Der Mann mit der schwarzen Binde litt unter der hämischen Stille. Er verstand nicht, warum sie nicht antworteten. Seine Stimme hatte einen ganz kleinen Bruch, als er sagte: „Sie ist Tänzerin. Tänzerin von Beruf.“ Und sein rechtes Auge blickte unruhig nach der Tür, hinter der die Tänzerin war.
 
Da folgten sie alle, ein wenig betroffen, dem Blicke seines rechten Auges. Und sahen alle nach der weißen Tür. Dann begann die alte Frau wieder, den Kopf zu bewegen, leise und ein wenig mißbilligend. Ihr Sohn sah gleichgültig nach der Uhr. Das schwarzhaarige Mädchen blätterte wieder in dem Buche.
 
Aber plötzlich legte die Schwarzhaarige das Buch mit einem kleinen Knall auf den Tisch, wendete ihr kleines Mädchengesicht dem Manne mit der schwarzen Binde zu und sagte mit einigem Nachdruck: „Vor sechs Wochen konnte ich auch nicht gehen. Jetzt kann ich schon wieder gehen. Bald werde ich hinausgehen. Bald werde ich wieder wandern. Vielleicht schon in einer Woche. Jetzt werde ich es gleich hören, wann ich hinausgehen darf.“ Sie sah zum Fenster und darin zur weißen Tür. „Ja. Und die Tänzerin wird schon auch wieder gehen können. Und tanzen, ja, vielleicht wird sie sogar tanzen können.“ Da brach sie ab. Und alle wußten, daß sie in ihren Gedanken hinzufügte: Und wenn sie auch nicht tanzen kann -! Die Tänzerin!
 
Die alte Frau vergaß, den Kopf zu schütteln; es war ein leichter, freudiger Schimmer in ihrem grauen Gesicht. „Sei still, Mutter“, murmelte gleichmütig ihr Sohn, „sei still, es steht nicht dafür.“ So nahm er ihr das Wort, ehe sie es sprechen konnte.
 
Der Mann mit der schwarzen Binde sah zornig mit dem rechten Auge das schwarzhaarige Mädchen an. „Das ist etwas ganz anderes bei Ihnen“, sagte er, „was hat Ihnen gefehlt? Sie haben etwas ganz anderes. Was wollen Sie sagen? Sie werden wieder gehen. Wer weiß, wohin Sie gehen. Aber diese Frau - sie wird nicht mehr tanzen können.“ Seine Stimme war noch ein wenig brüchiger. Er hatte zu viel und zu lange gesprochen. Nun schwieg er. Und rückte die schwarze Binde zurecht.Die große, ernste Schwester öffnete die weiße Tür und führte die Tänzerin heraus. Behutsam setzte die Tänzerin den linken Fuß vor, dann hüpfte der rechte in die Höhe und nach vorne und zur Erde. Und seltsam schwang der leichte Körper der Tänzerin mit. So kam sie hüpfend und tanzend zum Rollwägelchen. Lächelnd sah sie Heinrich Reinegg an, der versunken saß.
 
Der einäugige Mann, der der hilflosen Tänzerin Ritter sein wollte, machte sich erbötig, sie fortzuführen. Aber da stand schon einer im weißen Kittel, der ihn zur Seite schob und sagte: „Gehn S' weg! Dazu bin ich da.“ Er war dazu da, Lasten zu führen, und es war ihm gleichgültig, ob es lebende, leidende oder tote waren.
 
Ein Sonnenstrahl fiel in den Raum und blieb haften am roten Haare der Tänzerin. Und das Haar leuchtete. Aber der Rollwagen fuhr weiter, und der Sonnenstrahl fiel zu Boden, wo ein weißer, glutender Fleck entstand.
 
Wieder öffnete die ernste Schwester die weiße Tür. Und Heinrich Reinegg ging hinein. Er zauderte ein wenig, aber er mußte gehen. Oft hatten sich weiße und graue und schwarze Türen vor ihm geöffnet. Oft hatte er gezögert und war doch gegangen, weil er mußte.
 
Eine Frau saß an einem Schreibtisch und sah, ruhig forschend, Heinrich Reinegg entgegen. Warum eine Frau? dachte er. Was macht ein Mann, wenn er einer Frau begegnet? Er macht eine Verbeugung, die linkischer und unschöner ist, als wenn er sie vor einem Manne machte, und dann sieht er, nicht geradeaus, eher von der Seite her, ob sie jung oder hübsch ist und welche Farbe ihre Haare haben. Oft dauert es, zu seiner Freude oder zu seinem Schaden, lange, bis er den Menschen entdeckt.
 
War dieser Weg nun leichter oder schwerer, weil dort eine Frau saß? Aber die Frau trug einen weißen Mantel. Der verbarg die Frauengestalt, der verbreitete Unparteilichkeit; der weiße Mantel entschied in diesem Raum.







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