Kranke
Menschheit 1
undatiert
Es
war eine stille Gasse. Wie irgendeine in einem Vorort. Der Lärm
der Großstadt drang in die Gasse nur als
fernes, seltsames Summen und Klingeln. Kleine Häuser und dürftige
Gärten
umsäumten sie. Herbstlich-mild und freundlich war der Tag. Einer von
den Tagen,
die man genießen soll mit gleichmutsvoller, ruhiger Seele.
Wenn
man in der Gasse fortging, immer fort, dann kam man wohl
irgendwohin ins Freie, wo sich die kleinen
Häuser nicht mehr aneinanderklammerten, sondern lose standen und frei,
wo
Wiesen waren und Sträucher, wo dunkle Berge und Wälder lockten; wo
Menschenpaare gingen und aus Tüten Zwetschken aßen und die Hände
verschlungen hielten,
um einander am hellen Tag ihre Liebe durch stark-zärtlichen Druck
zu bezeigen; wo aus Häusern Stangen mit häßlichen Strohgeflechten
hingen und
verkündeten, daß aufs neue ein Herbst gekommen war mit neuern,
heurigem,
Fröhlichkeit und, ach, Vergessenheit bringendem Trunk.
Aber
die wenigen Menschen, die an diesem Tage in der Gasse gingen, hatten
keine
Zeit, den Wiesen und Wäldern zuzueilen, sich der Liebe oder dem Weine
hinzugeben. Sie wendeten sich stadtwärts, sie gingen im Trott des
Alltags:
Männer in blauen, ölbefleckten Arbeitskleidern, Männer mit Amtskappen,
Frauen
in Kleidern, die hell und bunt waren wie der Tag; sie trugen große
Taschen
leicht und sicher, und die unförmliche Last vermochte nicht die
zierliche
Schönheit ihres Schrittes zu hemmen, der die Frauen dieser Stadt
auszeichnet.
Einer
ging unter ihnen, der nicht zu den Menschen dieser Gasse zu gehören
schien, der
irgendwie fremd war in der Gasse, der kein Ziel zu haben schien wie
sie. Ein
großer Mann in schlichtem, dunklem Gewand, barhaupt, ein wenig gebeugt,
ein
wenig unsicheren, schwankenden Schrittes, den rechten Fuß mit einiger
Mühe
schleppend. Er sah die Menschen, die vorübergingen, forschend an, und
die
Frauen erschraken ein bißchen, wenn sie der Blick traf, aus Augen, die
groß, dunkel,
ein wenig starr in dem bleichen Antlitz standen. Er sah die Häuser an,
eines
nach dem anderen, und schien eines von ihnen zu suchen. Aber er hatte
offenbar
keine Eile; er ging ganz langsam, schier, als ob er sich gefürchtet
hätte, zu
finden, was er suchte. Man kommt auch mit langsamem, schwankendem
Schritt zum
Ziele: Da stand unter den
niederen Häusern eines, das groß war und stattlich, nicht aufdringlich,
eher
anmutig und freundlich wie ein Landsitz, der vor langen Zeiten einem
großen
Herrn zur Kurzweil gedient hatte, wenn er ausruhen wollte von den
Anstrengungen
der Machtausübung. Die Inschrift freilich, die das große Tor trug, war
wenig
anmutig. „Spitalseingang“ stand dort in großen Buchstaben.
Der
fremde Mann in der stillen Gasse zuckte ein bißchen zusammen, als er zu
dem
Hause gelangte und die Inschrift las. Und er ging ein bißchen
schneller;
deutlicher merkte man das Nachschleppen des rechten Fußes. Er ging an
dem Hause
vorüber, weiter in der stillen Gasse, die ins Freie führte zu Wiesen
und zum
Wald. Der Mann konnte nicht in den Wald gehen, in den ruhigen, weiten,
freien;
er konnte es gestern nicht,
er durfte es heute und morgen nicht.
Er
gehorchte dem Zwang, der in ihm war und ihn unsichtbar umgab, und ging
zurück
zu dem Hause, das wie ein alter, freundlicher Landsitz aussah und die
Inschrift
„Spitalseingang“ trug.
Ein
blondes Mädchen stürmte aus einem Hauseingang, verfolgt von einem
strahlenden
Burschen. Es kreischte und lief blind in sorglosem Ungestüm. Und stieß
mit dem
Manne zusammen, der in der Gasse ging. Er taumelte, suchte Halt an
einem Gitter
und sah in das heiße, junge Gesicht. Das Mädchenlachen erlosch. Da kam
schon
der Bursche, nahm heftig den Arm des Mädchens und führte es die Gasse
entlang
den Wiesen und Sträuchern zu. Und das Mädchenlachen erfüllte wieder die
Gasse
und kam zurück zu dem Manne, der noch beim Gitter stand und der freien,
unbekümmerten Jugend nachsah, die es eilig hatte, seinem Blick zu
entrinnen.
Noch ein Weilchen stand das Jugendlachen in seinem Ohr, ward
schließlich
mißtönend, verzerrt und verließ ihn.
Dann
stand er wieder vor dem freundlich-ernsten Landsitz. Er maß das Haus
mit langem
Blick und suchte die Mauern zu durchdringen und des Hauses Geheimnisse
zu
erforschen.
Er
sah eine Tafel, auf der geschrieben stand, daß die Kranken der ersten
und
zweiten Klasse täglich von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends und die
Kranken
der dritten Klasse an vier Tagen der Woche von zwei bis vier Uhr
nachmittags
Besuche empfangen dürfen. Eines wußte er nun: Es war Ordnung hinter dem
braunen
Tor. Da freute er sich in der schönen Erkenntnis, daß die Menschen
Ordnungssinn
haben und ihn überall, wo sie nur können und es für nötig halten,
betätigen. Nur
die große Welt, in der sie alle, die Brüder und Schwestern, die Klassen
und die
Rassen und die Völker, nebeneinander leben müssen, ist noch ein wenig
in
Unordnung. Da nützen selbst die Tafeln mit der Einteilung für die
Menschen der
ersten und zweiten und die Menschen der dritten Klasse nicht viel. Aber
einmal,
irgend einmal wird schon der schöne, immer wache, immer taten bereite
Ordnungssinn der Menschen Ordnung schaffen, überall, in den Städten, in
den
Ländern, in der ganzen, großen, schönen Welt. Heute wollte er zufrieden
sein in
dem Bewußtsein, daß Ordnung war hinter dem stattlichen braunen Tor.
Und
der fremde Mann in der stillen Gasse versuchte, ein wenig zu lächeln;
es ward
aber ein verzerrtes Grinsen, bei dem der rechte Mundwinkel tiefer hing
als der
linke.
Da
tat sich die kleine Pforte auf, die neben dem großen braunen Tore war,
ein
kleiner, dicker Mann mit einem Käppchen auf dem Kopfe kam heraus und
sagte mit
beflissener Freundlichkeit: „Guten Tag, Herr, wollen Sie zu uns kommen?
Bitte,
gehen Sie nur weiter!“ Seine Hand wies höflich einladend den Weg.
Ein
kleiner Schauer lief über die lange, schmale Gestalt des Mannes, aber
es war
der Zwang in ihm und um ihn, der Zwang, der ihn oft begleitet hatte in
stillen
Gassen und auf breiten, lärmenden Straßen und Plätzen. Und er ging
durch die Pforte
und bückte sich ein wenig, weil sie nieder war.
Sorgsam
schloß der freundliche Türhüter die Pforte der Nervenheilanstalt und
geleitete, immer ruhig-höflich, den fremden Mann wie einen Gast. Er
führte ihn
in eine große, helle Vorhalle, wo Menschen auf Sesseln, Bänken und in
Rollwägelchen saßen und warteten. Heinrich Reinegg setzte sich zu ihnen
und
begann zu warten wie sie. Es ist gleichgültig, dachte er, wo man
wartet.
Irgendwo, irgendwie warten wir immer.
Sie
musterten den Neuen neugierig, fast wohlwollend. Und tuschelten. Eine
Frau kam
in blauer Schwesterntracht, groß und ernst, und half einem Mädchen, das
im
Rollstuhl saß, beim Aufstehen. Das Gesicht des Mädchens war fein und
schmal und
lächelnd. Indes: Das Leid schien im Kampf mit der Heiterkeit zu liegen.
Das
Mädchen stützte sich auf zwei Stöcke, die am Ende einen Gummibelag
hatten.
Schon hatte es sich aufgerichtet, da rutschte ein Stock auf dem glatten
Boden, und
das Mädchen fiel mit einem leise klagenden Ruf zu Boden. Heinrich
Reinegg, der
zunächst saß, half der Schwester, das Mädchen auf die Beine zu bringen.
Es war
kein schweres Bemühen; unheimlich leicht war dieser Mädchenkörper. Das
Mädchen
sah dankend in diegroßen,
dunklen, starren Augen des fremden Mannes; es erschrak nicht wie die
Frauen
draußen vor dem braunen Tor; es lächelte wieder: heiter und ein wenig
leidvoll.
Nun
stand das Mädchen wieder auf den schmalen Füßen und mußte gehen. Es
setzte
zaghaft den linken Fuß vor, schnellte den rechten ein wenig in die Höhe
und
dann nach vorne und zur Erde. Dann waren zwei Schritte getan. Die
Schwester
führte das Mädchen langsam und geduldig zu einer weißen Türe. Heinrich
Reinegg
dachte einen Augenblick an die zierlichen, sicheren, leichten Schritte
der
Frauen und Mädchen, die draußen in der Gasse gingen.
„Die
wird nicht mehr tanzen“, sagte ein Mann, der über dem linken Auge eine
schwarze
Binde trug; sie verdunkelte sein hageres Gesicht. Niemand antwortete.
Eine
alte Frau schüttelte den kleinen, grauen Kopf. Es war eine ganz
leichte,
mißbilligende Bewegung. Sie erfolgte in regelmäßigen, kleinen
Zeitabständen.
Warum sollte sie nicht den Kopf schütteln, dachte Heinrich Reinegg, es
ist ganz
natürlich, daß sie es tut.
Unwillig
sah die alte Frau den Mann mit der schwarzen Binde an. Sie beugte sich
zu dem
jungen Mann, der gleichgültig neben ihr saß, und begann zu flüstern.
Der junge
Mann sagte ruhig: „Reg dich nicht auf, Mutter, warum regst du dich auf?
Es
steht nicht dafür.“ Teilnahmslos ging sein Blick über den Raum, über
die
Menschen und Gegenstände.
Ein
paar Augenblicke lang blieb er an den Händen eines kleinen,
schwarzhaarigen
Mädchens haften, die ohne Unterlaß in einem Buche blätterten. Aber als
das
Mädchen seinen Blick fühlte und ihn ansah, wendete er sich unbewegt ab.
Der
Mann mit der schwarzen Binde litt unter der hämischen Stille. Er
verstand
nicht, warum sie nicht antworteten. Seine Stimme hatte einen ganz
kleinen
Bruch, als er sagte: „Sie ist Tänzerin. Tänzerin von Beruf.“ Und sein
rechtes
Auge blickte unruhig nach der Tür, hinter der die Tänzerin war.
Da
folgten sie alle, ein wenig betroffen, dem Blicke seines rechten Auges.
Und
sahen alle nach der weißen Tür. Dann begann die alte Frau wieder, den
Kopf zu
bewegen, leise und ein wenig mißbilligend. Ihr Sohn sah gleichgültig
nach der
Uhr. Das schwarzhaarige Mädchen blätterte wieder in dem Buche.
Aber
plötzlich legte die Schwarzhaarige das Buch mit einem kleinen Knall auf
den
Tisch, wendete ihr kleines Mädchengesicht dem Manne mit der schwarzen
Binde zu
und sagte mit einigem Nachdruck: „Vor sechs Wochen konnte ich auch
nicht gehen.
Jetzt kann ich schon wieder gehen. Bald werde ich hinausgehen. Bald
werde ich
wieder wandern. Vielleicht schon in einer Woche. Jetzt werde ich es
gleich
hören, wann
ich hinausgehen darf.“ Sie sah zum Fenster und darin zur weißen Tür.
„Ja. Und
die Tänzerin wird schon auch wieder gehen können. Und tanzen, ja,
vielleicht
wird sie sogar tanzen können.“ Da brach sie ab. Und alle wußten, daß
sie in
ihren Gedanken hinzufügte: Und wenn sie auch nicht tanzen kann -! Die
Tänzerin!
Die
alte Frau vergaß, den Kopf zu schütteln; es war ein leichter, freudiger
Schimmer
in ihrem grauen Gesicht. „Sei still, Mutter“, murmelte gleichmütig ihr
Sohn, „sei
still, es steht nicht dafür.“ So nahm er ihr das Wort, ehe sie es
sprechen
konnte.
Der
Mann mit der schwarzen Binde sah zornig mit dem rechten Auge das
schwarzhaarige
Mädchen an. „Das ist etwas ganz anderes bei Ihnen“, sagte er, „was hat
Ihnen
gefehlt? Sie haben etwas ganz anderes. Was wollen Sie sagen? Sie werden
wieder
gehen. Wer weiß, wohin Sie gehen. Aber diese Frau - sie wird nicht mehr
tanzen
können.“ Seine Stimme war noch ein wenig brüchiger. Er hatte zu viel
und zu
lange gesprochen. Nun schwieg er. Und rückte die schwarze Binde
zurecht.Die
große, ernste Schwester öffnete die weiße Tür und führte die Tänzerin
heraus.
Behutsam setzte die Tänzerin den linken Fuß vor, dann hüpfte der rechte
in die
Höhe und nach vorne und zur Erde. Und seltsam schwang der leichte
Körper der
Tänzerin mit. So kam sie hüpfend und tanzend zum Rollwägelchen.
Lächelnd sah
sie Heinrich Reinegg an,
der versunken saß.
Der
einäugige Mann, der der hilflosen Tänzerin Ritter sein wollte, machte
sich
erbötig, sie fortzuführen. Aber da stand schon einer im weißen Kittel,
der ihn
zur Seite schob und sagte: „Gehn S' weg! Dazu bin ich da.“ Er war dazu
da,
Lasten zu führen, und es war ihm gleichgültig, ob es lebende, leidende
oder
tote waren.
Ein
Sonnenstrahl fiel in den Raum und blieb haften am roten Haare der
Tänzerin. Und
das Haar leuchtete. Aber der Rollwagen fuhr weiter, und der
Sonnenstrahl fiel
zu Boden, wo ein weißer, glutender Fleck entstand.
Wieder
öffnete die ernste Schwester die weiße Tür. Und Heinrich Reinegg ging
hinein.
Er zauderte ein wenig, aber er mußte gehen. Oft hatten sich weiße und
graue und
schwarze Türen vor ihm geöffnet. Oft hatte er gezögert und war doch
gegangen,
weil er mußte.
Eine
Frau saß an einem Schreibtisch und sah, ruhig forschend, Heinrich
Reinegg
entgegen. Warum eine Frau? dachte er. Was macht ein Mann, wenn er einer
Frau
begegnet? Er macht eine Verbeugung, die linkischer und unschöner ist,
als wenn
er sie vor einem Manne machte, und dann sieht er, nicht geradeaus, eher
von der
Seite her, ob sie jung oder hübsch ist und welche Farbe ihre Haare
haben. Oft
dauert es, zu seiner Freude oder zu seinem Schaden, lange, bis er den
Menschen
entdeckt.
War
dieser Weg nun leichter oder schwerer, weil dort eine Frau saß? Aber
die Frau
trug einen weißen Mantel. Der verbarg die Frauengestalt, der
verbreitete Unparteilichkeit;
der weiße Mantel entschied in diesem Raum.