Das
Kartell 1
1923
Am
12. November brachte die Bostoner „Aurora“ auf der ersten Seite ihrer
acht Blatt starken Nummer in fetten Lettern das folgende Telegramm:
„Seit
gestern ist die bekannte Suffragettenführerin Miß Sylvia Punkerfield
verschwunden.
Heute hätten bekanntlich die Massendemonstrationen der
Suffragetts vor dem Regierungsgebäude
stattfinden sollen, zu der hervorragende Führerinnen aus Chicago und
New York
gekommen waren. Die Polizei hatte sogar, wie wir vorgestern
berichteten,
Kenntnis von den Vorbereitungen zu einem Bombenattentat vor dem
Regierungsgebäude erhalten und Maßnahmen zu deren Vereitelung
getroffen. Miß
Sylvia Punkerfield galt als die Arrangeurin dieser Versammlung wie
überhaupt
als die Seele der hiesigen Frauenbewegung.
Um
so verwunderlicher ist ihr plötzliches Verschwinden knapp vor der
Demonstration. Man munkelt von einem Verbrechen - Miß Punkerfield hatte
natürlich zahlreiche Rivalinnen. Der Polizei ist es trotz
angestrengtesten
Nachforschungen bis jetzt nicht gelungen, der verschwundenen
Suffragettenführerin
auf die Spur zu kommen.“
Ganz
Massachusetts kannte natürlich Miß Punkerfield. Sylvia Punkerfield, die
libellenschlanke Suffragette mit dem kurzgeschorenen Haar und dem
schwarzen,
glatten Tuchkleid, das geradezu wie ein Programm aussah und dessen
unerhört
einfache Holzknöpfe, die mit schwarzem gerippten Stoff überzogen waren,
sich
wie Punkte in diesem Parteiprogramm ausnahmen. Und dennoch, es war ein
gewisses Raffinement
in dieser Einfachheit. Oder glaubte jemand wirklich daran, daß Miß
Sylvia
kurzes Haar trug, weil es praktisch und männlich war? Miß Sylvias
Kinderkopf
mit den knabenhaft jungen Zügen, konnte keine passendere Haartracht
tragen. Miß
Sylvia hatte blaue Augen. Blau, das sagt man so und denkt dabei an den
Himmel oder
ähnliche Institutionen von blauem Kolorit. Aber die Bläue dieser
Mädchenaugen
hatte etwas von der kühl violetten Färbung spätherbstlicher Abendwolken
und
nichts von einem Frühlingshimmel. Es war die Kälte blankgeschliffener,
violettblau schimmernder Stahlklingen in diesen Augen, wenn Miß Sylvia
in der
Versammlung sprach. Sie hatte die scharfe, aber nicht unangenehme
Stimme einer
Dompteuse oder einer Zirkusreiterin. Wenn Miß Sylvia ein Schlagwort in
die
Menge rief, so reckte sich ihr Körper schlank auf dem Podium, und ihre
Hand mit
den langen muskelranken Fingern ballte sich wie um einen unsichtbaren
Peitschenstiel.
Der knabenhaft sehnige Arm zeichnete einen Bogen in die Luft, und es
sah aus,
als hätte Sylvia das Wort wie einen elastischen Gummiball in den Saal
geschleudert. Dabei bekam ihre Stimme einen blankmetallenen Klang, wie
wenn ein
Säbel auf Messing schlüge. So war Miß Punkerfield.
Kein
Wunder, daß ganz Massachusetts sie kannte. Die ältliche Miß Lawrence,
die flach
war wie ein Dielenbrett, konnte logisch sein, konsequent und
unerbittlich wie
ein algebraisches Lehrbuch. Niemand wagte mit ihr zu diskutieren. Mit
ihrer
haarscharfen Logik spaltete sie jeden Gegner in zwei Hälften von
wunderbarer
Ebenmäßigkeit. - Die noch junge, aber lederne Miß Esther Smith kannte
alle Denker
dreier Jahrhunderte auswendig und goß Bottiche von zwingenden Zitaten
über die
Köpfe ihrer Feinde, daß sie in die Knie sanken und um Gnade flehten. -
Miß
Ethel Fisher, die Tochter des Wursthändlers Fisher, war gefürchtet
wegen ihrer
geradezu übermännlichen Grobheit. Ihre Worte waren wuchtig und klotzig
wie die Hämmer,
mit denen die Arbeiter ihres Vaters die Pferdehäute zu Wurst
faschierten. Aber
was waren sie alle gegen die übernatürlichen Eigenschaften der Miß
Sylvia! Miß
Sylvia war von einer siegverheißenden Glorie umstrahlt. Von ihrem Wesen
ging
Sieg aus. Sie atmete Sieg. Weil sie so intelligent ist, sagten die
Frauen von
Massachusetts.
Weil
sie so schön ist, sagten die Männer von Massachusetts. Und wäre Miß
Sylvia
nicht so plötzlich verschwunden, es hätte sich der merkwürdige Fall
ereignet,
daß die Frauen samt und sonders das Amazonentum links liegen gelassen
hätten
und die Männer samt und sonders Suffragetten geworden wären. Denn schon
hatten
einige Professoren von Boston ihre Gefolgschaft zugesagt, die drei
jüngsten von
den vierzig Senatoren von Massachusetts hatten offen ihre Sympathie für
die
Suffragetten kundgegeben, und der weltberühmte Stierkämpfer, der vor
drei
Monaten aus seiner portugiesischen Heimat herübergekommen war, der
junge Pedro
dal Costo-Caval, war in sämtlichen Versammlungen, in denen Miß Sylvia
Punkerfield sprach, zu sehen und
klatschte mit dem Aufwand seiner gesamten Stierkämpferkräfte Beifall,
wenn Miß
Sylvia ihre Rede beendet oder einen Gegner niedergesprochen hatte.
Und
nun war Miß Sylvia verschwunden! Nichts anderes verlautete über sie,
als was in
der Depesche der „Aurora“ gestanden hatte. Was war mit Miß Punkerfield
geschehen?
Im
Cafe Chesterton, in der Ecke links beim Fenster,
saßen die drei Herren, die ganz Boston und Massachusetts kannte: die
Herren
Washer, Pumper und Klingson.
Mister
Washer war Reporter von der „Little Times“. Er trug einen großen
braunen Hut
und Röhrenstiefel, die bis zu den Hüften reichten. Was zwischen Hut und
Röhrenstiefeln sich befand, war der eigentliche Mister Washer. Und das
war sehr
wenig. Denn Mister Washer war unansehnlich und gering an Umfang. Sein
Kopf war
ein kleines ovales Etwas. Sein Gesicht war zerknittert wie ein
Papierknäuel.
Seine
Nase lag eingeklemmt zwischen zwei wulstigen Falten im Antlitz, wie in
einem
Polster vergraben. Es war eine jener Nasen, auf deren Rücken sich kein
Klemmer
halten kann. Deshalb trug Mister Washer eine Brille vor den grünen
scharfgeschliffenen
Äuglein. Die Brille war das einzig Imponierende in diesem Gesicht. Sie
war
blank und blitzend und stach seltsam ab von der braungelben
Gesichtsfarbe. Wenn
Mister Washer Brille und Hut abnahm, sah sein Kopf mit den zahllosen
verhärteten Runzeln aus wie eine kleine Nuß. Wer einmal den Mister
Washer
gesehen hatte, dem blieben nur drei Dinge im Gedächtnis haften: der
braune
Schlapphut, die dunkelnde Brille und die Riesenröhrenstiefel. Alle drei
bildeten den Mister Washer. Was der eigentliche Mister Washer war,
verschwand vollkommen.
Aber
eben der eigentliche Mister Washer war interessant. Er war
Polizeireporter von
Ruf und Rang. Sein Blatt, die „Little Times“, hatte die geauesten
Nachrichten
über Abstammung, Lebenslauf und Familienangelegenheiten sämtlicher
Personen,
die mit der Polizei in irgendwelche Berührung kamen. Wurde irgendwo
eine
Fabrikarbeiterin aus dem Wasser gezogen, so wußte Mister Washer, daß
sie mit
dem und jenem Taglöhner von der Baumwollspinnerei ein Verhältnis gehabt
hatte.
Mister Washer interviewte den Taglöhner, zog Erkundigungen ein über
seinen Verdienst,
wußte, daß er ein uneheliches Kind war, daß seine Urgroßmutter Negerin
gewesen,
und baute dann ein kunstvolles Gebilde aus allen seinen Nachrichten. Er
hantierte liebevoll mit seinem Wissen und spielte mit den Berichten wie
ein
Kind mit Bausteinen. Da und dort
fehlte an dem fertigen Gebäude noch ein Giebelchen, ein Türmchen, ein
Zipfelchen.
Mister Washer setzte noch ein winziges Interview drauf, ein
zart-behutsames
Interview voll graziöser Delikatesse mit dem zweiten Verhältnis des
Taglöhners.
Mister Washer kam sich vor wie ein Konditor, der auf die
fertig-gebackene Torte
noch eine Rosine, eine Mandelschnitte, ein bißchen Schaum streut. Alles
war
säuberlich, adrett und unfehlbar und entbehrte doch nicht einer
gewissen Pikanterie.
Diese Polizeigeschichten hatten Mister Washer berühmt gemacht.
Mister
Pumper war das gerade Gegenteil. Groß, plump und stark. In den letzten
Jahren
neigte er sogar ein bißchen zur Fettigkeit und Atemnot. Er trug einen
Anzug von
deutlich grober Eleganz. Seine Hände waren behaart, zwischen den zwei
Brillantringen auf seinem rechten Zeigefinger starrten drei naseweise
Härchen
widerspenstig zwecklos in die Höhe. Über der sanften Wölbung seiner
Weste
klirrten die
Glieder einer goldenen Uhrkette, wenn sich sein Atem hob und senkte.
Seine
Beine waren etwas kurz und nach innen gekrümmt. Sein Schnurrbärtchen
war
schwarz und glänzte von Pomade. Manchmal steckte noch ein Stäubchen
grüner
Brillantine zwischen den Härchen. Der Schädel war kahl wie eine
Billardkugel.
Über den Rand seines Rockkragens wälzte sich eine schwere Nackenmasse.
So war
Mister Pumper.
Er
ziselierte nicht, feilte nicht, ließ sich nicht auf Delikatessen und
Sentiments
ein wie sein Kollege Mister Washer. Er förderte Raubmorde und Überfälle
auf
Schnellzüge zutage, spezialisierte sich auf Leichenzerstückelungen und
schwelgte in Gräßlich-keiten. Nachtschenken kannte er wie seine
Westentaschen.
Er war mit Raubmördern per
du und trank mit Polizeispitzeln. Er wußte von zukünftigen Raubmorden
und
verriet nichts, bis der große Tag kam und er mit Genauigkeit den
Vorfall
schilderte, als wäre er selbst dabeigewesen.
Alles
staunte über die Berichte des Mister Pumper, und der „Boston Kiker“
zahlte ihm
eine Gage von 1000 Dollar monatlich.
Der
dritte war Mister Klingson. Groß und dünn wie eine seiner schlechten
Zigarren,
die er stets im Munde hatte. Sein blondes Haar war glatt gescheitelt,
fiel in
schweren Wellen über die linke Gesichtshälfte und verhüllte ein
Gebrechen:
Mister Klingson fehlte nämlich das linke Ohr. Auf einem Ritt, den er im
Auftrage seines Blattes, des „Bloody
Tomahawk“, weit nach dem Westen hinein unternommen hatte, war es ihm
einmal
weggeschossen worden. Mister Klingson hatte eine unschätzbare
Fähigkeit. Er war
schweigsam wie ein Dock. Wenn man ihn fragte, was los sei, antwortete
er ganz
einfach: Nichts. Und dabei hatte er die neuesten Raubüberfälle in der
linken Brusttasche
druckbereit und säuberlich ausgeführt. Er war ein Behälter für
Sensationen, aus
dem nichts durchsickerte. Man goß in ihn die schwersten Nachrichten
hinein, und
es war nichts sichtbar. Er war wie eine gut verkorkte, ganz
undurchsichtige dunkelgrüne
Flasche.
Diese
drei Reporter bildeten das „Kartell“ von Massachusetts. Sie hatten
stets
etwas Neues zu berichten. Die „Aurora“ war sonst gut informiert. Mit
den
Raubüberfällen mußte sie immer nachhinken. Der Chefredakteur der
„Aurora“ war
wütend. Die Reporter der „Aurora“ rannten durch ganz Massachusetts wie
gehetztes Wild. Ihre Zungen hingen bis zum Boden heraus. Sie erfuhren
nichts.
Im Cafe Chesterton wurden Ereignisse und Neuigkeiten fabriziert und in
die Welt
geblasen. Im Cafe Chesterton saß das Kartell wie in einer Festung. Wer
herankam
und einen Angriff versuchte, mußte vor dem schrecklichen, tödlichen
„Nichts!“
Mister Klingsons weichen. Dem Kartell konnte man nichts anhaben.
Weiß
der Teufel, woher die drei ihre stets frischen Nachrichten hatten. Und
wenn sie
keine hatten, so hatten sie immer noch welche. Wenn schon just gar kein
Raubüberfall zustande gekommen war, so setzte sich das Kartell zusammen
und
beriet über die Möglichkeit eines Raubüberfalls. Oder Mister Washer
rückte mit
seinen ungemein zarten, delikaten Interviews heraus und brachte eine
Geschichte
von der Vergangenheit des großen Lustmörders Tommy. Oder aber Mister
Klingson
schrieb: „Wie wir erfahren, hat die Untersuchung der Affäre:
Brandlegung in der
Prärie des Erdquellenbesitzers Tompson nichts Neues zutage gebracht.
Unsere
Leser erinnern sich noch des langen Jimmy, der dem Mister Tompson Rache
geschworen hatte. Dieser Jimmy soll nun vor zwei Jahren als Heizer nach
Australien gefahren und
dort das Haupt einer Räuberbande geworden sein. Vor ungefähr vier
Monaten -
heißt es in seinem Bekanntenkreis - ist er nach Massachusetts
gekommen.“ Und
nun folgte ein zartes, ungemein delikates Interview des Mister Washer
mit dem
letzten Verhältnis des „langen Jimmy“.
Eines
Tages tauchte plötzlich ein neuer Reporter auf: Mister John Baker aus
Chicago.
Er war lang und mager wie ein Windhund. Seine Nase hatte sich aus
seinem
Gesicht gewissermaßen herausgeschoben, gleichsam selbständig gemacht.
Sie
bewegte sich rechts und links, hinauf, hinunter, ohne daß sich ein
Muskel in
Mr. Bakers Gesicht sonst gerührt hätte. Diese Nase war ein
selbsttätiges
unabhängiges Lebewesen von flatterhafter Rührigkeit. Sie befand sich
nie im
Ruhestand. Sie witterte Ereignisse. Sie zog Sensationen an wie ein
Magnet Eisensplitter.
Sie roch Menschenfleisch, Skalpierungen, Lustmorde, Raubüberfälle. Es
war eine
ganz merkwürdige Nase.