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04.3
Geschichten - Joseph
Roth
Werke
4
1916-
1929
Romane
und Erzählungen
Das
Spinnennetz
Roman 1923
I
Theodor
wuchs im Hause seines Vaters heran, des Bahnzollrevisors und gewesenen
Wachtmeisters Wilhe1m Lohse. Der kleine Theodor war ein blonder,
strebsamer und
gesitteter Knabe. Er hatte die Bedeutung,
die er später erhielt, sehnsüchtig erhofft, aber niemals an sie zu
glauben
gewagt. Man kann sagen: Er übertraf die Erwartungen, die er niemals auf
sich
gesetzt hatte.
Der
alte Lohse erlebte die Größe seines Sohnes nicht mehr. Dem
Bahnzollrevisor war
nur vergönnt gewesen, Theodor in der Uniform eines Reserveleutnants zu
schauen.
Mehr hatte sich der Alte niemals gewünscht. Er starb im vierten Jahre
des
großen Krieges, und den letzten Augenblick seines Lebens verherrlichte
der
Gedanke, daß hinter dem Sarge der Leutnant Theodor Lohse schreiten
würde.
Ein
Jahr später war Theodor nicht mehr Leutnant, sondern Hörer der Rechte
und
Hauslehrer beim Juwelier Efrussi. Im Hause des Juweliers bekam er jeden
Tag
weißen Kaffee mit Haut und eine Schinkensemmel und jeden Monat ein
Honorar. Es
waren die Grundlagen seiner materiellen Existenz. Denn bei der
Technischen
Nothilfe, zu deren Mitgliedern er zählte, gab es selten Arbeit, und die
seltene
war hart und mäßig bezahlt. Vom wirtschaftlichen Verband der
Reserveoffiziere
bezog Theodor einmal wöchentlich Hülsenfrüchte. Diese teilte er mit
Mutter und
Schwestern, in deren Hause er lebte, geduldet, nicht wohlgelitten,
wenig
beachtet und, wenn es dennoch geschah, mit Geringschätzung bedacht. Die
Mutter
kränkelte, die Schwestern gilbten, sie wurden alt und konnten es
Theodor nicht
verzeihen, daß er nicht seine Pflicht, als Leutnant und zweimal im
Heeresbericht genannter Held zu fallen, erfüllt hatte. Ein toter Sohn
wäre
immer der Stolz der Familie geblieben.
Ein
abgerüsteter Leutnant und ein Opfer der Revolution war den Frauen
lästig. Es
lebte Theodor mit den Seinigen wie ein alter Großvater, den man geehrt
hätte,
wenn er tot gewesen wäre, den man geringschätzt, weil er am Leben
bleibt.
Manches
Ungemach hätte ihm erspart bleiben können, wenn zwischen ihm und seinem
Hause
nicht die wortlose Feindschaft wie eine Wand gestanden wäre. Er hätte
den
Schwestern sagen können, daß er sein Unglück nicht selbst verschuldete;
daß er
die Revolution verfluchte; daß er einen Haß gegen Sozialisten und Juden
nährte;
daß er jeden seiner Tage wie ein schmerzendes Joch über gebeugtem
Nacken trug
und in seiner
Zeit sich eingeschlossen wähnte wie in einem sonnenlosen Kerker. Von
außen her
winkte keine Erlösung, und Flucht war unmöglich. Aber er sagte nichts,
immer
war er schweigsam gewesen, immer hatte er die unsichtbare Hand vor
seinen
Lippen gefühlt, immer, als Knabe schon. Nur das auswendig Gelernte,
dessen
Klang schon fertig und ein dutzendmal lautlos geformt in seinen Ohren,
seiner
Kehle lag, konnte er sprechen. Er mußte lange lernen, ehe die spröden
Worte
nachgiebig wurden und sich seinem Gehirn einfügten. Erzählungen lernte
er
auswendig wie Gedichte, das Bild der gedruckten Sätze stand vor seinem
Auge,
als sähe er sie im Buch, darüber die Seitenzahl und am Rande die Nase,
gekritzelt in müßigen Viertelstunden.
Jede
Stunde hatte ein fremdes Gesicht. Alles überraschte ihn. Jedes Ereignis
war
schrecklich, nur weil es neu war, und verschwunden, ehe er es sich
eingeprägt
hatte. Aus Furchtsamkeit lernte er Sorgfalt, wurde fleißig, bereitete
sich mit
hartnäckiger Ruhelosigkeit vor, und wieder und wieder entdeckte er, daß
die
Vorbereitung noch zu mangelhaft gewesen. Aber er verzehnfachte seinen
Eifer,
brachte es bis zum zweiten Platz
in der Schule. Primus war der Jude Glaser, der leicht und lächelnd, von
Büchern
und Sorgen unbeschwert, durch die Pausen strich, der in zwanzig Minuten
den
fehlerlosen lateinischen Aufsatz ablieferte und in dessen Kopfe
Vokabeln,
Formeln, Ausnahmen und unregelmäßige Verba zu wachsen schienen, ohne
mühevoll
gezüchtet zu werden.
Der
kleine Efrussi war Glaser so ähnlich, daß Theodor Mühe hatte, vor dem
Sohn des
Juweliers Autorität zu bewahren. Theodor mußte eine leise, hartnäckig
aufsteigende Zaghaftigkeit unterdrücken, ehe er seinen Schüler
zurechtwies.
Denn so sicher schrieb der junge Efrussi einen Fehler hin, so
selbstbewußt
sprach er ihn aus, daß Theodor am Lehrbuch zu zweifeln und seines
Schülers
Irrtum gelten zu lassen geneigt war. Und immer war es so schon gewesen.
Immer hatte
Theodor der fremden Macht geglaubt, jeder fremden, die ihm
gegenüberstand. In der Armee nur war er
glücklich. Was man ihm sagte, mußte er glauben, und die andern mußten
es, wenn
er selbst sprach. Theodor wäre gern sein Leben lang bei der Armee
geblieben.
Anders
war das Leben in Zivil, grausam, voller Tücke in unbekannten Winkeln.
Gab man
sich Mühe, sie hatte keine Richtung, Kräfte verschwendete man an
Ungewisses, es
war ein unaufhörliches Aufbauen von Kartenhäusern, die ein
geheimnisvoller
Windzug umblies. Kein Sterben nutzte, kein Fleiß erlebte seine
Belohnung. Kein
Vorgesetzter war, dessen Launen man erkunden, dessen Wünsche man
erraten konnte.
Alle waren Vorgesetzte, alle Menschen in den Straßen, die Kollegen im
Hörsaal,
die Mütter sogar und die Schwestern auch.
Alle
hatten es leicht, am leichtesten die Glasers und Efrussis: Der wurde
Primus und
der Juwelier und jener Sohn des reichen Juweliers. Nur in der Armee
waren sie
nichts geworden, selten Sergeanten. Dort siegte Gerechtigkeit über
Schwindel.
Denn alles war Schwindel, Glasers Wissen unredlich erworben wie das
Geld des
Juweliers. Es ging nicht mit rechten Dingen zu, wenn der Soldat
Grünbaum einen
Urlaub erhielt und wenn Efrussi ein Geschäft machte. Erschwindelt war
die Revolution,
der Kaiser betrogen, der General genarrt, die Republik ein jüdisches
Geschäft.
Theodor sah das alles selbst, und die Meinung der anderen verstärkte
seine
Eindrücke. Kluge Köpfe, wie Wilhelm Tiedemann, Professor Koethe, der
Dozent
Bastelmann, der Physiker Lorranz, der Rassenforscher Mannheim,
behaupteten und
bewiesen die Schädlichkeit der jüdischen Rasse an den Vortragsabenden
des
Vereines deutscher Rechtshörer und in ihren Büchern, die in der
Lesehalle der „Germania“
ausgestellt waren.
Oft
hatte der Vater Lohse seine Töchter vor dem Verkehr mit jungen Juden in
der
Tanzstunde gewarnt. Beispiele gibt es, Beispiele! Ihm selbst, dem
Bahnzollrevisor Lohse, passierte es mindestens zweimal im Monat, daß
ihn Juden
aus Posen, welche die schlimmsten sind, zu bestechen versuchten. Im
Kriege
wurden sie enthoben, für den Kriegsdienst ungeeignet erklärt, saßen sie
als
Schreiber in den Lazaretten und in den Etappenkommandos.
Im
juridischen Seminar meldeten sie sich immer wieder zu Wort und schufen
neue
Situationen, in denen Theodor sich heimatlos fühlte und zu neuerlichen,
unangenehmen,
eifervollen, hartnäckigen Arbeiten gedrängt.
Nun
hatten sie die Armee vernichtet, nun beherrschten sie den Staat, sie
erfanden
den Sozialismus, die Vaterlandslosigkeit, die Liebe für den Feind. Es
stand in
den „Weisen von Zion“ - das Buch bekamen alle Mitglieder des
Reserveoffiziersverbandes zu den Hülsenfrüchten am Freitag -, daß sie
die
Weltherrschaft erstrebten. Sie hatten die Polizei in Händen und
verfolgten die nationalen
Organisationen. Und man mußte
ihre Söhne unterrichten, von ihnen leben, schlecht leben – wie lebten
sie selbst?
Oh,
wie herrlich lebten sie! Durch ein graues, silbern schimmerndes Gitter
von der
gemeinsamen Straße getrennt, war das Haus Efrussis und von grünem,
weitem Rasen
umgeben. Weiß schimmerte der Kies, noch heller die Treppe, die zur Tür
führte,
Bilder in Goldrahmen hingen im Vestibül, und ein Diener in
grün-goldener Livree
empfing und verneigte sich. Der Juwelier war hager und groß, immer
schwarz
gekleidet, in einer hohen, schwarzen Weste, deren Ausschnitt nur ein
Stückchen
schwarzer, mit einer haselnußgroßen Perle geschmückter Kragenbinde frei
ließ.
Theodors
Familie bewohnte drei Zimmer in Moabit, und das schönste enthielt zwei
wackelige Schränke, als Prunkstück die Kredenz und als einzigen Schmuck
jenen
silbernen Aufsatz, den Theodor aus dem Schlosse von Amiens gerettet und
auf dem
Grunde des Koffers geborgen hatte, noch knapp vor der Ankunft des
gestrengen
Majors Krause, der solche Dinge nicht geschehen ließ.
Nein!
Theodor lebte nicht in einer Villa hinter silbrig glänzendem
Drahtgitter. Und
kein Rang tröstete ihn über die Not seines Lebens. Er war ein
Hauslehrer mit
gescheiterten Hoffnungen, begrabenem Mut, aber ewig lebendigem,
quälendem
Ehrgeiz. Frauen, mit einer süßen, lockenden Musik in den wiegenden
Hüften,
gingen an ihm vorbei, unerreichbar, und er war doch geschaffen, sie zu
besitzen. Als Leutnant hätte er sie besessen, alle, auch die junge Frau
Efrussi, die zweite Gattin des Juweliers.
Wie
ferne war sie, aus jener großen Welt kam sie, in die Theodor beinahe
schon
gelangt wäre. Sie war eine Dame, jüdisch, aber eine Dame.
In
der Uniform eines Leutnants hätte er ihr entgegentreten müssen, nicht
im Zivil
des Hauslehrers. Er hatte einmal, in seiner Leutnantszeit, auf Urlaub
in Berlin,
ein Abenteuer mit einer Dame. Man konnte schon sagen: Dame; Gattin
eines Zigarrenhändlers,
der in Flandern stand; seine Photographie hing im Speisezimmer;
violette
Unterhöschen trug sie. Es waren die ersten violetten Unterhöschen in
Theodors männlichem
Dasein.
Was
ahnte er jetzt von Damen! Sein waren die kleinen Mädchen für billiges
Geld, die
hastige Minute kalter Liebe im nächtlichen Dunkel des Hausflurs, in der
Nische,
umflattert von der Furcht vor dem zufällig heimkehrenden Nachbarn, die
Lust,
die in der Angst vor dem überraschenden Schritt erlosch, wie die Glut
erkaltet,
die roh in Flüssigkeit geschleuderte; sein war das barfüßige, einfache
Mädel
aus dem Norden, das
Weib mit den eckigen, harthäutigen Händen, deren Liebkosung rauh war,
deren
Berührung abkühlte, deren Wäsche schmutzig, deren Strümpfe
durchschwitzt waren.
Nicht
von seiner Welt war sie, die Frau Efrussi. Während er ihre Stimme
hörte, fiel
ihm ein, daß sie gut sein müsse. Niemand hatte ihm so viel Schönes so
einfach
und herzlich gesagt. Sie verstehn es vortrefflich, Herr Lohse! Gefällt
es Ihnen
hier? Fühlen Sie sich wohl bei uns? Oh, wie war sie gut, schön, jung,
Theodor
hätte sich so eine Schwester gewünscht.
Einmal
erschrak er, als sie aus einem Laden trat. Als wäre es plötzlich in ihm
hell
geworden, erinnerte er sich in diesem Augenblick, daß er auf dem ganzen
Wege
ihrer gedacht hatte. Es erschreckte ihn die Entdeckung, daß sie in ihm
lebte,
daß er, wider Willen und ohne es zu wissen, stehengeblieben war, daß er
ihre
Einladung annahm, mit ihr ins Auto zu steigen, und fast hätte er es vor
ihr
getan. Manchmal wurde er gegen sie geworfen, ihren Arm berührte er und
bat
schnell um Verzeihung. Ihre Frage überhörte er. Er mußte angestrengt
achtgeben,
um nicht wieder an sie zu stoßen. Dennoch ereignete es sich. Eifrig
bereitete
er sich auf den Moment des Aussteigens vor. Aber früher, als er gedacht
hatte,
hielt der Wagen, und nun war keine Zeit mehr auszusteigen, ihr
hilfreich die
Hand zu bieten. Er blieb sitzen und ließ sie warten, bis er unten
stand, die
Schachtel, die er gerade ergreifen wollte, hielt schon der Chauffeur.
Aus einer
sehr weiten Ferne traf ihr Abschiedswort sein Ohr, aber in
unentrinnbarer Nähe
lebte ihr Lächeln vor seinen Augen; als lächelte das Spiegelbild einer
fern
sprechenden Frau.
Niemals
erreichte er sie, wie wollte er es? Glühend war sein Wunsch. Aber
erloschen der Glaube an seine Kraft zu erobern, da er nicht mehr
Leutnant
war. Er hätte es erst wieder werden müssen. Er wollte es werden,
Leutnant werden oder sonst etwas. Nicht bleiben in der Verborgenheit
und
nicht mehr geborgen sein, nicht ein bescheidener Ziegelstein im
Gefüge einer Mauer, nicht der Letzte der Kameraden, nicht ihr
Lauscher und Lacher, wenn sie Anekdoten erzählten und Zoten rissen,
nicht mehr einsam unter den vielen, allein mit seiner vergeblichen
Sehnsucht,
gehört zu werden, und mit der ewigen Enttäuschung des Überhörten,
Geduldeten und wegen seiner dankbaren Aufmerksamkeit Beliebten.
Oh, glaubten sie, er wäre harmlos und ungefährlich? Sie
sollten sehen. Alle sollten es sehen! Bald wird er aus seinem ruhmlosen
Winkel treten, ein Sieger, nicht mehr gefangen in der Zeit, nicht
mehr unter das Joch seiner Tage gedrückt. Es schmetterten helle
Fanfaren
irgendwo am Horizont.
II
Manchmal
überfiel ihn sein eigener Stolz wie eine fremde Gewalt, und er
fürchtete seine
Wünsche, die ihn gefangenhielten. Aber sooft er durch die Straßen ging,
hörte
er Millionen fremder Stimmen, flimmerten Millionen Buntheiten vor
seinen Augen,
die Schätze der Welt klangen und leuchteten. Musik wehte aus offenen
Fenstern,
süßer Duft von schreitenden Frauen, Stolz und Gewalt von sicheren
Männern.
Sooft er
durch das Brandenburger Tor ging, träumte er den alten, verlorenen
Traum vom
siegreichen Einzug auf schneeweißem Roß, als berittener Hauptmann an
der Spitze
seiner Kompanie, von Tausenden Frauen beachtet, vielleicht von manchen
geküßt,
von Fahnen umflattert und Jubel umbraust. Diesen Traum hatte er in sich
getragen und liebevoll genährt vom ersten Augenblick seines
freiwilligen
Eintritts in die Kaserne, durch die Entbehrungen und Lebensnöte des
Krieges.
Die schmerzende Beschimpfung des Wachtmeisters auf der Exerzierwiese
hatte
dieser Traum gelindert, den Hunger auf tagelangem Marsch, das brennende
Weh in
den Knien, den Arrest in dunkler Zelle, das betäubende, qualvolle Weiß
der
verschneiten Wachtpostennacht, den stechenden Frost in den Zehen.
Der
Traum drängte zum Ausbruch wie eine Krankheit, die lange unsichtbar in
Gelenken, Nerven, Muskeln lebt und alle Blutgefäße des Körpers erfüllt,
der man
nicht entrinnen kann, es sei denn, man entrinne sich selbst. Und
zufolge jener
unbekannten Gewalt, welche Theodor schon oft geholfen hatte und die ihn
lehrte,
daß der Erfüllung jeder qualvollen Sehnsucht im letzten Moment eine
günstige
äußere Bedingung auf halbem Wege entgegenkommt, ereignete es sich, daß
er den
Doktor Trebitsch im Hause Efrussis kennenlernte.
In
der ersten Viertelstunde ihrer Bekanntschaft sprach der Doktor
Trebitsch
unermüdlich, und sein blonder, langer, in sanften, dunkelnden, an den
Rändern gelichteten
Strähnen herabfließender Bart bewegte sich vor den Augen Theodors in
regelmäßigem Auf und Ab und störte die Aufmerksamkeit des Zuhörers.
Leise
plätscherten die Worte des Blondbärtigen, eines und das andere blieb
eine Weile
in Theodor haften und verwehte wieder. Noch nie war er einem Vollbart
so nahe gewesen.
Plötzlich stöberte ihn der Klang eines Namens aus seiner betäubten
Zerstreutheit auf. Es war der Name des Prinzen Heinrich. Und mit dem
Instinkt
eines Mannes, der zufällig einem Prunkstück aus einer verschütteten
Vergangenheit begegnet und es mit rettend hastiger Gebärde an die Brust
reißt,
rief Theodor: „Ich war Leutnant im Regiment Seiner Hoheit des Prinzen
Heinrich!“
„Der
Prinz wird sich sehr freuen“, sagte Doktor Trebitsch, und seine Stimme
war
nicht mehr fern, sondern ganz, ganz nahe.
Der
Stolz füllte, wie etwas Körperliches, Theodors Brustkorb, und sein
gestärktes
Hemd wölbte sich.
Sie
fuhren im Auto ins Kasino. Und Theodor saß im Wagen, nicht wie vor
einer Woche,
als er mit Frau Efrussi fuhr. Nicht mehr fühlte er, gedrückt und dünn,
die Ecke
zwischen Seitenwand und Rückenpolster. Er breitete sich aus. Sein
Körper fühlte
durch Paletot, Rock, Weste die sanfte, kühle Nachgiebigkeit des Leders.
Die
Füße lehnte ergegen den vorderen Sitz. Die Zigarre erfüllte das Coupe
mit dem
satten Duft
einer überflüssigen Behaglichkeit. Theodor öffnete das Fenster und
fühlte die
schnelle, schießende kalte Märzluft mit der Wollust eines innerlich
Durchwärmten.
Man
trank Schnaps und Bier, und der Abend im Kasino erinnerte an eine
Kaiser-Geburtstagsfeier. Graf Straubwitz von den Kürassieren hielt eine
Rede.
Man brach in ein dreifaches Hurra aus. Jemand erzählte Anekdoten aus
dem
Kriege. Theodor war Gast an der Seite des Prinzen. Nicht einen Moment
verlor er
Seine Hoheit aus den Augen. Er ignorierte seinen Nachbarn zur anderen
Seite. Es
galt, allezeit auf eine Frage des Prinzen vorbereitet und zur Stelle zu
sein.
Nicht für die Dauer eines Augenblicks vergaß Theodor, daß er jetzt
endlich die
Gelegenheit ergreifen konnte, Teile seines Traums zu verwirklichen. War
er noch
der kleine, unbekannte Hauslehrer eines jüdischen Knaben? Kannte ihn
der Prinz
nicht? Kannten ihn nicht alle Herren, die hier um den Tisch saßen? Und
obwohl
der ungewohnte Alkohol allmählich Theodors Sinn für die
augenblicklichen,
kleinen Wirklichkeiten einschläferte, blieb doch eine große, helle
Heiterkeit
zurück, und die Sicherheit kehrte ihm so oft wieder, als er sie
brauchte, um
dem Prinzen eine Serviette, ein Glas, Feuer für die Zigarette zu
reichen.
Als
ihn der Prinz aufforderte, von jener Schlacht bei Stojanowics zu
erzählen, die
das Regiment so löblich mitgemacht hatte, begann Theodor aufs
Geratewohl, etwas
lauter, als er gewöhnlich zu sprechen pflegte. Es ging eine Weile ganz
gut, bis
er bemerkte, daß er die Erzählung angefangen hatte, ohne sich den
Schluß
zurechtgelegt zu haben. Er hielt ein, und es erschütterte ihn die
große,
lauschende Stille. Er wußte noch, daß seine letzten Worte „Hauptmann
von der
Heidt“ gewesen waren. „Dieser Hauptmann also“, fuhr Theodor fort, aber
das Ende
des Satzes fand er nicht mehr. „Er lebe hoch! Hurra!“ fiel der Doktor
Trebitsch
ein, und man feierte den Hauptmann von der Heidt.
Dann
stellte es sich heraus, daß Theodor und der Prinz denselben Weg nach
Hause hatten,
und sie saßen zusammen im Auto. Theodor redete unterwegs. Frau Efrussi
fiel ihm
ein, und er erzählte von ihr dem Prinzen. Ihre großen grünen Augen sah
er. Ihre
Schultern. Er streifte ihr die Kleider ab, sie stand vor ihm in der
Unterwäsche. Sie trug violette Unterhöschen. Er erzählte alles dem
Prinzen, was
er sah, tat, erlebte.
„Ich
streife ihr das Hemd ab“, sagte Theodor, „Hoheit müssen wissen, sie
hat braune Brustwarzen . . . ich beiße in ihre harte Brust!“
„Sie
sind ein famoser Junge“, sagte der Prinz.
Er
wiederholte diesen Satz auch später noch, als sie im Zimmer saßen und
einen
schwarzen Kaffee tranken und noch einen Likör. So nahe saßen sie
beieinander,
ihre Schenkel berührten sich, und der Prinz hielt Theodors Hand und
drückte
sie. Und auf einmal war Theodor nackt und der Prinz Heinrich ebenfalls.
Der
Prinz hat eine dichtbehaarte Brust und sehr dünne Beine. Seine Zehen
sind ein
bißchen verkrümmt.
Theodor
hat den Kopf gesenkt, und obwohl es ihm peinlich ist, muß er die Zehen
betrachten. Er denkt, es wäre schon bei weitem besser, dem Prinzen ins
Angesicht zu sehen. Das Angesicht, denkt er, ist der einzige bekleidete
Körperteil des Prinzen. Der Prinz drückt aus einem Gummiballon einen
kühlen,
feinen Staubregen in die Luft.
Theodor
sieht zum ersten mal seine ganze Nacktheit in einem großen Wandspiegel.
Er kann
feststtellen, daß er eine weiße, rosa angehauchte Haut besitzt,
rundlich geformte
Beine, ein wenig gewölbte Brüste und leuchtende Brustwarzen wie zwei
dunkelrote, winzige Kuppeln.
Theodor
liegt auf dem warmen, weichen Eisbärfell, und neben ihm atmet schwer
und laut
der Prinz Heinrich. Der Prinz beißt in Theodors Fleisch. Die Bartreste
des
Prinzen kratzen, seine gekräuselten Brust- und Beinhaare kitzeln
Theodor.
Er
erwachte in einem halbdunklen Zimmer, und sein erster Blick traf ein
großes
Ölporträt des Prinzen an der Wand. In einer erschreckenden Wachheit sah
er alle
Ereignisse der vergangenen Nacht. Er kämpfte gegen sie vergeblich. Er
versuchte, sie auszulöschen. Sie waren überhaupt nie gewesen. Er
begann, an
allerlei entfernte Dinge zu denken. Er konjugierte ein griechisches
Verbum.
Aber seine letzten Erlebnisse überfielen ihn, eine Schar zudringlicher
Fliegen.
Er stieg langsam die Stiege hinunter und nahm den Gruß eines alten,
ehrfürchtigen Dieners entgegen. Schon meldete das helle Geklingel der
Straßenbahn die Nähe der Welt.
Oh,
die Nähe dieser reichen Welt, deren Millionen Schätze klangen und
flimmerten.
Die Straße erlebte er, den Gang der Frauen, Musik in den wiegenden
Hüften, die
stolze Gewißheit sicher schreitender Männer und seine eigene, kleine
Dürftigkeit in der Mitte.
Geringer
als er je gewesen, verließ er das Haus. Immer schon war es so gewesen,
daß er
zurückweichen mußte, getroffen, wenn er sich erhaben gewähnt, verlassen
und auf
Wegen, die hinunterführten, sooft er Höhen emgegengestrebt war. Er
wollte nicht
zurück, er wollte hierbleiben. Und er blieb vor dem alten,
ehrfürchtigen Diener
stehen und fragte nach dem Prinzen.
Prinz
Heinrich hielt die Füße in der gefüllten Schüssel unter dem Tisch,
während er Frühstück aß. „Gu'n Morjen, Theo!“ sagte der Prinz und ließ
Theodor
stehen.
Ganz
nahe an den Tisch trat Theodor und sah den Prinzen an.
Der
Prinz brach ein Ei nach dem anderen auf und schüttete die Dotter in
ein Glas.
„Setz
dich!“ sagte er endlich. Und als hätte er sich jetzt erst erinnert:
„Schon
gegessen?“, und er schob Theodor Eier, Butter und Brot zu.
Die
Nahrung kräftigte Theodor. Er aß schweigsam, eine gute, wohltätige,
klare Ruhe
kehrte in ihm ein.
Und
plötzlich, als hätte sich die Zunge von jeder Abhängigkeit befreit,
huschte
seine hurtige Frage über den Tisch: ob der Prinz einen Sekretär
brauche.
Prinz
Heinrich nickte, längst hatte er die Frage erwartet. Er schreibt etwas
auf
seine Visitkarte: „Trebitsch“, sagt der Prinz, nichts mehr.
Und
als Theodor aufsteht: „Gu'n Morjen!“
Und
Theodor verläßt das Haus und geht durch den märzfrischen Tiergarten und
saugt
die Bläue des Himmels ein und das erste Zwitschern der Vögel und weiß,
daß er
bergaufwärts geht, obwohl die Straße eben ist. Und er weiß, daß man
durch
Abgründe muß und daß man vergessen soll. Ablegen will er hindernde
Erinnerungen
an die Ereignisse der vergangenen Nacht. Sie ist verschlungen von der
strahlenden Bläue des Morgens.
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