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04.3
Geschichten - Joseph
Roth
Werke
4
1916-
1929
Romane und
Erzählungen
Das
Spinnennetz - S. 2
Roman 1923
III
Trebitsch
nahm ihn auf, bei feierlichem Kerzenglanz schwor Theodor einen langen
Eid,
setzte er seinen Namen auf ein Blatt Papier, dessen Inhalt er kaum
gelesen
hatte, seine Hand lag zwei Minuten lang in der behaarten Tatze eines
Mannes,
den man Detektiv Klitsche nannte, der über einem zerschossenen oder
verkümmerten Ohrläppchen eine mangelhaft verhüllende, glatte
Haarsträhne trug
und der von nun an Theodors Vorgesetzter sein sollte. Nun war Theodor
Mitglied
einer Organisation, einer
Gemeinschaft, deren Namen er nicht kannte, einen Buchstaben wußte er
nur und
eine römische Zahl, den Buchstaben S und die Zahl 11, und den Sitz
dieser
unbekannten Macht, der in München war. Befehle hatte er von Klitsche zu
erwarten, briefliche, mündliche, Gehorsam unter allen Umständen war
Bedingung
und ebenso Verschwiegenheit,
Tod stand auf Verrat und Vernichtung auf unbedacht gesprochenes Wort.
Es
ging Theodor wider seinen Willen zu schnell und gegen die Bedächtigkeit
seines
Gemüts. Er erschrak wiederum vor so viel Neuern, er kam sich
überrumpelt vor.
Er fürchtete sich vor dem Kerzenglanz und den tönenden Worten des
Schwurs, der
Pranke seines Vorgesetzten, und den Tod fühlte er nahe wie ein bereits
zum
Verräter Gewordener und Verurteilter. Er hatte niemals schlecht
geschlafen, in
der Nacht träumte er selten und, wenn es geschah, immer nur
Tröstliches. Vor dem Einschlafen
pflegte er an die schönen Bilder der Zukunft zu denken, mochte der
vergangene
Tag auch keinen Anlaß dazu gegeben haben. Seit jenem Vormittag im Büro
des Dr.
Trebitsch träumte er von brennenden Kerzen, gelben, im Licht eines
vollen
Tages. Am gräßlichsten war die Vorstellung, daß kein Entrinnen möglich
war und
daß er nicht
mehr zurückkonnte, zurück in die geborgene Stille einer
Hauslehrerexistenz, die
Freiheit war. Welche Befehle harrten seiner? Mord und Diebstahl und
gefährliches Spionieren? Wieviel Feinde lauerten im Dunkel der
abendlichen
Straßen? Schon jetzt war er nicht mehr seines Lebens sicher.
Aber
welch ein Lohn konnte ihm werden! Ich sprenge die Zeit, in der ich
gefangen
bin, den sonnenlosen Kerker dieses Daseins, werfe das drückende Joch
dieser
Tage ab, steige auf, zerschmettere geschlossene Pforten, ich, Theodor
Lohse,
ein Gefährdeter, aber ein Gefährlicher, mehr als ein Leutnant, mehr als
ein
Sieger auf trabendem Roß, zwischen grüßenden Spalieren, Retter des
Vaterlandes
vielleicht. In diesen Zeiten gewinnt der Wagende.
Ein
paar Tage später bekam er den ersten Befehl: bei Efrussi zu kündigen,
zugleich
den ersten, von Heinrich Meyer unterzeichneten Scheck über einen
phantastisch
hohen Betrag bei der Dresdner Bank zu beheben. Niemals war so viel Geld
bei
Theodor gewesen, im Nu veränderte der Besitz seine Miene, seinen Gang,
seine
Haltung, seine Umwelt. Es war ein heller Aprilabend, die Mädchen trugen
leichte
Kleider und lebendige Brüste. Die Fenster einer ganzen Häuserfront
standen
offen.
Zwitschernde
Spatzen hüpften zwischen gelbem Pferdekot. Es lächelte die Straße.
Schon trug
der Laternenanzünder den sommerlich weißen Kittel. Die Welt verjüngte
sich ohne
Zweifel. Die letzten Sonnenstrahlen zitterten in kleinen Kotlachen. Die
Mädchen
lächelten und schienen sehr zugänglich. Es gab blonde und braune und
schwarze.
Aber das war eine oberflächliche Einteilung. Mädchen mit breiten Hüften
sind
Theodors besondere Lieblinge. Er liebt es, Zuflucht und Heimat zu
finden im Weibe.
Er will nach vollendeter Liebe Mütterlichkeit, weite, breite, gütige.
Er will
seinen Kopf zwischen großen, guten Brüsten betten.
Das
war ein Tag, an dem ihm die Kündigung bei Efrussi leichtfallen mußte.
Zwei
Jahre war er ins Haus gekommen, Tag für Tag, und jetzt wird er die
junge Frau
Efrussi nicht mehr sehen. Er dachte ihrer wie einer Landschaft, die man
einmal
aus der Ferne erblickt hat und in der ein Verweilen unmöglich war.
Er
könnte vielleicht schriftlich kündigen - unter irgendeinem Vorwand.
Prüfungen
nähmen ihn jetzt so in Anspruch. Allein das wäre nicht nur Lüge, wäre
Feigheit
sogar und die Gelegenheit, dem verhaßten Efrussi die lange krampfhaft
zurückgehaltene Wahrheit zu sagen, versäumt.
„Herr
Efrussi, ich bin ein armer Deutscher, Sie ein reicher Jude. Es bedeutet
Verrat,
eines Juden Brot zu essen.“
Aber
Theodor sprach nicht so zu dem schwarzen, hageren Efrussi, dessen
Angesicht an
das Porträt einer alten Frau mit strengen Zügen erinnerte. Theodor
sagte nur:
„Ich
will Ihnen etwas mitteilen, Herr Efrussi.“
„Bitte!“
sagte Efrussi.
„Ich
unterrichte in Ihrem Hause schon zwei Jahre . . . „
„Ihr
Gehalt will ich erhöhen“, unterbricht Efrussi.
„Nein,
im Gegenteil, ich will kündigen“, sagte Theodor.
„Weshalb?“
„Weil
Herr Trebitsch nämlich . . . „
Efrussi
lächelt: „Sehen Sie, Herr Lohse, ich kenne den Trebitsch schon sehr
lange. Sein
Vater war ein Geschäftsfreund meines Vaters. Er war groß und bedeutend
in der
Manufaktur. Sein Sohn hätte besser daran getan, im Geschäft zu bleiben.
Ich
kenne die Kindereien des Doktor Trebitsch. Sie sind der dritte
Hauslehrer den
er mir wegnimmt. Er ist ein stiller Narr.“
„Er
ist ein Freund Seiner Hoheit des Prinzen Heinrich.“
„Ja“
sagte Efrussi, „der Prinz hat bekanntlich viele Freunde.“
„Was
wollen Sie damit sagen? Ich war Leutnant im Regiment des Prinzen.“
„Des
Prinzen Regiment war bestimmt ein tapferes. Übrigens halte ich sehr
viel vom
Prinzentum im allgemeinen, aber sehr wenig vom Prinzen. Aber das gehört
nicht
hierher . . . „
„Doch“,
sagte Theodor, und ohne Efrussis letzten Satz begriffen zu haben: „Sie
sind
Jude!“
„Das
ist mir nicht neu.“ Efrussi lächelte. „Auch Trebitsch ist Jude, ohne
daß ich
den Wunsch hätte, mich mit ihm zu vergleichen. Aber ich verstehe Sie,
ich lese
ja die nationalen Blätter. Ich inseriere sogar in der „Deutschen
Zeitung“. Sie
wollen also nicht mehr meinen Sohn unterrichten. Hier ist Ihr letztes
Monatsgehalt. Lassen Sie sich durch nichts abhalten, es zu nehmen. Es
gebührt
Ihnen!“
Theodor
nahm es. Seine Weigerung hätte die Diskussion fortgesetzt. Und gebührte
es ihm
nicht wirklich? Hatte er nicht schon beinahe drei Wochen vom laufenden
Monat
weg? Er nahm, verneigte sich und ging.
Und
wußte nicht, daß Efrussi den Major Pauli von der Stadtkommandantur
anrief und
sich über den Verlust des Hauslehrers beklagte:
„Ihre
Agitation geht zu weit!“ sagte Efrussi. Und der Major entschuldigte
sich.
Theodor
hat die erste Aufgabe erfüllt. Er hat ein blutendes Herz mitgenommen.
Er wird
niemals mehr Frau Efrussi sehen.
Und
es ist ihm, als hätte er jetzt erst seinen langen, klingenden Eid
geleistet.
Diese Kündigung war wie ein donnernd zugeschlagenes Tor, Abschluß eines
Weges,
Ende eines Lebens.
IV
Drei
Tage, drei Nächte genoß Theodor sein Geld. Es nahm ihm die Besinnung,
zu wählen
und sich mit Bedacht zu freuen. Er beschlief Mädchen von der Straße und
kostspieligere, die in den Lokalen warteten. Er trank Wein, der ihm
nicht
schmeckte, und süße Liköre, die ihm Qual verursachten und deren
widerlichen
Geschmack er durch Kognak loszuwerden versuchte. Er schlief in
schmutzigen
Gasthöfen und entdeckte spät, daß er für die gleiche Summe alle
paradiesischen
Genüsse eines großen Hotels hätte kaufen können. Er ging einmal in die
Gesellschaft
seiner Kameraden, zahlte ihnen ein paar Runden und wurde ausgelacht.
Jedes neue
Mißlingen einer verschwenderisch unternommenen Freude stachelte seinen
Ehrgeiz
auf, und nur aus Angst vor dem angedrohten Tode hielt er in der
Berauschtheit
mit seinem Geheimnis zurück und dämmte krampfhaft das Wort hinter
widerstrebenden Lippen:
Ich, Theodor Lohse, bin Mitglied einer geheimen Organisation.
Wie
würden sie ihn bewundern, wenn sie es wüßten! Aber fast so köstlich,
wie das
Bewundertsein gewesen wäre, war das Geheimnis, in dem er lebte, und das
Inkognito. Er war im Begriff, an den unsichtbaren Fäden zu ziehen, an
denen,
wie er aus den Zeitungen wußte, Minister, Behörden, Staatsmänner,
Abgeordnete
hingen. Und er trug immer noch das unscheinbare Gewand eines
Rechtshörers und
Hauslehrers. Er ging an einem Polizisten vorbei und wurde nicht
erkannt. Niemand sah
ihm seine Gefährlichkeit an. Manchmal gefiel es ihm, seine
Verborgenheit zu
verstärken, und er trat für einige Minuten in einen dunklen Hausflur
und
bildete sich ein, jemanden zu beobachten, ohne selbst bemerkt zu
werden. Er
bereitete sich auf seinen Beruf vor, indem er eine eingebildete Aufgabe
ausführte. Er trat in irgendein Ministerium und fragte den Portier nach
einem
beliebigen Namen, er las die Liste der Beamten über die Schulter des
suchenden
Portiers und ging zufrieden davon. Er begann, sich um Dinge zu kümmern,
die ihn
niemals interessiert hatten. Er kaufte revolutionäre Blätter, er ging,
um ein gleichgültiges
Inserat aufzugeben, in die Redaktion der „Roten Fahne“ und stellte
fest, daß
sie leicht zu erobern war. Man sollte mit ihm zufrieden sein. Er würde
- fiel
ihm eine Aufgabe zu - über wichtige Dinge
schon orientiert sein.
Mit
jenem hitzigen Fleiß, mit dem er einmal freiwillig seinen Einzug in die
Kaserne
gehalten hatte, machte er sich an noch nicht erhaltene Aufträge, nicht
verlangte Arbeiten. Freilich war es beim Regiment leichter, weil
übersichtlicher. Man kannte den Zimmerkommandanten genau, den
Schulleiter, den
Sergeanten und den Wachtmeister. Hier tappte man im dunkeln. Sollte man
seine
Beflissenheit in Trebitschs Dienste stellen oder dem Detektiv Klitsche
widmen?
Wer kannte sich hier aus?
Theodor
ging planlos durch die Straßen, mit rastlos leerlaufendem Eifer
angefüllt. Er
empfand die Notwendigkeit, seiner Beflissenheit ein sichtbares Gebiet
zu
erobern, deutliche Erfolge zu konstatieren. Vor einem Schaukasten eines
Photographenateliers Unter den Linden blieb er stehen. Hier hing das
farbige
Bild des Generals Ludendorff, ein Paradestück des Photographen.
Immer
war es Theodors Bestreben gewesen, mit den Großen und Größten in irgend
einen
Kontakt zu gelangen. Schon in der Schule hatte er es durch allerlei
Dienst- und
Ehrenerweisungen erreicht, daß ihn der Leiter in den Pausen mit
irgendeinem persönlichen
Auftrag begnadete. Im Kriege war er nach kurzen Monaten Adjutant des
Obersten
geworden. Und beim Anblick des Ludendorffschen Bildes verfiel Theodor
auf den
Gedanken, seine alte Methode anzuwenden und eine Verbindung mit dem
General
herzustellen. Sein Herz schlug, sein Blut klopfte gegen die Schläfen,
als stünde
er vor dem lebendigen General, nicht vor einer Photographie. Und
Theodor begab
sich in ein Café und schrieb einen ehrerbietigen Brief an Ludendorff
nach
München, ohne nähere Adresse, im Vertrauen auf die Popularität des
Generals und
die Zuverlässigkeit der Post.
Und
es geschah, daß Theodor wirklich eine Antwort erhielt. Er las und wuchs
bei jedem der kurzen, metallenen Worte. „Lieber Freund!“ schrieb der
General, „Sie
gefallen mir. Arbeiten Sie fleißig mit Gott für Freiheit und Vaterland.
Ihr
Ludendorff.“
Theodor
las den Brief: in der Bahn, an der Haltestelle, im Kolleg und während
er aß.
Ja, mitten im Gewühl der Straßen erfaßte ihn Verlangen nach dem Brief.
Es zog
ihn zu einer der kleinen Bänke am Rande eines Rasens hin, auf die er
sich
niemals gesetzt hätte, aus Widerwillen gegen die plebejischen und von
Menschen
niederen Schlages bevölkerten Sitzgelegenheiten. Heute war er
meilenweit von
den Menschen entfernt, mit denen er dieselbe Bank teilte. Er las den
Brief und wanderte
weiter, um sich nach zehn Minuten wieder zu setzen.
Wie
ein frommer Bibeldeuter im Text der Heiligen Schrift, so fand Theodor
in den
Zeilen des Generals immer wieder einen neuen Sinn. Bald kam er zu der
Überzeugung, daß Ludendorff von Theodor Lohses Eintritt in die
Geheimorganisation wisse. Trebitsch mußte es ihm mitgeteilt haben. War
Theodor
nicht ein persönlicher Freund des Prinzen? Zwischen der Absendung des
Briefes
und dem Eintreffen der Antwort lagen acht Tage. Also hat sich
Ludendorff in
Berlin erkundigt. „Mein lieber Freund!“ schrieb der General. So
schreibt man einem,
der mehr verspricht, als er schon geleistet hat.
Theodor
begab sich in die „Germania“, in deren Lesesaal der Germanist Spitz
einen
Vortrag über Rassenprobleme hielt. Wilhelm Tiedemann und andere vom
Bunde
deutscher Rechtshörer waren anwesend. Zuerst las Tiedemann den Brief.
Auf seine
Einsicht konnte sich Theodor verlassen. Und Tiedemann war ebenso wie
Theodor
überzeugt, daß Ludendorff seines neuen Freundes Persönlichkeit schon
längere
Zeit kennen mußte.
Alle
sagten es Theodor, alle waren seine Freunde. Aus aller Augen strömte
ihm Liebe
entgegen. Jedes einzelnen Herzschlag hörte er, und das Pochen ihrer
Herzen war
die Sprache der Freundschaft. Er lud sie ein. Er legte seinen Arm um
Tiedemanns
Schultern. Man trank auf Kosten Theodors. Man ließ ihn hochleben. Er
sprach
viel, und noch mehr fiel ihm ein. Als er fortging, trug er ein
gewaltiges
Geräusch seiner eigenen Worte davon.
Der
nächste Morgen brachte ihm eine Einladung zum Detektiv Klitsche. Er
hätte keine
Briefe zu schreiben. An Ludendorff am allerwenigsten. Noch weniger
hätte er
darüber reden sollen. Er wäre nicht der einzige im Bunde der
Rechtshörer, der
zur Organisation gehörte, und jedes Wort, das er gestern sagte, war
Klitsche
hinterbracht worden.
„Geben
Sie den Brief her!“ sagte Klitsche.
Theodor
wurde rot. Flammende Räder kreisten vor seinen Augen. Er war plötzlich
der
kleine Einjährige und stand im Kasernenhof. Er nahm vorschriftsmäßig
stramme
Stellung an. Er war ein kleiner Einjähriger mit der Aussicht auf einen
Gefreitenknopf.
Er
gab den Brief her. Klitsche steckte ihn ein. Er befahl:
»Ziehen
Sie sich aus!“
Und
Theodor zog sich aus. Als wäre es ganz selbstverständlich, zog er sich
aus. Er
dachte daran, daß er Klitsche gehorchen müsse.
Und
langsam und gleichgültig zog er sich wieder an, so langsam und
gleichgültig wie
in seinem Zimmer des Morgens, wie alle Tage.
Es
war Frühling in den Straßen, es zwitscherten übermütige Vögel, die
Straßenbahnen
klingelten, die Luft war blau, die Frauen trugen leichte Kleider.
Theodor
möchte krank sein und ein kleiner Junge und in seinem Bett liegen. Er
trank in
Schnapsbuden zweiten Ranges und schlief mit Mädchen vom Potsdamer
Platz, weil
sein Geld zur Neige ging. Und als er nichts mehr hatte, empfand er die
rauschende Buntheit der Straße tausendmal stärker und seine eigene
Kleinheit.
Und er vergaß den Besuch bei Klitsche, wie er den beim Prinzen Heinrich
vergraben
hatte. Über Abhänge und durch Niederungen führte der Weg.
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