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04.3
Geschichten -
Joseph Roth
Werke
4
1916-
1929
Romane und
Erzählungen
Das
Spinnennetz - S. 5
Roman 1923
IX
Manchmal
kam der Bruder des toten
Klitsche. Er diente bei der Reichswehr, er nahm die strammste Haltung
an, wenn
er sprach, er sagte in einer Minute fünfzehnmal
Herr Leutnant und besaß dennoch eine unbestimmte Vertraulichkeit mit
allen Dingen dieses Zimmers.
Sein
Auge grüßte Tapeten, Decke,
Diele wie alte Bekannte. Er war auf diesem Sofa gelegen, auf diesem
Stuhl
gesessen, und er sah dem toten Klitsche ähnlich. So ähnlich, daß
Theodor das
Angesicht des Toten nicht vergessen konnte und nicht, weshalb er
eigentlich
hier saß, arbeitete, arbeitete und wuchs.
Wäre
dieser Bruder Klitsches
nicht gewesen, Theodor hätte innegehalten - er wußte es nicht bestimmt,
wahrscheinlich hätte er gerastet.
Nach
einer Pause sehnte er sich
manchmal. Dann aber stieg das Angesicht Klitsches auf und Günthers, und
Theodor
arbeitete. Er hat beide getötet, nicht umsonst hat er sie getötet. Den
einen
anzuzeigen war seine Pflicht gewesen, den anderen, der vielleicht schon
tot
war, ehe er den Schlag erhalten hatte, zu töten, das war eine Aufgabe,
die
Früchte tragen sollte.
Aber
es kamen Abende, an denen
Theodor sich mit der Frage beschäftigen mußte, ob die Toten endgültig
tot
seien. Dann ging er in die Kaiser-Wilhelm-Dide, in die kleine Bar, wo
man ihn
kannte, guten Tag, Herr Leutnant, sagte und seinen Besuch schätzte. Ein
paar
Kameraden seiner Gruppe umschmeichelten ihn, machten ihm Platz in der
Mitte,
sahen ihm auf den Mund und
- erkannten sie an den ersten Sätzen, daß es eine lustige Geschichte
würde,
dann lachten sie und waren erschüttert von Theodors Humor. Theodor
kannte viele
Geschichten, er war Held und Mittelpunkt aller, er hatte nicht umsonst
jahrelang
zugehört und gelacht; jetzt wußte er, daß der Erzählende Mittelpunkt
sein
mußte. Manchmal auch vergaß er und glaubte, manches selbst
erlebt zu haben. Denn er
trank, und auch der Beifall berauschte ihn, und er saß rittlings auf
hohem
Barstuhl, und ihm war, als galoppierte er.
Er
hörte das Gelächter der
Freunde aus der Ferne, die Musik, die im großen Saale spielte und
unhörbar
gewesen war, rückte näher, sie spielte das Lied vom schwarzbraunen
Mädchen, und
es war Theodor zum Weinen traurig, und er wunderte sich nur, daß die
Bardame
lächelte.
Er
trank noch einen Gemischten
und sank vom Stuhl und erwachte morgens.
Oh,
wie gern hätte er sich einer
anderen Art der Entspannung hingegeben! Es war schön hinauszufahren,
der Sommer
lag breit und mächtig über der Welt, und in den Wäldern war . . . In
den
Wäldern gefiel es Theodor nicht, die Toten lagen in den Wäldern, sie
wurden von
Würmern gefressen, und grünes Gras sproßte aus ihrem Gebein.
Einmal
kam die Ruhe, spät, auf
den Gipfeln erst war sie, weit war der Weg und Theodor müde.
Aber
es trieb ihn zu den Gipfeln,
er sah sie nicht, kannte sie nicht, er konnte sie sich kaum vorstellen.
In ihm
schrie aus: aufwärts, um ihn schrie es: aufwärts, schon kannte er die
Wege,
schon war er ein Gruppenführer, schon lebte er mit Journalisten gut, er
kannte
den großen Politiker Hilper, er ging auf die Galerie des Reichstags, er
hörte
sich selbst schon reden, er sah sich in diesem Saal, an der Spitze
seine Leute,
hörte seinen schrillen
Pfiff, er schlug auf die Abgeordneten, verjagte sie, er schrie: Hoch
die
Diktatur! Oben, hoch oben in der Nähe des Diktators, stand Theodor.
Er
entsann sich seiner alten
Methode: Er trat in direkten Verkehr mit Hohen und Höchsten. Jetzt
kannte er
sie. Über seinem »Major Seyfarth« stand der »Marinekapitän Hartrnut«.
Theodor
ersann Pläne; er suchte das Leben, die Gewohnheiten jüdischer und
sozialistischer Männer zu erkunden; manches erfuhr er, anderes erfand
er. Er
schrieb im »Nationalen Beobachter« über eine erfundene Verbindung eines
Politikers
mit französischen Spionen und schlug ein Attentat vor.
Er
war klug und fand
Anhaltspunkte für jede Beschuldigung. Er übertrieb, korrigierte
Tatsachen, sein
Verdacht ruhte auf irgendeinem Ereignis. Manchmal erriet er eine
geheime
Verbindung. Journalisten machten ihn auf unscheinbare Vorfälle
aufmerksam. Er
schickte seine Spione aus. Er wußte, daß jeder dieser Spitzel
übertrieb. Er
vergrößerte ihre Übertreibungen. Er arbeitete Pläne zur Befreiung
gefangener Organisationsmitglieder
aus. Er sendete die Pläne nach München - an den Kapitän Hartmut. Er
verdiente
zumindest Geld. Er verfaßte Rechnungen.
Unzufriedene
Spitzel begütigte er
durch kameradschaftlichen Händedruck. Es gab Dumme, sie ließen sich
alles
gefallen. Sie warteten.
Aber
die Stelle S, »Major
Seyfarth«, sendete Rügen und Ermahnungen, bestellte Theodor nach
München.
Theodor hatte Ausreden.
Theodor
ging vom »Major Seyfarth«
zum »Kapitän Hartmut«. Er war ein alter Herr, er trug spärliches Haar
über der
Glatze, von hinten nach vorn gekämmtes, und er lauschte mit dankbarer,
aber nie
gestillter Gier einem Kompliment, einer Schmeichelei. Theodor erkannte
ihn.
Manchmal ließ er ein vorsichtiges Urteil über die Stelle S fallen.
Einmal sagte
Theodor: Wenn er nicht die Stelle S hätte, sondern den
Kapitän selbst - das wäre
anders. Er brauchte einen freien Geist, er, Theodor Lohse.
Er
vergaß, daß Trebitsch lebte;
daß Trebitsch verdienen mußte; daß auch der Rechnungen verfaßte; daß es
seine
Aufgabe war, Theodor zu überwachen. Und Trebitsch teilte mit, daß
Theodor im
Eifer dieses übertrieben, jenes falsch gesehen hatte. Oh, er besaß
zuverlässige
Augen und Ohren, der Jude Trebitsch.
Theodor
bereitete die Befreiung
eines Untersuchungsgefangenen vor. Er fuhr nach Leipzig. Einer der
Aufseher war
Wachtmeister in Theodors Kompanie gewesen. Ihn wollte er für die
Organisation
gewinnen.
Er
teilte nach München gute Fortschritte
mit. Und erhielt den Besuch eines Mannes mit dem schriftlichen Befehl,
heute
noch, spätestens morgen auf das Gut Lukscha in Pommern mit fünfzig
Männern
abzureisen.
X
Er war ohnmächtig,
erbittert,
rachelüstern. Er ging zu Trebitsch . . .
War
ein Theodor Lohse nicht
unentbehrlich? Und Trebitsch lächelte. Er kämmte mit gespreizten
Fingern seinen
Bart. Es blieb nichts übrig, Theodor reiste.
Auf
dem Gut Lukscha in Pommern
streikten die Landarbeiter. Der Freiherr von Köckwitz rief nach Hilfe.
Er
war alt, der Freiherr von
Köckwitz. Er war verwitwet. Er hatte drei Söhne: Friedrich, Kurt,
Wilhe1m. Er
war ein Jäger. Er schoß gut. Er schoß den ganzen Tag. Er besaß ein
Waffenarsenal im Keller. Er war streng gegen sich und andere. Er
empfing
Theodor um die Mittagsstunde. Die Sonne brannte. Theodors Leute hatten
eine
Stunde Marsch hinter sich. Der Freiherr verlangte militärischen
Schritt. Waren das
Landstreicher? Ging man in
Gruppen? Er forderte Viererreihen. Er dirigierte den Zug nach der
großen
Scheune. Sie lag eine Viertelstunde weiter. Theodor marschierte,
erbittert,
ohnmächtig, rachedurstig.
Er
kannte den Freiherrn von
Köckwitz.
Jeder
kannte ihn. Er hatte einen
Arbeiter beim Holzfällen erschossen. Er bedrohte Sonntagswanderer mit
schußfertigem Gewehr. In seinen Wäldern verschwanden erdbeerensuchende
Kinder.
Seine Söhne standen im Sommer hinter Hecken verborgen; erlauerten
Ausflügler; schossen
auf Wandervögel. Der jüngste Sohn war zwölf Jahre alt und zielte auf
die Tauben
der Förster. Freiherr von Köckwitz hatte seine Frau ins Grab geärgert.
Sie war
eine geborene von Zick. Ihr Großvater nachweislich bei der Post
gewesen. Junger
Adel von der Pferdepost. Sie starb an ihrem Großvater. Die Zeitungen
schrieben
über den Freiherrn von Köckwitz. Die Gerichte ließen Anklagen
verstauben, zerfallen,
Staatsanwälte waren zu Jagden eingeladen. Untersuchungsrichter spielten
Poker
mit Kurt. Man kannte den Freiherrn von Köckwitz. Man verspottete ihn.
Man
erzählte Köckwitz-Anekdoten.
Jedes
Jahr streikten seine
Arbeiter. Immer halfen ihm Roßbach Leute. Diese Sommerarbeit fürchtete
man.
Beim Freiherrn von Köckwitz erhielt man zweimal täglich Essen.
Graupensuppe und
Schwarzbrot.
Sie
lagen in der Scheune,
verärgert und hungrig. Am Nachmittag kam Freiherr von Köckwitz und
befahl:
»Lassen Sie Ihre Leute singen! Ich liebe Gesang!« Sie sangen, sie
arbeiteten,
sie aßen Schwarzbrot und Graupensuppe, sie legten sich schlafen, sie
standen
beim ersten Morgenstrahl auf. Sie sangen.
Einmal
kam der Freiherr aufs
Feld. Er war gut gelaunt. Er lud den Untersuchungsrichter ein. Er lud
auch
Theodor und die fünfzig ein. Er sprach mit Theodor. Schimpfte auf die
Arbeiter.
Sie waren Polacken.
Kein
Tropfen deutschen Blutes,
Juden verführten sie. In dieser Gegend lebten überhaupt Juden,
Polacken, rotes
Gesindel. Es war zum Niederknallen.
Niederknallen
sollte man sie. In
dieser Nacht brannte die große Scheune. Einer von Theodors Leuten hatte
geraucht. Der Freiherr drohte: Drei Taglöhne weniger. Aber der
Untersuchungsrichter verdächtigte die Landarbeiter. Man verhaftete
zehn.
Hundert
zogen am nächsten Tage
vor das Gut. Der Freiherr ließ Maschinenpistolen aus dem Keller
bringen. Er
verlor den Appetit. Er schloß die Fensterladen. Ohrfeigte den zwölf
jährigen
Wilhelm. Schon sah er sein Haus vernichtet. Seine Söhne gehängt. Sich
selbst
gefoltert. Er ging nicht mehr in die Felder. Er schlief in Kleidern,
die
Pistole neben sich. Er fürchtete sich vor vergifteten Speisen. Er
fürchtete
sich überhaupt.
Theodor
schlief im Hause. Nicht
nur, weil die Scheune abgebrannt war. Wachen stellte Theodor auf. Die
jungen
Freiherren inspizierten.
Der
Alte war milde. Ein gütiger
Greis. Er spendete für die Kirche. Er sah sich um, wenn er sprach. Er
flüsterte. In solcher Stimmung war er zugänglich jedem Rat.
Theodor
war erbittert. Schickte
man ihn weg? Wollte man seinen Namen untergehen lassen? Brennen sollte
der Name
Theodor Lohse in allen Zeitungen. Nicht vergessen sollte man Theodor
Lohse. In
Berlin und in München nicht. Man wird ihn nicht vergessen.
Man
muß die Arbeiter
herausfordern. Kam es zum Kampf - sie vernichten. Hundert Mann - hatten
sie
Waffen? Hier war ein Arsenal. Man wird Theodor Lohse nicht vergessen.
Jeden
Tag sangen sie:
Der
Verräter zahlt mit Blut,
Schlagt
sie tot, die Judenbrut,
Deutschland
über alles.
Sie
arbeiteten weniger. Sie
exerzierten. Sie rückten mit Gewehren aus. Die Arbeiter hungerten. Ihre
Kinder
bekamen dünne Hälse und große Köpfe. Die Frauen kreischten, wenn sie
Theodors
Leute sahen. Sie riefen: »Hunde!«
Man
schoß in die Luft. Arbeiter
kamen, hundert, zweihundert aus der Nachbarschaft. Sie trugen Stöcke.
Sie
warfen Steine. Sie zogen zum Gutshof.
Theodor
ließ sie in den Hof.
Drinnen schrien sie. Sie drängten gegen das Haus. Fensterscheiben
klirrten
wehmütig. In den Fenstern lag Bettzeug zum Auffangen der Steine. Ein
Arbeiter,
von Kameraden auf die Schultern gehoben, hielt eine Rede.
Theodor
schoß. Der Arbeiter
schwankte. Auseinander stoben alle. Vor dem Tor strömten sie zusammen
und
rüttelten vergebens an der dreifachen Riegelung. Sie schwangen sich
über die
Mauer. Aber drüben blitzten Gewehrläufe. Die Arbeiter ließen sich in
den Hof
fallen. Aus dem Hause tönten Schüsse.
Die
Sterbenden stöhnten. Die
Lebenden schwiegen. Es erhob sich eine große Ruhe. Es wehte Stille aus
dem Hofe
wie aus einem weiten, geöffneten Grab. Heiße Sonne strahlte von den
Pflastersteinen wider. Hoch in der Luft trillerten Lerchen. Eine Hummel
surrte
wie ein großer Kreisel. Aus der Ferne scholl die Stimme eines Hundes
herüber.
Glocken der Dorfkirche dröhnten.
Viele
entkamen über die Mauer,
schlugen die lauernden Schützen nieder und entflohen. Dreißig blieben
liegen,
verwundet und tot. Blutgerinnsel zeichnete Landkarten auf das weiße
Pflaster
des Hofes.
Spät
kam Gendarmerie, trank Bier
auf dem Hofe, noch war das Blut nicht getrocknet. Ein Grübchen im
Kinderkinn
hatte der junge Untersuchungsrichter und ein Hakenkreuz im Knopfloch.
Es
schrieben die Zeitungen:
Blutiger Aufstand der Landarbeiter! Eine Heldentat der Technischen
Nothilfe! in
die horchende Welt. Reporter kamen. Theodor Lohse sprach mit ihnen.
Theodor
Lohse stand in der Zeitung. Ein Student, Leutnant der Reserve, hat den
Aufstand
niedergeschlagen: Theodor Lohse.
Der
Sonntag war Sammeltag für die
Technische Nothilfe. Weißgekleidete Kinder verkauften Kornblumen aus
Leinwand
in den Straßen Berlins.
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