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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Das Spinnennetz - S. 9
Roman 1923


XVII

Seit jenem Abend kam Benjamin Lenz täglich ins Berliner Büro in der Potsdamer Kaserne. Wieviel Gewehre hatte Theodor an seinen Bismarck-Bund verteilt? ob Marinellis Flucht schon vorbereitet war? Wie oft gingen die Kuriere von Leipzig nach München?
 
Alles wußte Benjamin; wußte mehr, als man ihm sagte. Dafür brachte er Theodor zu den anderen. Bekannte Gesichter aus München glaubte Theodor wiederzufinden: den Invaliden Klatko aus den oberschlesischen Abstimmungskämpfen, den Deserteur Conti aus Triest, den Vizefeldwebel Fritsche aus Breslau, den gewesenen Polizeiwachtmeister Glawacki, den Buchbinder Falbe aus Schleswig-Holstein.
 
Eine Woche lang ging er in die Versammlungen. Sah die verräucherten, schlecht beleuchteten Lokale, tiefe, wie aus Gräbern kommende, heisere, rasselnde, das tausendfache Rufen der Zuhörer, stand hart neben ihnen, roch ihren Schweiß und ihre Armut, sah in flackernde Pupillen, sah dürre Gesichter auf knochigen Hälsen, eckige Fäuste an dünnen, wie ausgesogenen Handgelenken; sah Schnurrbärte, willkürlich gekämmte über zahnlosen Mündern, zwischen geöffneten Lippen schwarze Zahnlücken, Bandagen, von Jodoform durchtränkte, über entblößten Armen. Sah Frauen mit spärlichem, straffgekämmtem wasserblondem Haar, die Armseligkeit der Trägerin, ihren gedörrten Hals, sah durchsichtige, dünne gelbliche Haut, in schlaffen Fetzen hängende. Sah Mütter mit großköpfigen Kindern an welkender Brust, sah Jünglinge mit verwegenen Locken über mutigen Stirnen, dennoch schon von Arbeit und Krankheit gezeichnete, mit unnatürlich großen Augenhöhlen; sah junge Mädchen in derben Schuhen, mit bleichen Gesichtern, männersuchenden Augen, gefärbten Lippen, hörte ihre hemmungslos kreischenden Stimmen. Er sah sie trinken, roch den Schnaps, verstand den Dialekt nicht, lächelte ein leeres Lächeln, wenn jemand an ihn stieß. Fremd waren ihm die Menschen, fremde Gesichter trugen sie, nicht von seiner Welt waren sie, nicht von dieser Welt.
 
Er bedauerte sie nicht, er sah, daß sie leiden mußten, aber welcher Art ihr Leid war, konnte er sich nicht vorstellen. Den einzelnen hätte er vielleicht verstanden, in der Menge aber gab es keine Kontur, keinen bleibenden Punkt. Alles schwankte und schwamm. Wie sie liebten, wußte er nicht, und nicht, wie sie weinten. Er sah, wie sie aßen, Brot, das in den Rocktaschen lag, rissen sie mit Daumen und Zeigefinger heraus, zerpflückten es gleichsam und stopften es mit vorgehaltener Hand in den lechzenden Mund. Aber wie waren ihre Zungen beschaffen, ihre Gaumen? Wie schmeckten sie? Manchmal, wenn sie jubelten, war es eine Drohung, und nicht anders klang ein Zuruf der Erbitterung.
 
Er liebte sie nicht. Er fürchtete sich vor ihnen, Theodor Lohse. Seine eigene Furcht haßte er. »Herr Leutnant Lohse«, sagte Benjamin Lenz, »das ist das deutsche Volk, für das Sie zu arbeiten glauben. Die Offiziere in den Kasinos sind nicht das Volk.«
 
Und Benjamin Lenz freute sich. So war es in Europa, wo man nicht sprach, was man tat, und umgekehrt. Wo einer Offiziere und Studenten für das Volk hielt. Europa, in dem es Nationen gibt, die keine Völker sind.
 
Und dann begab sich Benjamin Lenz zu Trebitsch und erzählte von Theodor Lohses Entwicklung und Verrat. Er hatte selbst längst schon verraten, was er durch Theodor erfahren, der Benjamin Lenz. Und Trebitsch warnte er: Noch einige Tage und Lohse verrät Waffenlager, Marinellis Befreiung, Beziehungen der Reichswehr; Gewehre des Bismarck-Bundes.
 
Benjamin Lenz war sehr froh. An diesem Abend legte er Geldscheine in einen Umschlag und schickte sie seinem Bruder.

 

 
XVIII
 
Wie liebte er diese Zeit, Benjamin Lenz, diese Menschen. Wie wuchs er unter ihnen, gedieh, sammelte Macht, sammelte Geheimnisse, sammelte Geld, sammelte Freuden, sammelte Haß. Sein lauerndes Auge trank das Blut Europas, sein halbhöriges Ohr den Klang der Waffen, den scharfen Knall der Schüsse, das Heulen der Gewalt, das letzte Gestöhn der Sterbenden und die rauschende Schweigsamkeit der Toten.
 
Rings um Benjamin verkümmerten die Wachsenden und wurden nicht reif; haßten die Gereiften einander; verdorrten die Guten und die Güte; vertrockneten die Säuglinge; Greise wurden in den Straßen zertreten; Frauen verkauften ihre kranken Leiber; Bettler protzten mit ihrem Gebrest, Reiche mit ihren Banknoten; geschminkte Jünglinge verdienten auf der Straße; Arbeiter schlichen mit krankem Schattenschritt zur Arbeit wie längst Gestorbene, die den Fluch ihres irdischen Tagewerkes weiterschleppen müssen, andere betranken sich, heulten wahnsinnigen Jubel in den Straßen, letzte Jauchzer vor dem Untergang; Diebe legten ihre schleichende Sorgfalt ab und paradierten mit der Beute; Räuber hatten ihre Winkel verlassen und verrichteten ihr Werk im Sonnenschein; brach einer nieder auf hartem Pflaster, raubte ihm der andere den Rock im Weitergehen; Krankheit wälzte sich durch die Häuser der Armen, über staubige Höfe, lag in den lichtarmen Stuben, drang durch die Haut; Geld rann durch die Finger der Satten, ihrer war die Macht; Furcht vor den Hungrigen nährte ihre Grausamkeit; Fruchtbarkeit ihrer Güter blähte ihren Stolz; sie tranken Champagner in lichterfüllten Palästen; sie ratterten in Automobilen vom Geschäft zur Freude, von der Freude zum Geschäft; Fußgänger starben unter den Rädern; rasende Chauffeure flitzten weiter; die Totengräber streikten; die Metallarbeiter streikten; vor den Nahrungsmitteln hinter glänzenden Spiegelscheiben reckten sich ausgedörrte Hälse, flackerten Augen, aus den Höhlen getretene; kraftlose Fäuste ballten sich in zerrissenen Taschen.
 
In den Parlamenten redeten oberflächliche Menschen. Minister gaben sich ihren Beamten preis und waren ihre Gefangene. Staatsanwälte exerzierten in Sturmtrupps. Richter sprengten Versammlungen. Nationale Wanderredner hausierten mit tönenden Phrasen. Listige Juden zahlten Geld. Arme Juden erlitten Prügel. Geistliche predigten Mord. Priester schwangen Knüppel. Katholiken waren verdächtig. Parteien verloren Anhänger. Fremde Sprachen waren verhaßt.
 
Fremde Menschen wurden bespien. Treue Hunde wurden geschlachtet. Droschkengäule gegessen. Beamte saßen hinter Schaltern, hinter Gittern, unerreichbar, geschützt vor der Wut, lächelten und befahlen.
 
Lehrer prügelten aus Hunger und Wut. Zeitungen erlogen Greuel der Feinde. Offiziere wetzten Säbel. Gymnasiasten schossen. Studenten schossen. Polizisten schossen. Die kleinen Knaben schossen. Es war eine schießende Nation.
 
Und Benjamin lebte unter verzerrten Gesichtern, verrenkten Gliedmaßen, gekrümmten Rücken, geprügelten Rücken, geballten Fäusten, rauchenden Pistolen, geschändeten Müttern, aussätzigen Bettlern, betrunkenen Patrioten, schäumenden Bierkrügen, klirrenden Sporen, zerschossenen Arbeitern, verbluteten Leichen, offenen Gräbern, verschütteten Mordgruben, erbrochenen Kassen, eisernen Knüppeln, scheppernden Schwertern, klingenden Orden, paradierenden Generalen, blitzenden Helmen.
 
Oh, wie liebte sie Benjamin Lenz! Wie durfte er sie hassen und ihrenHaß nähren und großzüchten! Er sah den grausamen Lebendigen und roch den Moder voraus. Benjamin wartet, sie werden ihm anheimfallen. Sie werden einander zerfleischen, er wird es erleben. Wie liebte Benjamin Theodor, den gehaßten Europäer, Theodor: den feigen und grausamen, plumpen und tückischen, ehrgeizigen und unzulänglichen, geldgierigen und leichtsinnigen, den Klassenmenschen, den gottlosen, hochmütigen und sklavischen, getretenen, strebenden Theodor Lohse!
 
Es war der europäische junge Mann: national und selbstsüchtig, ohne Glauben, ohne Treue, blutdürstig und beschränkt. Es war das junge Europa.






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