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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






Das Spinnennetz - S. 10
Roman 1923


XIX

Am 20. Oktober, um II Uhr nachts, wurde Marinelli befreit. Er floh in bereitgehaltenem Auto nach Berlin, er fuhr nach Potsdam, der Chauffeur hatte Befehl, ihn zu Theodor Lohse in die Kaserne zu bringen.
 
Theodor erwartete ihn. Marinelli wurde am Morgen in Uniform gesteckt, er verblieb in der Kaserne. Am 21. Oktober kam Benjamin Lenz und begrüßte Marinelli; dann nahm er Theodor mit zum Russen Rastschuk, der ein Bankbeamter war.
 
Theodor sprach gern mit Rastschuk. Likör tranken sie. Rastschuk war so groß, so stark, daß er die kleine, dunkle Likörstube erfüllte. Er sprach sehr leise, und man hörte ihn dennoch. Wenn er sein Auge auf den Kellner warf, kehrte der um, als wäre er gerufen worden. Ganz großartig war Rastschuk.
 
Benjamin Lenz erzählte ihm von Marinellis Befreiung und Flucht und Aufenthalt in der Kaserne. Es war Theodor sehr peinlich, und es wurde ihm heiß, weil Benjamin seine Erzählung immer unterbrach und Theodor zum Zeugen für die Richtigkeit seiner Worte anrief. »Nicht, Herr Lohse?« fragte Benjamin, und Theodor schwieg.

Was wußte er überhaupt von Rastschuk? Daß er ein Weißgardist gewesen und für den Sturz der Bolschewiki arbeitete. So sagte Lenz. So sagte Rastschuk selbst. Aber Theodor glaubt es nicht. Gleichgültig war alles, zu spät kamen die Bedenken. Theodor ging mit Benjamin Lenz. Das ist sein Bundesgenosse.
 
Benjamin hat einen Plan entworfen. Theodor Lohse erfährt von den anderen die Vorbereitungen für den 2. November. Dann berichtet er der Organisation. Aber er stellt Bedingungen: Was erhält Theodor Lohse für seinen wertvollen Bericht? Er muß nach dem gelungenen 2. November eine führende, weithin sichtbare Stellung einnehmen. Er ist heute eine Gefahr, Theodor Lohse. Zwei Wochen trennen ihn vom 2. November.
 
Um die anderen zutraulich zu machen, liefert er ihnen Geheimbefehle aus. Es kommen Befehle an Theodor Lohse. Briefe von Münchner Freunden, in denen gleichgültige Sätze stehen: Alfred holt am 2. Paul ab. Aber dieser Satz bedeutet: Die Berliner Polizei holt die Reichswehr zu Hilfe.
 
Oder: Unser alter Freund hat sich mit Viktoria verlobt. Und das heißt: Der Reichswehrminister ist mit den Organisationen einverstanden.
 
Und: Martin fährt für eine Woche zu den Kindern. Also fuhr Marinelli zum Bismarck-Bund, mit Grüßen von Theodor und dem Befehl, die jungen Leute für den 2. November in der Universität bereitzuhalten.
 
Diese Briefe bekam Lenz. Er trug sie zu Rastschuk.
 
Dafür erfährt Theodor, daß sächsische Ordnerwehren nach Berlin kommen. Daß in Potsdam nichts geplant werde. Daß den kommunistischen Arbeitern in Berlin hundertzweiundfünfzig Polizisten ergeben sind.

Das berichtet Theodor nach München an seinen Freund Seyfarth. Er schreibt: »Ich könnte Dir viele Neuigkeiten erzählen, wenn wir uns sähen. Ich habe keine Geduld zu schreiben. Ich bin beschäftigt.«
 
Also fährt Student Kamm nach Berlin.
 
»Ich schicke Dir den jungen Kamm«, schreibt Seyfarth. »Zeig ihm Berlin, er ist zum erstenmal dort.«
 
Theodor, Kamm und Benjamin Lenz gingen durch Berlin. Kamm hatte Geld, und sie gaben es aus. Sie tranken im Tanzpalast und in der Kaiser-Wilhelm-Diele, und Theodor traf dort seine alten Freunde, und es gab ein großes Fest.
 
Man sperrte die Cafes, die Dielen, die Tanzpaläste, sie ließen sich von flüsternden Männern an den Straßenecken in Spielklubs fahren, spät war es, in dem rauch erfüllten Zimmer merkte man nichts, hörte man nur das klatschende Geräusch der Karten, das kurze Gelächter der Menschen, das Rascheln der Banknoten, das Klirren eines Tellers.
 
Theodor, Kamm und Benjamin saßen in Fauteuils, abseits vom Spieltisch. Jetzt hatte Kamm kein Geld mehr. Er besorgte sich Reisegeld bei Benjamin. Er bekam nur so viel, daß er gerade noch die dritte Klasse des Schnellzugs benützen konnte.
 
»Man soll bescheiden sein!« sagte Lenz.
 
Dann besprachen sie Einzelheiten.
 
Lenz verlangte nach dem 2. November »großzügige Reklame« für Theodor Lohse. Alle nationalen Blätter sollten ihn nennen. Sie müßten ihm das Verdienst zuschanzen, die Stadt gerettet zu haben, das Vaterland.
 
Andererseits hätte Theodor noch Mittel, sich sehr viel anderswo zu holen.
 
»Man kann sie ja vorher umbringen - beide!« sagte Kamm und putzte seine Nägel mit einem Stückchen Rehleder.
 
»Man sollte es versuchen!« spottete Lenz.
 
Er nahm den Aufmarschplan der sächsischen Ordner aus der Tasche.
 
Lenz und Theodor geleiteten Kamm zur Bahn. Kamm stand am Fenster und winkte.

»Gruß an Seyfarth!« »Vergessen Sie Paul nicht!« sagte Kamm. Dann schied Lenz. Er zwängte sich durch die eilenden Scharen der Büromädchen. Er stieß an geschminkte Frauen, die verloren dastanden. Es war, als hätte die Nacht sie vergessen.
 
Und Benjamin Lenz ging zu Rastschuk. Man änderte den Aufmarschplan in Eile. Lenz hatte Kamm das Original gegeben. »Man muß ehrlich arbeiten!« sagte Benjamin Lenz.

 


XX

Einige Tage vor dem 2. November verschwand Dr. Trebitsch. Sein Onkel Artur war aus New York angekommen. Er besaß ein Schiffskartenbüro. Er sagte »weil« und schob die Unterlippe vor. Er trug sein Geld in der Hosentasche, viel Geld, deutsches Geld. Für Dollars hatte er ein Scheckbuch.
 
Er stammte aus Österreich und war vor einer Assentkommission geflüchtet. Das war dreißig Jahre her. Jetzt hatte Artur keine Haare mehr.
 
Er hatte Söhne und Töchter. Die Söhne hatten in der amerikanischen Armee gedient. Es waren tapfere Söhne, sie gaben dem Militär, was ihm der Vater durch die Flucht vor der Assentkommission entzogen hatte.
 
Er war Witwer, der Onkel Trebitschs. Zum erstenmal nach zwanzig Jahren kam er wieder nach Europa. Er hieß Trewith. Er erschrak vor dem Bart seines Neffen. Er lachte viel und laut und schlief jede Nacht mit zwei Mädchen.
 
Er fragte den Dr. Trebitsch, ob er nicht nach Amerika wolle. Was sollte ein Mensch in Europa? Es stank und faulte. Es war ein Leichnam.
 
Dr. Trebitsch sagte: »Ja!« Der Onkel kabelte nach New York. Er ging zum amerikanischen Konsul. Er zog die Hand aus der Hosentasche und benahm sich auch sonst höflich.
 
Plötzlich liebte er seinen Neffen sehr. Artur Trewith weinte gerührt, weil dieser kleine Junge, den er selbst noch in der Wiege gesehen hatte, jetzt einen langen, rotblonden, wallenden Bart trug, wie ein Prediger. So etwas konnte sich ereignen! Der Bruder Adolf war tot. Die Schwägerin war tot. Weit und breit fand man in Europa nur einen blutsverwandten Menschen, und der trug einen langen Bart! Es war rührend. Der Onkel Trewith blieb und wartete auf seinen Neffen.
 
Dr. Trebitsch telegraphierte um Geld nach München. Dann ging er zu Major Pauli. Dann zählte er den Bestand seiner Kasse.
 
Jeden Tag liefen Schecks ein. Trebitsch telephonierte an alle, die für die Technische Nothilfe gezeichnet hatten.
 
Auch Efrussi schickte seinen Beitrag. Ein Großunternehmerverband gab einen Vorschuß aus Furcht vor dem 2. November. Trebitsch vergaß niemanden.
 
Er ging in die Redaktion der »Deutschen Zeitung«. Sie hatte für ein verunglücktes Mitglied der Technischen Nothilfe gesammelt. Die Spenden holte Trebitsch ab. Er vergaß niemanden.
 
Einen Tag vor seiner Abreise ließ er sich den Bart scheren. Mit einem glatten Knabengesicht überraschte er seinen Onkel im Hotel. Der Onkel Trewith weinte vor Freude. Dann schrieb Trebitsch einen einzigen Abschiedsbrief an Paula vom Amt für Landesverteidigung.
 
»Du wirst mich nie mehr sehn!« schrieb Trebitsch.
 
Und Paula lief zu Trebitsch: Die Post hatte ihr den Brief noch vor dem Büro gebracht. Die Wohnung war verschlossen. Als sie hinunterging, begegnete ihr auf der Treppe ein junger Mann mit einem Kindergesicht, der sie nicht beachtete, obwohl sie einen zitronengelben, auffallenden Hut hatte. Das ärgerte Paula. Aber größer war ihr Kummer um den Dr. Trebitsch. So ging sie weiter, sah draußen ein Automobil, in dem ein alter Amerikaner saß und eine Zigarre rauchte.
 
Theodor kam zweimal, er fand Trebitschs Wohnung versperrt. Theodor kam einen Tag später mit Benjamin Lenz. Lenz brachte einen Haken, leicht ging die Tür auf, sie war nicht verschlossen. Sie fanden die Schränke offen. Die Schubläden offen. Einen umgeworfenen Stuhl. Alte Kleider. Schmutzige Wäsche.
 
Sie telephonierten zu Major Pauli: Er wußte nichts. Nur, daß Trebitsch Geld genommen hatte.
 
Sie fragten beim Verlag der »Deutschen Zeitung« an. Man wußte nichts. Nur, daß Trebitsch Geld geholt hatte.
 
Da setzte sich Lenz auf das Sofa und dachte nach.
 
»Er ist geflohen, Lohse!« sagte Benjamin.
 
Um neun Uhr morgens fiel die Brücke im Hamburger Hafen. Dr. Trebitsch stand an Bord der »Deutschland«. Sein Onkel Trewith lief noch einmal hinunter, erblickte ein Mädchen unter den Zuschauern, wie schön, daß sie gekommen war. Gestern hatte sie es ihm versprochen. Er küßte sie laut. Alle sahen zu. Dann lief er zurück, die Glocke läutete. Er lief, so daß seine glatten, starken Backen wackelten. Er stand und winkte mit einem großen Taschentuch. Der Dr. Trebitsch winkte auch.






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