Viele kannte Benjamin: den
Journalisten Pisk; den Filmagenten Brandler; den Statisten Neumann; den
Schwarzkünstler Angelli; den Reiseschriftsteller Bertuch.
Der Journalist Pisk war ein
wertvoller Mann. Er schrieb für jüdische Blätter. Bilder aus der
Gesellschaft.
Aus der alten und aus der neuen Gesellschaft. Wenn eine Prinzessin
starb,
schrieb er.
Aber über den Kapitän Ehrhardt
schrieb er auch. Er schrieb den Werdegang Noskes. Er schrieb die
Vergangenheit
Ludendorffs. Er schrieb die Kadettengeschichten Hindenburgs. Er schrieb
über
Krupp. Er schrieb über Stinnes' Töchter und Söhne.
Er schrieb über Theodor Lohse,
weshalb sollte man über Theodor Lohse nicht schreiben? »Er ist der Mann
der
Zukunft!« sagte Benjamin Lenz. Pisk hatte ein abstehendes Ohr. Er trug
seinen
breitrandigen Hut schief, so daß die Krempe sein Ohr beschattete. Und
er trug
den Hut im Cafe auch, er wollte nicht durch sein Ohr auffallen. So
konnte
niemand sagen, er hätte einen Schönheitsfehler. Man sagte höchstens, er
könne
sich nicht benehmen. Aber das sagte man ohnehin.
Aber wenn er mit Theodor Lohse in
der Likörstube saß, hatte er doch den Hut abgelegt. Das bedeutete eine
Ergebenheit, die sich nicht scheut, Opfer zu bringen. Und Benjamin
schließt
daraus, daß Pisk sehr viel über Theodor zu schreiben gesonnen ist.
Es stehen in der »Morgenzeitung«
Aufsätze über »Männer der Revolution«. Und es wird in der
»Morgenzeitung«
erzählt, daß Theodor Lohse es gewesen ist, der in einer entscheidenden
Nacht
den Reichstag vor der Demolierung durch Spartakus gerettet hat.
Man spricht im Kasino über den
Artikel im jüdischen Blatt. Es bitten die »jungen Leute« am unteren
Tischrand,
Theodor möge die Geschichte erzählen. Nein, Theodor Lohse erzählt nicht
gern
von sich selbst. Er sagt: »Nicht der Rede wert!« Und obwohl sogar der
Oberst
ihn ansieht und gleichsam eine Pause im Essen eintritt und des Obersten
Wangentaschen nicht mehr zittern und des Obersten Augen auf Theodor
gerichtet
sind, erzählt er nicht.
»Ein anderes Mal! Bei
Gelegenheit«, sagt Theodor Lohse. Gelegentlich hat Pisk seine
Brieftasche
vergessen. »Zahlen!« ruft Benjamin Lenz. Und wenn der Kellner beim
Tisch steht,
erwartend und leicht vorgeneigt, muß Theodor zahlen. Denn er ist in
Uniform.
Manchmal sagt Pisk: »Nehmen wir
ein Automobil!« Pisk gibt dem Chauffeur das Ziel an. Unterwegs steigt
er aus,
und Theodor Lohse fährt weiter. Manchmal hat Pisk auch noch andere
Bedürfnisse.
Und Benjamin Lenz hat auch Bedürfnisse. Nun
hat Theodor auch die Vertretung Trebitschs übernommen. Er braucht nur
dreimal in
der Woche auszurücken.
Auch der Oberst weiß, daß Theodor
in Berlin zu tun hat. In unregelmäßigen, aber häufigen Abständen
flackert der
Name Theodor Lohse in Berichten und Artikeln auf. In jüdischen
Zeitungen, die
Revolution nicht lieben.
Pisk aber liebt Männer der
Revolution. Er lebt von ihnen. Er trägt seit einigen Tagen ein Monokel
und in
der Brieftasche einen Ausweis vom Bund landwirtschaftlicher Eleven. Er
ist so
gegen Straßenkämpfe und Überfälle gerüstet. Auch Benjamin Lenz trägt
ein
Monokel. Man sieht die Nähe des 2. Novembers.
XXII
Die Nacht vor dem 2. November
verbrachte Theodor mit Kameraden in einem Nachtlokal. Man hielt
verschieden
gefärbte Mädchen auf den Knien. Es galt, vom Leben Abschied zu nehmen.
Das
sagten die Offiziere den Mädchen. Der Gedanke an einen frühen Tod
machte alle Mädchen
wehmütig. Die Musik spielte "Die Wacht am Rhein«. Ein Gast saß da. Zwei
Offiziere zerrten ihn in die Höhe. Er war dick und schwer und
betrunken. Sie hielten
ihn an den Schultern. Dann ließen sie ihn fallen. Er fiel unter den
Tisch und
blieb sitzen. Er spielte mit dem Sektkübel.
Der Morgen brach grau an. Es
regnete. Theodor wartete am Bahnhof auf seine Kompanie. Sie sollte um
acht Uhr
in der Stadt gestellt sein. Es war ein Sonntag. Die Stadt sah schläfrig
aus. Es
regnete.
Um neun Uhr demonstrierten
Arbeiter Unter den Linden. Die nationalen Jugendgruppen in
Charlottenburg.
Zwischen beiden waren Straßen, Häuser, Polizei. Dennoch wartete die
Stadt auf
einen Zusammenstoß.
Um neun Uhr regnete es immer
noch. Die Arbeiter gingen mitten im grauen Regen. Grau waren sie wie
er.
Unendlich waren sie wie er. Aus grauen Quartieren kamen sie wie er aus
grauen
Wolken. Sie waren wie ein Herbstregen. Unaufhörlich, unerbittlich,
leise.
Wehmut verbreiteten sie. Sie kamen, die Bäcker mit den blutlosen
Gesichtern,
die wie aus Teig waren, ohne Muskel und Kraft; die Menschen von der
Drehbank mit den harten Händen und den
schiefen Schultern; die Glasbläser, die nicht älter werden sollten als
dreißig
Jahre: kostbarer, tödlicher, glitzernder Glasstaub stach in ihren
Lungen. Es
kamen die Bürstenbinder mit den tiefen Augenhöhlen, den Staub der
Borsten und Haare
in den Poren der Haut. Es kamen die jungen Arbeiterinnen, von der
Arbeit
gezeichnet, mit jungen Bewegungen, verbrauchten Gesichtern. Es gingen
die
Tischler. Sie rochen nach Holz und Hobelspänen. Und die riesenhaften
Möbelpacker, groß und überwältigend wie eichene Schränke. Es kamen die
schweren
Arbeiter aus den Brauereien, sie stampften wie große Baumstämme, die
gehen gelernt
haben; die Graveure kamen, in den Falten ihrer Gesichter den kaum
sichtbaren Metallstaub;
die Zeitungssetzer, die übernächtigten, die zehn Jahre und länger nicht
eine ganze Nacht
geschlafen hatten; sie haben gerötete Augen und blasse Wangen und sind
nicht
vertraut mit dem Licht des Tages. Es kommen die Pflasterer, die Straße
tretend,
die sie selbst gebaut haben, dennoch fremd in ihr und betäubt von ihrem
Glanz, ihrer
Weite, ihrer Herrschaftlichkeit; es folgen Motorführer und Eisenbahner.
Noch
rollen in ihrem Bewußtsein schwarze Züge, wechseln Signale ihre Farben,
schrillen Pfeifen, schlagen erzene Glocken.
Aber ihnen entgegen marschieren,
Sonne auf jungen Gesichtern und Gesang im Herzen, Studenten mit bunten
Mützen
und goldgesäumten Fahnen, gut genährt und glattwangig, Knüppel in den
Händen,
Pistolen in den weit abstehenden Hosentaschen, ihre Väter sind
Studienräte, ihre
Brüder Richter und Offiziere, ihre Vettern Polizeikommissare, ihre
Schwäger
Fabrikanten, ihre Freunde Minister. Ihrer ist die Macht, sie dürfen
schlagen,
wer straft sie dafür?
Der Zug der Arbeiter singt die
Internationale. Sie singen falsch, die Arbeiter, aus vertrockneten
Kehlen. Sie
singen falsch, aber mit rührender Kraft. Es singt eine Kraft, die
weint, eine
schluchzende Gewalt.
Anders singen die jungen
Studenten. Aus gepflegten Kehlen tönende Gesänge, volle runde Klänge,
siegreiche Lieder, blutige Lieder, satte Lieder, ohne Bruch, ohne Qual,
kein
Schluchzen ist in ihren Kehlen, nur Jubel, nur Jubel.
Ein Schuß knallt.
In diesem Augenblick sprengen
Polizisten zu Pferd, blanke Säbel schwingend, aus den Querstraßen,
Polizei zu
Fuß sperrt hinter ihnen die Straßen, Pferde stürzen, Reiter schwanken,
aufgerissen ist das Pflaster, gierige Finger wühlen darin, Steine
hageln gegen
die trennenden Wände der Polizei. Es wollen zwei Gewalten zueinander,
die Masse
der Mächtigen gegen die Masse der Machtlosen, zersprengt sind die
Ketten der
Polizei, es dringt der Hunger gegen die Sattheit vor, über das Rauschen
der
Menschen erhebt sich Gesang anderer, nachfolgender, noch singen jene,
schon
bluten diese, manchmal zerreißt ein Knall Geräusch und Gesang, dann ist
es für
den Bruchteil einer Sekunde still geworden, und man hört den
herbstlichen Regen
säuseln, und man hört sein Trommeln an Dächer und Fensterscheiben, und
es ist,
als fiele er in eine friedliche Welt, die sich anschickt, in
Winterschlaf zu
sinken.
Aber dann wehklagt wie ein
verwundetes Tier eine Autohupe, verzweifelt klingen von fern her
Straßenbahnen,
Pfeifen schrillen, Trompeten weinen wie Kinder. Ein Hund heult auf,
zertreten,
mit menschlichem Ruf, menschlich geworden in der Stunde seines elenden
Todes,
Ketten und Türbalken rasseln, und noch ein Schuß knallt.
Aus der Universität kommt
Marinelli mit fünfzig jungen Leuten, die Karabiner tragen, den
Studenten als
Verstärkung, Feuerwehr rückt an. Die Spritzen schießen kalte
Wasserstrahlen.
Sie fallen mit schmerzhafter, zischender Wut auf die Menschen. Für ein
paar
Augenblicke zerstreut sich die Menge. Dann rotten sich die Menschen
wieder.
Kleine Knäuel schwellen an. Gruppen schließen sich zusammen. Ein Schuß
traf den
Schlauch. Auf dem Pflaster liegen die Helme der Feuerwehr. Der Schlauch
ist zerrissen.
Polizei rattert in
Lastautomobilen. Das Pflaster dröhnt. Die Scheiben zittern. Schon sind
sie
heruntergezerrt, zertreten, blutend, zersprengt, entwaffnet. Arbeiter
zerbrechen Karabiner über dem Knie. Frauen schwingen Säbel, Pistolen,
Gewehre.
Aus den grauen Vierteln des
Nordens strömen neue Scharen, Hausgeräte tragen sie, Schürhaken,
Spaten, Axt
und Schaufel. Hoch oben tackt ein Maschinengewehr. Einer hat den Schrei
ausgestoßen. Schon sind tausend zur Flucht gewendet. Tausend Hände
ziellos
weisend erhoben.
Von allen Dächern starren Läufe.
Von allen Dächern tackt es. Hinter jedem Mauervorsprung hocken grüne
Uniformen.
An allen Fenstern glotzen schwarze Mündungen. Jemand ruft: „Soldaten!«
Es hallt
der Trott genagelter Stiefel auf dem Aspahlt. Besetzt sind die Häuser.
Die
Fenster Schießscharten. Pferde wiehern herrenlos in Hausfluren,
Kommandorufe
knallen. Rüstungen rasseln.
Theodor wartet am Alexanderplatz.
Seine Kompanie wartet. Er drückt sich an ein geschlossenes Haustor.
Seine
Kompanie hockt auf dem Bürgersteig. Ein berittener Polizist meldet ihm
Sturm
auf Rathaus und Polizei. Theodor marschiert ab.
Es wird ein harter Kampf sein. Er
wird fallen. Er möchte weinen. An der Spitze marschiert er. Der
gleichmäßige
Schritt seiner Leute erfüllt sein Ohr. Jetzt wird er sterben. Noch
fühlt er den
lieblichen Druck eines weichen Frauenkörpers von gestern nacht.
Um Rathaus und Polizei kämpft
eine Arbeiterwehr. Ihr Anführer ist ein Mann mit wehendem Haar, mit
einem
Knotenstock in der Faust. Jetzt reißt er einem Arbeiter das Gewehr aus
der Hand
und legt an.
Theodor wirft sich zu Boden. In
eine Kotlache fällt er. Schmutziges Wasser spritzt auf. Er schießt
liegend,
aufs Geratewohl. Seine Leute rennen vor. Er sieht nichts mehr, vor sich
nur die
Schwelle des Trottoirs, darüber die Fläche eines quadratischen Steines.
Eine
Detonation erschreckt ihn. Menschenknochen wirbeln durch die Luft. Ein
Beinstumpf fällt blutend aus der Höhe. Ein Stiefel mit einem Fuß darin.
Es
brennt. Man riecht den Brand. Sieht eine Rauchwolke, gegen den Regen
kämpfend,
aufsteigen. Theodor springt auf. Rennt. Es brennt im Judenviertel.
Hausgeräte fliegen
aus Fenstern schmutziger Häuser.
Menschen fliegen mit. Eine Jüdin
keucht unter der Last eines Soldaten. Sie liegt quer über dem
Bürgersteig. Eine
alte Dame hinkt über die Straße. Lächerlich ihre Hast. Allzu gering
ihrer lahmen
Füße Kraft. Sie hat das Gesicht einer Laufenden. Und ihre Bewegung ist
schleppend.
Kinder kriechen im Schlamm. Sie
tragen gelbe Hemdchen, Blut sammelt sich an den Rändern. Fließt weiter
mit dem
Regenwasser. Mit Pferdekot, Flaumfedern, Strohhalmen. Fließt den gierig
trinkenden Kanalgittern zu.
Weißbärtige Männer eilen mit
wehenden Rockschößen. Jemand umklammert Theodors Knie. Gnade winselt
ein
Mensch. Theodor schlenkert mit dem Fuß. Der Flehende fliegt in einen
Blutbach.
Rot spritzt auf.
Flammen züngeln aus Fenstern.
Rauch bricht aus berstenden Dächern. Männer mit Eisenstangen rufen:
»Schlagt
die Juden!«
Alle schlagen, alle werden
geschlagen. Theodor zwischen allen steht. Er sieht im Schlamm einen
Kopf. Ein
sterbendes Angesicht. Das Angesicht Günthers. Theodor starrte darauf.
Erhielt
plötzlich einen schweren Schlag auf den Kopf. Blut rann über seine
Schläfe.
Rote Räder kreisten. Er taumelte. Er sah den Anführer. Sein wehendes
Haar. Den
fliegenden Stock. Theodor riß die Pistole heraus. Der Mann sprang
seitwärts. Er
schwang seinen Stock. Theodor sah sein weißes Angesicht. Noch hat er
den Hahn nicht abgedrückt. Schon
fliegt ihm die Waffe aus der schmerzhaft getroffenen Hand. Nahe an ihn
tritt
der Mann. Er sieht das Weiße der feindlichen Augen. Der Mann schreit:
»Du hast
Günther getötet!«
Theodor flieht. Hinter sich hört
er den heißen Atem seines Verfolgers. Auf den Schultern lastet der
Hauch des
feindlichen Mundes. Hinter sich hört er des Feindes eiligen Schritt.
Auf
lautlosen Sohlen läuft Theodor.
Er läuft durch stille,
ausgebrannte, gestorbene Straßen. Er läuft durch eine fremde Welt. Er
läuft
durch einen langen Traum. Er hört Schüsse, Trommeln, Wehgeschrei. Alle
Geräusche sind in die Schicht eines weichen, dämpfenden Stoffes
gebettet. Da
kommt eine Biegung! Ist drüben die Rettung? Verdoppelt die Hast!
Verstärkt den
Galopp, beflügelt den Fuß! Jetzt sieht er zurück. Kein Verfolger ist
hinter
ihm. Er fällt auf eine Schwelle. Vor ihm liegt ein verlorenes Gewehr.
Er hebt
es auf. Er rennt weiter. Die Toten leben! Er haßt die Toten. Er gerät
zwischen
Soldaten.
Jetzt erkennt er seine Leute.
Fröhlicher Zuruf begrüßt ihn. Den Gewehrkolben stößt er gegen Leichen.
Er
schmettert die Waffe gegen tote Schädel. Sie bersten. Verwundete tritt
er mit
den Absätzen. Er tritt die Gesichter, die Bäuche, die schlaff hängenden
Hände.
Er nimmt Rache an den Toten, sie wollen nicht sterben.
Es wurde Abend. Feuchte
Finsternis hockte in den Straßen. Es ist ein Sieg der Ordnung.