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04.3
Geschichten - Joseph Roth
Werke
4
1916-
1929
Romane und
Erzählungen
Das
Spinnennetz - S. 14
Roman 1923
XXVII
Jede
Woche einmal ging Theodor zu
Hilper. Seine Angelegenheit machte Fortschritte.
Elsa
hatte sich ein Amt für
Theodor ausgesucht. Es hieß: Chef des Sicherheitswesens.
So
etwas gab es gar nicht.
Dennoch ließ der Klang des Titels Theodor keine Ruhe. Immer dachte er:
Chef des
Sicherheitswesens. Er wurde angestellt, beeidet, beglückwünscht. Er
bezog sein
Amt.
Zehn
Polizeiagenten warteten im
Vorzimmer auf seine Befehle. Es gab Konferenzen. Zwischen Polizei und
Staatssekretär. Zwischen Staatssekretär und Minister. Zwischen allen.
Theodor
fuhr im Auto.
Die
wartenden Polizisten machten
sich an die Arbeit. Da sie noch nichts zu tun hatten, füllten sie
Fragebogen
aus. Sie schrieben die Listen der ausgewiesenen Kommunisten dreimal ab.
Immer,
wenn Theodor das Vorzimmer
betrat, saßen sie gebückt über raschelnden Papieren. Dann bekamen sie
Arbeit.
Theodor fand sich zurecht. Er begann seine alte
Tätigkeit. Er schickte
Spione aus. Und weil die Polizei selbst Verhaftungen ausführte,
ließ Theodor noch mehr
verhaften.
Lenz
gab ihm Winke. Dort wohnte
die Führerin Rahel Lipschitz. Verhaften! Morgen sprach der Pazifist
Stock.
Verhaften! Die sozialistischen Studenten machten internationale Abende.
Redner
kamen aus England. Im Bahnhof verhaften!
Theodor
verhaftete. Er verhörte
selbst. Kleine Missetaten gediehen unter seiner Hand zu
Staatsverbrechen. Er
brauchte einen Pressechef.
Pisk
wurde Pressechef. Pisk
versendete Greueltaten an die Zeitungen. Er säte zwischen allerlei
außenpolitische Nachrichten kleine Gefahrmeldungen. Die Presse
widerhallte von
den Gefahren, in denen sich das ganze Reich befand. Unterirdische
Wühler waren
an der Arbeit. Aber wachsam blieben die Behörden. Berichte über
Verhaftungen
schlossen mit dem Satz: In später Nachtstunde wird das Verhör
fortgesetzt.
Die
verstockten Häftlinge wußten
nichts zu gestehen. Die Polizisten schlugen sie. Ein Agent führte den
Mann vor
und drehte ihm die Handgelenke nach rückwärts. Es war eine
»Sicherheitsmaßregel«.
Wenn
er die verfänglichen Fragen
Theodors beantwortete, verringerte der Agent den Druck. Schwieg der
Gefragte,
dann verstärkte sich der Schmerz. »Antworten Sie!" sagte Theodor. Und
alle
Häftlinge kamen darauf, daß eine Beziehung zwischen ihren Antworten und
den Schmerzen
bestand. Und sie antworteten.
Überfüllt
waren die Gefängnisse.
Die Polizei verhaftete keine Diebe mehr. Die Untersuchungsrichter
ließen jeden
frei. Sperrte man einen Einbrecher ein, geschah es, damit er die
anderen
aushorche.
Und
es füllten sich die Baracken.
Man baute noch einige Hütten. Es war ein kalter Winter. Der Frost sang.
Der
Wind trieb zerstäubte Schneewogen. Durch die Fugen der Barackendächer
fiel
Schnee und schmolz und fror wieder auf dem Boden ein. Im Stroh, das
feucht war und
wie nasse Erde roch - es war ein Stroh, das nicht mehr rascheln konnte
-,
krochen Kinder, gelbhäutig, und ihre Rippen klapperten. Es war den
Barackenbewohnern verboten, Kerzen anzuzünden, aber die elektrischen
Birnen
waren alt und untauglich, und die Männer saßen im Finstern beisammen
und
sangen. Sie sangen mit zerbrochenen Stimmen blutige Lieder.
Manchmal
ging Benjamin Lenz mit
einem Ausweis von Theodor Lohse inspizieren. Er nahm seine Soldaten
mit. Er
verteilte Zigaretten an die Männer, und er gab ihnen auf kleinen
Zetteln
Ratschläge und Fluchtpläne. Einigen gelang die Flucht aus den Baracken.
Sie
kamen zu Benjamin. Er konnte dem und jenem ein falsches Papier
verschaffen.
Aber
die meisten hatten Frau und
Kinder, und sie mußten auf ihren Transport warten. Sie warteten lange.
Sie warteten
auf den Tod.
Einmal
kam Thimme zu Theodor, sie
tauschten Erinnerungen an die alte Zeit bei Klaften aus. Thimme, der
junge,
liebte Theodor, er sagte es.
»Sie
waren mir damals sofort
sympathisch!« sagte Thimme.
Der
ist gefährlich! dachte
Theodor.
Ich
muß mich in acht nehmen,
dachte Theodor. Aber er nahm sich nicht in acht. Nach einigen Tagen
gefiel ihm
der junge Thimme. Es war ein begabter Mensch, ein schneller Junge. Er
wollte
nur einen Posten. Und es erwies sich, daß Thimme Schlupfwinkel kannte.
Die
Gastwirte in Moabit, in deren Kellern Sprengstoffe und Waffen gelegen
hatten.
Heute
lagen keine Waffen mehr
dort. Aber Thimme wußte sie in den Kellern zu finden. Er brachte sie
eine Nacht
vorher unter. Er kannte Zugänge. Er hatte Schlüssel. Er war brauchbar.
Theodor
nahm sich nicht in acht.
In der satten Ruhe seines Hauses, in den sicheren Grenzen seines Amtes,
das
Ziel war und noch nicht Endziel, kleiner Gipfel vor größeren Gipfeln,
wurde
Theodor Lohse gemächlich, wie er immer gewesen, ehe Gefahren und
gefährdete
Ziele sein Mißtrauen, seine Wachsamkeit geweckt und seine Vernunft
geschärft hatten.
So wurde er, wie ihn Benjamin Lenz wollte. Er konnte ohne Benjamin
nicht mehr
arbeiten. Ihn brauchte Theodor im Amt, wie er seiner Frau zu Hause
bedurfte.
XXVIII
Zu Hause wurde er sich
seiner
Bedeutung bewußt. Hier geschah, was er befahl, hier geschah auch, was
er im
stillen nur wünschte. Er aß immer Speisen, die er ersehnte, ohne von
ihnen zu
sprechen. Er fand seine Kleider gebürstet, seine Hose gebügelt, alle
Knöpfe an
den Hemden; kein Papier vermißte er, seine Waffen lagen geordnet - er
liebte die
Waffen -, und seine Pistole putzte Eisa. Auch sie liebte Schießwaffen.
Er war
nirgends so mächtig wie zu Hause. Fiel ihn die Lust an zu herrschen -
er konnte
es. Ergriff ihn Verlangen nach Wärme – sie wurde ihm. Hier zweifelte
niemand an
seiner Vollkommenheit. Er klagte am Abend über allzuviel Arbeit. Eisa
sagte:
»Du bist überlastet.
«Er
hob seine Verdienste hervor.
»Du hast ein gutes Auge«, sagte Eisa, und er hielt sich für einen
Menschenkenner. »Ich liebe den Lenz«, sagte Theodor. »Er ist ein treuer
Freund«, erwiderte Eisa. Und er glaubte an
Benjamins Treue. Er hörte das Lied vom schwarzbraunen Mägdlein gern,
Eisa
spielte es, unaufgefordert, vor dem Schlafen gehen.
Sie
liebte weder das Lied noch
Benjamin Lenz, noch glaubte sie an Theodors Vollkommenheit. Aber es war
nötig,
in kleinen Dingen nachzugeben, um in großen recht zu behalten. Eine von
Schlieffen heiratete einen Bürgerlichen nur, weil sie hofft, daß er es
zu den
höchsten Stellen im Staate bringen kann. Dazu gehörte vor allem
Beredsamkeit.
Und sie brachte Theodor zum Sprechen.
Er
vergaß fast seine Frau. Er
fing leise an und steigerte die Kraft seiner Stimme. Er sprach nicht in
seinem
Zimmer. Er sprach im großen Saale. Von tausend Menschen schlug ihm
achtungsvolles Lauschen entgegen, wie etwas Körperliches. Er sprach
gut, wenn
er eifrig sprach. Ein fremdes Licht entzündete sich in seinen Augen. Er
glaubte
an seine Worte. Seine Überzeugung war die Folge seiner eigenen Rede und
wuchs
mit dem Schall der Laute. Seine Stimme überzeugte ihn.
Er
sprach von der Notwendigkeit,
das Vaterland zu retten, und er gewann den Glauben seiner Jugend
wieder. Alle
Erfahrungen waren ausgelöscht. Er haßte ehrlich den inneren Feind, den
Juden,
den Pazifisten, den Plebejer. Er haßte sie wie damals, als er den
Prinzen und
Trebitsch, den Detektiv Klitsche und den Major Seyfarth noch nicht
gekannt
hatte.
Auch
Eisa haßte die inneren
Feinde. Eisa war national. Sie sprach von dem schlechten Duft der
Juden. Und
Theodor glaubte, sich erinnern zu können, daß Trebitsch jüdisch
gesprochen
hatte. Benjamin Lenz allein nahm Theodor aus. Er wußte nichts Genaues
über
Lenz. Aber er wollte auch nichts wissen. Er ordnete Benjamin Lenz unter
seine
Freunde wie den jüdischen Journalisten Pisk.
Und
immer, wenn er so vor seiner
Frau gesprochen hatte, schwoll am nächsten Morgen sein Zorn gegen die
inneren
Feinde, und er griff nach seiner blutigen Arbeit mit fleißiger Wollust.
Die
Verhafteten, die vor ihm standen, was wollten sie eigentlich in
Deutschland?
Gefielen ihnen die Zustände nicht, weshalb blieben sie? Wanderten sie
nicht
aus? Nach Frankreich, Rußland, Palästina? Er stellte diese Fragen an
die
Verhafteten.
Einige
sagten: »Weil Deutschland
meine Heimat ist.« »Sind Sie deshalb ein Verräter?« fragte Theodor.
»Sie sind
es selbst!« erwiderten sie. Sie waren froh, wenn man sich mit ihnen
auseinandersetzen wollte.
Und
sie büßten für ihre
ungebührliche Antwort auf der Stelle. Der Agent an ihrer Seite zerrieb
die
Knochen ihrer Handgelenke.
Manchmal
brachte man vor Theodor
Blutiggeschlagene, rotes Blut rann über ihre Gesichter. In Theodor
flammte das
alte, rauschende Rot auf, rote Sonnenräder kreisten vor seinem Auge,
ein Jubel
sang in ihm, Jubel hob ihn hoch, er freute sich, war leicht und
beschwingt.
Einer
lebte, dessen Blut er sehen
wollte, jener Mann, der ihn verfolgt hatte. Noch sah Theodor das
flackernde
Haar des Mannes, sein weißes, hassendes Angesicht, den
hochgeschwungenen Arm;
den Sang des niedersausenden Stockes hörte er und fühlte Schmerz in der
geschlagenen Hand. Noch lebte der Mann, der Theodor feige gesehen
hatte, ihn, Theodor
Lohse, als flüchtigen Feigling. Nach diesem Mann fahndeten alle Spitzel
vergebens, sein Versteck suchte man von allen Verhafteten zu erfahren.
Bei
jeder Meldung, daß ein neuer Häftling angekommen, hoffte Theodor, auf
die Spur
seines Feindes zu kommen. Die meisten folterte man vergeblich. Sie
wußten
nichts oder verrieten nichts. Einige teilten Falsches mit. Und hielt
man ihnen
dann ihre Lügen vor, so lachten sie. Oder sie hatten sich geirrt.
Nur
von einem konnte Hoffnung
kommen, von Lenz. Lenz kannte den Mann. »Es
ist sozusagen Günthers
Schwager«, erzählte Lenz. »Eine Art Familienrache. Er
will Sie umbringen. Aber ich glaube,
ich bin auf seiner Spur.«
Und
immer wieder war es eine
falsche Spur. Jeder Morgen brachte Benjamins Besuch und neue
Hoffnungen. Jeder
Abend enttäuschende, schmerzhafte Kunde.
Lenz
beschrieb ihn genau. Er war
der Bruder jenes Mädchens, das Günther geheiratet hätte. Lenz sagte:
»geheiratet hätte«. Manchmal sagte Benjamin: »für das Günther gestorben
ist«.
Und wenn er sich vergaß: »für das Sie ihn getötet haben«.
Und
dieses Wort war unangenehm.
Theodor sah die aufwärts gekrampfte Oberlippe, weißes Zahnfleisch,
einen
schielenden Blick.
Aber
Lenz beschrieb auch jenes
Mannes Kleidung und seine Gewohnheiten. Er hatte ihn schon fast
gefangen. Nur
eine Lücke blieb immer offen, durch die der Gesuchte floh.
»Wir
werden ihn finden«,
versicherte Benjamin Lenz. Aber er fand nicht den Mann, den Todfeind
Theodors.
»Du
hast einen Kummer«, sagte
EIsa, »und erzählst mir nichts.«
»Es
ist die Arbeit«, sagte
Theodor. Und begann eine Rede über die Ziele der vaterländischen
Politik.
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