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04.3
Geschichten - Joseph Roth
Werke
4
1916-
1929
Romane und
Erzählungen
Das
Spinnennetz - S. 15
Roman 1923
XXIX
Die
Nacht verweigerte den Schlaf,
und in ihrer rauschenden Stille schwoll Theodors Furcht vor dem
unbekannten,
schrecklichen Feind. Befand er sich jenseits der Grenzen? Lebte er in
Theodors
Nähe? Lebte er in Theodors Haus vielleicht, als Portier verkleidet?
Hatte der Kellner
in der kleinen Konditorei gegenüber dem Amt nicht das Gesicht des
Feindes?
Dieses flackernde Haar? Diese weiße Farbe des Hasses?
Den starken, gewichtigen
Gang? Die breiten Schultern? Lebte jener Mann in der Uniform des
staatlichen
Chauffeurs, der Theodors Auto lenkte? Lauerte er nicht hinter jeder
Straßenecke, um die Theodor bog? Hatte er nicht in diesem Hause, unter
dieses
Bett eine Bombe gelegt?
Theodor
machte Licht und ging ein
paarmal durchs Zimmer und sah durch das Fenster die stille Nacht in den
Straßen
und das zuckende Licht der Laterne und lauschte auf Schritte, die fern
verhallten.
Spät,
schon graute der Morgen,
überwältigte Theodor schwerer Schlaf. Neue Hoffnung brachte der Tag,
neue
Furcht und die grausamen Stunden des Wartens. Zu Hause konnte Theodor
über
dieses eine nicht sprechen. Er hätte erzählen, alles von Anfang
erzählen
müssen. Von Günther erzählen, von Klitsche. Es wäre keine Erzählung –
eine Beichte,
Sturz von der mühsam erreichten Höhe, Entblößung, Selbstmord.
So
blieb nur Benjamin.
Benjamin
hörte, tröstete,
versprach, erzählte Neuigkeiten, gab Ratschläge, erfuhr den Inhalt
geheimer
Konferenzen, erfuhr geheime Pläne der Regierung, photographierte Akten,
verkaufte die Schriftstücke, brachte andere zu Theodor. Er hatte viel
zu tun.
Es
erhoben sich die Arbeiter in
den Fabriksvierteln, und die Arbeitslosen demonstrierten, denn sie
erhielten
gar nichts mehr. Die lange mühsam gebändigte Wut der Massen flammte
wieder auf.
Aus Sachsen zogen Arbeitslose herbei, sie fuhren nicht mit der Bahn,
sie kamen zu
Fuß, sie wanderten auf den breiten Straßen der Länder, sie wanderten
durch
Schnee wirbelnden Wind, der den Frühling ankündigte.
Ja,
es kam der Frühling. Man
fühlte ihn schon auf den Straßen, in der Mitte schmolz der Schnee, und
an den
Rändern bedeckte ihn eine graue Kruste. Aber die Hungrigen, die
Entwichenen,
die geflüchteten Häftlinge und die Arbeiter, die noch vor der
Verhaftung die
Flucht aus ihrer Heimat ergriffen hatten und in der großen Stadt
unerkannt zu verschwinden
hofften, die Frauen, deren Männer getötet waren, die jüdischen
Emigranten aus
dem Osten, die jede Eisenbahn meiden mußten - sie fühlten den Frühling
wie ein
dreifaches Weh. Mit dem singenden Frost des Winters hatten sie sich
befreundet,
mit dem knisternden Schnee, seinen zärtlichen Flocken, aber den
scharfen Wind, der
in sich die kommenden Regen des April trug, der die Kleider zerbiß und
in die
Poren der Haut drang, ertrugen sie nicht.
Nieder
fielen sie in den Straßen,
und das Fieber schüttelte sie, mit klappernden Kiefern
erwarteten sie die letzte
Stunde, und dann lagen sie starr auf den Straßen, und mitleidige
Flüchtlinge,
die später kamen, begruben die Leichen in den Feldern, des Nachts, wenn
die
Bauern es nicht sahen.
Wie
ein lächelnder Mörder ging
der Frühling durch Deutschland. Wer in den Baracken nicht starb, den
Foltern
entging, von den Kugeln der Nationalen Bürgerliga nicht getroffen wurde
und
nicht von den Knüppeln des Hakenkreuzes, wen der Hunger nicht zu Hause
traf,
wen die Spitzel vergessen hatten - der starb unterwegs, und die
schwarzen, großen
Rabenschwärme kreisten über seinem Leichnam.
Krankheiten
lagen geborgen in den
Kleiderfalten der Wanderer, Krankheiten hauchte ihr Atem. Der Gendarm,
der
ihnen unterwegs entgegentrat, sog die Krankheit ein, die in ihrem Fluch
lag,
und wenn ihn nicht die Überzahl ermordete, starb er nach einigen Tagen.
Soldaten starben in den Garnisonen. Patrouillen, die auf die
Landstraßen ausgeschickt
wurden, schlichen auf Seitenwegen, um der großen Krankheit nicht zu
begegnen,
und entgingen dem Tode nicht.
In
den Städten aber sprachen die
Bürger von der nationalen Erhebung, hielt Theodor Vorträge. Jetzt, mehr
als je,
drohte der innere Feind, und an der Grenze standen die Nachbarstaaten
bereit,
ins Land zu marschieren. Gymnasiasten exerzierten. Richter exerzierten.
Priester schwangen Knüppel. Vor den Altären Gottes, in den großen,
schönen Kirchen
des Landes, predigten Wanderredner.
Theodor
Lohse beschäftigte alle
Gymnasiasten, alle Studenten, die Nationale Bürgerliga. Er sprach am
Abend in
öffentlichen Versammlungen, er sprach sich hinauf, schon galt er mehr
als der
Polizeipräsident, mehr als der Staatssekretär für öffentliche
Sicherheit, mehr
als der Minister.
Er
stand auf dem Podium, und der
Schall seiner eigenen Stimme hob ihn empor. Seine Frau saß in der
ersten Reihe.
Gesichert waren die Eingänge, die Türen, die Fenster, hier vergaß er
jede
Gefahr und sogar den Feind, den lauernden, den unbekannten. »Ich muß zu
dir
aufschaun!« sagte Eisa, und sie saß in der ersten Reihe und sah zu
ihrem Mann
empor, dem Erwachsenen und Wachsenden, Chef der Sicherheit - dachte sie
-,
Präsident des Reiches, Platzhalter für den kommenden Kaiser.
Rauschende Feste in
weißen Sälen, marmorne Treppen, goldene Lüster,
große Abendtoilette,
klirrende Sporen, Musik, Musik.
Neue
Wahlen waren ausgeschrieben,
wer weiß, ob nicht eine neue, glänzendere
Stellung frei war. Die
Zeitungen schrieben: Theodor Lohse. Berichterstatter aus fremden
Ländern kamen.
»Die Welt« kannte Theodor Lohse. In den großen amerikanischen Blättern
war seine
Photographie. »Einer der führenden Männer« hieß Theodor Lohse. Warum
nicht: der
führende Mann?
XXX
Einmal
kam Theodor spät am Abend
ins Büro und traf Benjamin Lenz vor offenen Schränken. Lenz
photographierte
Akten. Als er Theodor sah, zog er seine Pistole.
»Ruhe!«
sagte Benjamin.
Theodor
setzte sich auf den
Tisch, er taumelte.
»Ruhe!«
sagte Benjamin.
»Spitzel!«
schrie Theodor.
»Spitzel?«
fragte Benjamin. »Sie
waren mit mir bei den Gegnern. Sie haben Aufmarschpläne verraten. Ich
habe
Zeugen. Wer hat Klitsche ermordet?«
»Gehen
wir!« sagte Benjamin Lenz.
Und
Theodor ging mit Benjamin aus
dem Hause.
»Fahren
Sie zu Ihrer Frau!« sagte
Lenz und begleitete Theodor zu einem Auto.
»Und
schlafen Sie gut!« rief
Benjamin, während der Chauffeur kurbelte. Und Theodor fuhr heim.
Seine
Frau spielte noch vor dem
Schlafen gehen. Die Fenster waren offen, und eine milde Märzluft blähte
die
Vorhänge.
»Du
wirst jetzt große Aufgaben
haben!« sagte Elsa.
»Ja,
mein Kind!«
»Wir
müssen bereit sein!«
»Ich
bin bereit!« sagte Theodor
und dachte an eine Ermordung Benjamms.
Benjamin
Lenz ging in der Nacht
zu seinem Bruder. Die Brüder hatten einander lange nicht gesehen. »Hier
hast du Geld und einen
Paß«, sagte Benjamin, »fahre heute noch weg!« Und
Lazar, sein Bruder,
verschwand.
Sie
kannten einander gar nicht,
Lazar wußte nicht, was Benjamin trieb, woher er Geld nahm und Paß, aber
er
verschwand.
Alles
wußte er, man schwieg oder
sprach ein kleines, gleichgültiges Wort, und eine Welt war in dem
kleinen,
lächerlichen Wort. Man konnte jedem beliebigen Juden aus Lodz ein
einziges
kleines Wort sagen, und er wußte. Man braucht einem Juden aus dem Osten
keine
Erklärungen zu geben.
Sanfte
braune Augen hatte Lazar,
der Bruder. Sein Haar lichtete sich. Er studierte so viel, er machte
Erfindungen.
»Kannst
du deine Studien
unterbrechen?«
»Ich
muß«, sagte Lazar und war
auch schon fertig. Er hatte nur einen Koffer. Und der Koffer war
gepackt. So,
als hätte er diese Abreise jeden Augenblick erwartet.
»Bist
du schon Doktor?« fragte
Benjamin.
»Seit
einem Jahr!«
»Woran
arbeitest du?«
»An
einem Gas.«
»Sprengstoff?«
»Ja!«
sagte Lazar.
»Für
Europa«, sagte Benjamin.
Und
Lazar lachte. Alles verstand
Lazar. Was war Benjamin dagegen? Ein kleiner Intrigant. Aber dieser
junge
Bruder mit den sanften, golden schimmernden Augen ließ
den ganzen Weltteil in die
Luft fliegen.
Um
halb eins ging der Zug nach
Paris. Auf dem Bahnsteig stand Benjamin. »Vielleicht komme ich nach«,
sagte
Benjamin. Dann winkte Benjamin. Zum erstenmal winkte er. Und der Zug
glitt aus
der Halle. Leer war der Bahnsteig, und ein Mann sprengte Wasser aus
einer
grünen Kanne.
Viele
Lokomotiven pfiffen
irgendwo auf Geleisen.
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