April
- Die
Geschichte einer Liebe
1925
Die
Aprilnacht, in der ich ankam, war wolkenschwer und regenschwanger. Die
silbernen Schattenrisse der Stadt strebten aus losem Nebel zart, kühn,
fast
singend gegen den Himmel. Fein und dünngelenkig kletterte ein gotisches
Türmchen in die Wolken. Die dottergelbe Scheibe der erleuchteten
Rathausuhr
hing wie an einem unsichtbaren Seil in der Luft. Um den Bahnhof roch es
süß und
trocken nach Steinkohle, Jasmin und atmenden Wiesen.
Die
einzige Droschke der Stadt wartete, gleichgültig und bestaubt, vor dem
Bahnhof.
Die Stadt mußte klein sein. Sie besaß gewiß eine Kirche, ein Rathaus,
einen
Brunnen, einen Bürgermeister, eine Droschke. Das Pferd war braun,
breithufig,
trug rötliche Zottelmanschetten über den Fußgelenken und hatte keine
Scheuklappen. Seine Augen glotzten groß und wohlwollend auf den Platz.
Wenn es
wieherte, neigte es den Kopf
seitwärts, wie ein Mensch, der sich zum Niesen anschickt.
Ich
stieg in die Droschke und überholte auf der Landstraße alle wackelnden
Hutschachteln
und schwankenden Koffer mit den daran hängenden Menschen. Ich hörte,
was die
Leute einander sagten, und fühlte die Armut ihrer Schicksale, die
Kleinheit
ihres Erlebens, die Enge und Gewichtlosigkeit ihrer Schmerzen. Über die
Felder
zu beiden Seiten der Straße ergoß sich Nebel wie geschmolzenes Blei und
täuschte Meer und Grenzenlosigkeit vor. Deshalb waren die
Hutschachteln, die Menschen,
die Reden, die Droschke so gering und lächerlich. Ich glaubte wirklich
an das
Meer zu beiden Seiten und wunderte mich über seine Stille. Es ist
vielleicht
gestorben, dachte ich. Der Schornstein einer Fabrik, der plötzlich
neben einem
weißen Häuserwinkel aufstieg, beängstigend trotz seiner Schlankheit,
sah aus
wie ein erloschener Leuchtturm.
Zufällige
Menschen lagerten am Wegrand: Vorhuten der Stadt. Sie waren zutraulich
und
aufrichtig, ich konnte sehen, was in ihnen vorging: Eine Mutter wusch
ihr Kind
in einem Faßeimer. Das Gefäß trug einen blanken und grausamen
Blechgürtel, und
das Kind schrie. - Ein Mann saß in seinem Bett und ließ sich von einem
Jungen
einen Stiefel ausziehn. Der Junge hatte ein rotes,
angestrengt-aufgedunsenes
Gesicht, und der Stiefel war schmutzig. - Eine alte Frau kehrte mit
einem Besen
auf den Dielen der Stube herum, und ich ahnte ihre nächste Tätigkeit;
sie würde
jetzt das blau-rote Tischtuch zusammenraffen, zum Fenster oder zur Tür
gehen
und die Speisereste in den kleinen Garten schütten.
Ich
hatte Mitleid mit dem Kind im Faßeimer, dem stiefelziehenden Jungen,
den
Speiseresten. Alte Frauen, die in der Nacht aufräumen, müssen schlecht
sein.
Meine Großmutter, die wie ein Hund aussah, kehrte immer in der Nacht
mit dem
Besen auf den Dielen umher. Ich war sehr klein, haßte die Großmutter
und den
Besen und liebte Papierschnitzel, Zigarrenstummel und allerlei Abfälle.
Ich
rettete alles, was auf dem Fußboden lag, vor dem Besen der Großmutter
in meine
Taschen. Ich liebte besonders Strohhalme. Von allen Dingen waren sie am
meisten
lebendig. Manchmal, wenn es regnete, sah ich zum Fenster hinaus. Auf
den Wellen
einer der unzähligen Regenbächlein schwamm, tänzelte, drehte sich
kokett und
unbekümmert ein Strohhälmchen und ahnte nichts von dem Kanalschacht,
dem es
zutrieb, in dem
es verschwinden würde. Ich rannte auf die Straße, der Regen war schwer
und
wütend, er peitschte mich, aber ich lief den Strohhalm retten und
erreichte ihn
knapp vor dem Kanalgitter.
Viele
Leute sah ich in der Nacht. In dieser Stadt gingen die Menschen
vielleicht so
spät schlafen, oder war es der April und die Erwartung, die in der Luft
lag,
daß alles Lebende wach bleiben mußte? Alle, die mir entgegenkamen,
hatten
irgendeine Bedeutung. Sie trugen Schicksale, waren selbst Schicksale;
sie waren
glücklich oder unglücklich, keineswegs gleichgültig und zufällig; oder
sie
waren zumindest betrunken. In kleinen Städten sind nachts keine
zufälligen
Menschen auf der Straße. Nur Liebhaber oder Straßenmädchen oder
Nachtwächter oder
Wahnsinnige oder Dichter. Die Zufälligen und Gleichgültigen sind sicher
zu
Hause.
In
der Mitte des Marktplatzes stand der Gründer der Stadt, ein steinerner
Bischof,
als gäbe er acht. So mittendrin ist er und so wichtig. Ich glaube, die
Leute
hielten ihn für tot und erledigt. Sie gingen an ihm vorbei und grüßten
nicht;
sie hätten sich nicht gescheut, Geheimstes in seiner Nähe zu sagen oder
auch
ein Verbrechen zu begehen. Wozu hielten sie ihn überhaupt noch?
Mir
tat der Bischof leid, der sich gewiß so geplagt hatte, als er die Stadt
gründete.
Er trug einen verkniffenen Zug um den Mund und sah ganz so aus wie
jemand, der
die Undankbarkeit der Welt kennengelernt hat.
Ich
versprach ihm in jener Nacht, fleißig in der Geschichte über ihn
nachzulesen. Aber
ich kam nie dazu. Denn auch in dieser kleinen Stadt hatten die lebenden
Menschen Geschichten, die mir in den Weg liefen, mich umstellten und
einspannten. Und übrigens war es Frühling, und ich mag in solcher
Jahreszeit
keine Bischöfe und keine Gründer.
Ich
wußte schon am nächsten Morgen ein paar Geschichten.
Ich
wußte, daß der Briefträger erst seit einigen Tagen hinke und keineswegs
von
Geburt lahm sei. Er trank selten, zweimal im Jahr: an seinem
Geburtstag, das
war der 15. April, und am Todestag seines Sohnes, der in der großen
Stadt durch
Selbstmord geendet hatte. Der Rausch war nachhaltig, und der
Briefträger
taumelte drei Tage zwischen den Mauern des Städtchens herum, ehe er
nüchtern
wurde. An diesen drei Tagen bekamen die Leute dieser Stadt keinen
Brief. Der Verkehr
mit der Außenwelt stockte.
Vor
einer Woche, am 15. April, war der Briefträger in seinem Rausch
gestürzt und
hatte sich ein Bein verrenkt. Davon kam sein Hinken.
Das
war nicht die einzige Geschichte.
In
dem Hotel, in dem ich schlief, roch es nach Naphthalin, Moschus und
alten
Kränzen. Der große Speisesaal hinter dem Schankladen war niedrig, die
Decke
gewölbt, und die Wände trugen viereckige, braunhölzerne Pflästerchen
mit
Sprüchen. Anna, das Mädchen, stützte den rechten Arm auf das
Fensterbrett und
gab acht, daß die Krüge nicht leer wurden. Sie wurden nie leer. Denn
die Leute
tranken hier nicht sehr
viel Wein und klapperten mit den Krugdeckeln, wenn Anna nicht aufpaßte.
Anna
war damals siebenundzwanzig Jahre alt und blond und glatt gekämmt. Sie
sah
immer so aus, als wäre sie vor einer Weile aus dem Wasser gestiegen. So
straff
und blank war ihr Gesicht, und so frisch und streng und feuchtblond
zogen sich
ihre gestrählten Haarsträhnen aus der Stirne.
Sie
hatte schlanke, kräftige, aber schüchterne Hände, von denen ich immer
glaubte,
daß sie sich schämen.
Anna
stammte aus Böhmen und liebte den Ingenieur. Der Ingenieur war der
Betriebsleiter jener Fabrik, in der Annas Vater arbeitete. Anna hatte
ein Kind
von dem Ingenieur.
Der
Ingenieur hatte geheiratet und Anna Geld gegeben fürs Kind und für die
Reise.
So war Anna Kellnerin in dem kleinen Städtchen.
Ich
trat einmal zufällig in Annas Zimmer und sah die Photographie ihres
Kindes. Es
war ein schönes Kind, es griff mit runden Fäusten in die Luft und trank
die
Welt mit großen Augen. Anna war schweigsam und erzählte ihre Geschichte
sehr
kurz.
Ich
mag Ingenieure dieser Art nicht und liebte Anna.
„Sie
lieben ihn immer noch?“ fragte ich Anna.
„Ja!“
sagte sie. Sie sagte es so selbstverständlich und trocken wie
irgendeine geschäftliche
Auskunft.
In
dem Städtchen gab es ein Kinotheater. Der Besitzer
war ein jüdischer Tuchwarenhändler. Er hatte ein Kino gegründet, weil
er
tüchtig und betriebsam war und es ihn schmerzte, daß er einen ganzen
Sonntag nichts
zu tun haben sollte. Er verkaufte daher an Wochentagen Tuchwaren und
ließ
Sonntag im Kino spielen.
Ins
Kino ging ich mit Anna.
Im
Städtchen gab es eine Bibliothek. Der junge Mann,
der Besucher zu bedienen und, wenn niemand da war, Staub aufzuwischen
hatte, war
blaß, romantisch blaß und dünn wie ein auferstandener Dichter und hatte
eine
blond-gelbe Schopflohe, die von seinem Kopf gegen den Suffit flackerte.
Er
stand immer auf einer Doppelleiter, er spazierte mit der Doppelleiter
hinter
dem Ladentisch herum, er konnte es vortrefflich, besser als jeder
Zimmermaler.
Als hätte er überhaupt nur auf Doppelleitern gehen gelernt. Die
Leihbibliothek
hatte auch alte, gute Bücher, und ich ging mit Anna in die
Leihbibliothek.
Anna
freute sich sehr.
Manchmal
wußte ich, daß Anna zärtlich sein könnte. Ich liebte die Frauen, deren
Güte wie
ein verschütteter Quell, unsichtbar fruchtlos, aber unermüdlich,
jedesmal gegen
die Oberfläche an strömt und, weil ein Ausweg nicht möglich, nach der
Tiefe
gedrängt, verborgene Schächte gräbt und gräbt bis zum Versiegen. Ich
liebte
Anna. Ich konnte ihren Reichtum nicht lassen. Sie wußte nicht, wieviel
ihr
verloren ging, wenn sie so daherschritt, rückwärts lebend, jede andere
Sehnsucht
ausschaltete und nur die nach Vergangenem trug und pflegte.
Ich
habe noch nicht vom Park erzählt, in dem die Liebe dieser Stadt blühte.
Der
Goldregen wucherte leichtsinnig und liederlich zwischen Linden und
Kastanien.
Die Bänke standen nicht in den Alleen, sondern mitten auf den Beeten.
Ich dachte,
diese Bänke hätte der Bischof, als sie noch ganz jung waren, in die
Erde
gepflanzt, und sie wuchsen
immer jedes Jahr um ein Stückchen in die Breite. Die Füße hatten
sicherlich
schon Wurzel gefaßt im lockeren Boden.
Am
Sonntag, nach dem Kino, ging ich mit Anna in den Park.
Einmal
sahen wir, wie zwei sich küßten, und Anna lachte.
„Es
ist nicht gut, Anna“, sagte ich, „über die Liebe zu lachen. Ich mag
Menschen
nicht, die so lügen können.“
Da
hörte Anna zu lachen auf.
Als
wir nach Hause kamen, erwies es sich, daß der Wirt Anna gesucht hatte,
denn es
war ein Gast gekommen. Er hatte einen knarrenden, neuen Lederkoffer mit
vielen
grünen und roten Heftpflästerchen. Er war schwarz gelockt und
glutäugig, und er
konnte gewiß Mandoline spielen und Mädchen verführen. Hätte ich in
seine Brieftasche
einen Blick tun können, so hätte ich eine ganze Sammlung bunter
Schleifen und
blonder Haare und rosa Liebesbriefe gesehn. Aber ich kam nicht dazu
und wußte es auch so.
Er
trank Bier in der Wirtsstube. Das Bier paßte nicht zu seinem Gesicht,
er hätte
Wein trinken müssen. Er ließ sich von Anna bedienen und war sehr
höflich. Er
sprach lauter Schnörkel. Seine Worte sehen aus wie seine Unterschrift
wahrscheinlich, dachte ich.
In
dieser Nacht bemerkte ich, daß mein Licht fehlte. Ich machte die Tür
auf und
ging zu Anna in die Stube. Anna war im Hemd und weinte. Sie blieb auf
ihrem
Bett sitzen und erschrak nicht, als ich kam, sondern weinte ruhig und
mit
Ausdauer weiter.
Dann
sagte sie: „Er sieht genauso aus!“
Der
neue Gast sah genauso aus wie Annas Ingenieur.
„Es
ist schrecklich!“ sagte Anna.
Seit
damals liebten wir uns und verbargen es nicht voreinander. Anna konnte
sehr
zärtlich sein und eifersüchtig auch. Aber ich kümmerte mich nicht um
die
Frauen. Die Frauen dieser Stadt gefielen mir gar nicht.
Nur
wenn ich sah, wie sie an goldumrahmten Frühlingsabenden über die Felder
wanderten, ein Paar ums andere, rührten sie mich. Sie waren dazu da,
die Welt
zu erneuern. Sie wuchsen, liebten und gebaren. Im Frühling begannen sie
ihr
mütterliches Werk und vollendeten es im Laufe der Jahre. Ich sah, wie
sie,
berauscht und mit Appetit auf Rausch, harmlos und beflissen, Gottes
Gebot zu
erfüllen, wie Maikäfer in die Wälder ausschwärmten.
Spät
in der Nacht noch standen sie in den dunklen Hausfluren, klebten sie an
den
Lippen und Schnurrbärten der Männer, kicherten und waren dankbar bis
zur Demut
für jedes gute Wort, das man ihnen in denSchoß warf. Schön waren die
Nächte, in
denen die Grillen und die Mädchen unermüdlich zirpten.
Und
die Regentage auch.
Die
Mädchen standen in den Fenstern und lasen in Büchern aus der
Leihbücherei und
aßen Butterbrot. Ein Regenschirm schwankte durch die Gasse und
überdachte den
zierlichen, dünnen Notariatsschreiber.
Er
sah aus wie eine aufrecht gehende Heuschrecke.
Strohhalme
tänzelten, wirbelten, drehten sich kokett und schwammen ahnungslos dem
Verderben der Kanalgitter zu. Ich lief nicht mehr, sie aufzuhalten.
Immer
dachte ich, daß ich es doch tun müßte. Der Regen, die Harmlosigkeit des
Strohhalms, das Kanalgitter und ich gehörten zusammen. Vielleicht war
auch noch
der Notariatsschreiber dabei. Der Regentag war grau schraffiert, der
Strohhalm
ertrank, das Kanalgitter verschluckte ihn, der Notariatsschreiber
stocherte
schirmüberdacht durch
die Gasse. Und ich hätte eigentlich laufen müssen, den Strohhalm
retten. Jedes
in der Welt hat seine Aufgabe.