April
- Die Geschichte einer Liebe
1925
Sehr
früh am Morgen stand ich täglich auf. Anna schlief noch, und der Wirt
und der
zweite Gast. Die Stiefel der Hausbewohner standen, noch nicht
gereinigt, ein
Stück Gestern, vor den Türen. Im Hof pendelte der Pudel, gähnte und
suchte nach
vergessenen Knochen unter der Hoteldroschke, die, unbespannt, mit einer
zwecklosen Deichsel, vor dem Schuppen wartete wie ein ausgegrabenes
Gefährt.
Jakob, der Kutscher, schnarchte im Schuppenbau, brünstig und stark; er
schnarchte
einen Hymnus auf Natur und Gesundheit. Es war gar nicht lächerlich,
sein
Schnarchen. Es klang selbstverständlich und machtvoll; ein Naturlaut,
ein
verhülltes Donnerrollen, ein Hirschröhren. Um fünf Uhr erhob sich ferne
und wie
aus übersinnlichen Welten heranschwellend das klagende Tuten der
Dampfmühle und
weckte Jakob, den Kutscher. Er mußte in den Kleidern geschlafen haben,
denn er
kam, gleichzeitig mit dem letzten, verzitterten Oberton der
Mühlensirene, in
seiner großkarierten Ärmelweste, in Hosen und bestiefelt, barhaupt, mit
einem
zerknitterten Pergamentgesicht, sprudelte aus trichtergeformtem Munde
Wasser
auf seine gekrümmten Handflächen und rieb sich Stirn und Augen. Dann
ging er
quer über den Hof ins Haus, schwer und mühevoll, als müßte er jedes
Bein wie
einen Baum mit Wurzeln aus der Erde ziehn.
An
der ersten Straßenbiegung klinkte Käthe ihr Fenster auf und sah
hinunter in die
Stadt. Ich grüßte Käthe immer. Ich hatte noch nie mit ihr gesprochen,
ich hatte
gar nichts mit ihr zu sprechen, ich grüßte sie nur, weil sie aus dem
Fenster
sah und weil die Welt so früh am Morgen noch nicht konventionell war,
sondern
einfach wie in den ersten Tagen ihrer Kindheit, ein paar Jahre nach der
Erschaffung, als noch im ganzen zwanzig Menschen sie belebten und alle
zwanzig
freundlich und gut miteinander
waren. Später, wenn ich heimkehrte, war's Mittag bereits, die Welt um
alle
Jahrtausende älter, und ich grüßte nicht mehr, weil es sich nicht
schickte, in
einer so fortgeschrittenen Welt ein Mädchen zu grüßen, mit dem man noch
nie
gesprochen.
Durch
den Park knirschte ein rundbäuchiger Spritzwagen, Rasen und Beete
berieselnd.
Eine Amsel sprang mit Gassenbubengebärden neben dem Wagen her und
schlug mit
dem linken Flügel gegen die zerstäubenden Wassertropfen. Unsichtbar
lärmte
irgendwo oben ein ganzes, in die Ferien geschicktes Lerchenpensionat.
Rund um
die Bänke, die in der Mitte der Beete standen, war das Gras ein wenig
müde und
hergenommen von der nächtlichen Liebe der Menschen. Und mir entgegen
schritt der
lange Eisenbahnassistent durch den Park in den Dienst.
Den
Eisenbahnassistenten haßte ich. Er war sommersprossig, unglaublich lang
und
gerade. Ich dachte, sooft ich ihn sah, an einen Brief an den
Eisenbahnminister.
Ich wollte vorschlagen, den häßlichen Eisenbahnassistenten als
Telegraphenstange unterwegs irgendwo zwischen zwei kleinen Stationen zu
verwenden. Nie hätte mir der Eisenbahnminister diesen Dienst erwiesen.
Ich
wußte nicht, warum ich den Beamten so haßte. Er war außergewöhnlich
groß
gewachsen, aber ich hasse ja nicht grundsätzlich das Außergewöhnliche.
Mir
schien, daß der Eisenbahnassistent mit Absicht so hoch hinaufgeschossen
sei,
und das reizte mich auf. Mir schien, als hätte er seit seiner Jugend
nichts
anderes getan als wachsen und Sommersprossen sammeln. Und außerdem
hatte er
rötliche Haare.
Auch
trug er immer seine Uniform und eine rote Kappe. Er machte langsame und
kleine
Schritte, obwohl er mit seinen langen Beinen ganz gut rasch hätte gehen
können.
Aber er ging langsam und wuchs, wuchs, wuchs.
Ich
weiß noch heute sehr wenig über den Eisenbahnbeamten. Aber ich hätte
damals
schon schwören können, daß er viele versteckte Gemeinheiten begangen
habe.
Solch
ein Eisenbahnassistent konnte zum Beispiel einen Zug, in dem sein
persönlicher
Feind saß, zu einem Zusammenstoß bringen und die Schuld
geschickt auf den Zugführer schieben. Es war eigentlich gefährlich, mit
der
Eisenbahn zu fahren.
Solch
ein Eisenbahnassistent, dachte ich, ist niemals imstande, einer Frau
wegen auf
seine rote Kappe zu verzichten. Wenn er liebte, so legte er bestimmt
die Kappe
mit der Öffnung nach oben sorgsam auf einen Stuhl. Er vergaß nicht, die
Hose im
Bug zusammenzufalten, und verstand gewiß nicht die Lust, einer Frau
dankbar zu
sein. Er konnte auch Frauen durch eine List überrumpeln. Und
eifersüchtig war
er auch.
Sooft
ich ihn sah, dachte ich über einen Brief an alle Frauen der Welt:
Frauen!
Hütet Euch vor dem Eisenbahnassistenten!
Anna
mochte den Eisenbahnassistenten auch nicht. Anna fragte:
„Warum
hasse ich ihn?“
Ich
wußte nicht, wie ich Anna antworten sollte, und erzählte ihr die
Geschichte von
Abel, meinem Freund, und der Frau seines Lebens.
Abel,
mein Freund, sehnte sich nach New York.
Abel
war Maler, Karikaturist. Er hatte bereits karikiert, als er noch nicht
einen
Bleistift halten konnte. Er achtete die Schönheit gering und liebte
Krüppelei
und Verzerrtheit. Er konnte keinen geraden Strich zustande bringen.
Abel
achtete die Frauen gering. Männer lieben in einer Frau die
Vollkommenheit, die
sie zu sehen sich einbilden. Abel aber leugnete die Vollkommenheit.
Er
selbst war häßlich, so daß ihn die Frauen liebhatten. Frauen vermuten
Vollkommenheit
oder Größe hinter männlicher Häßlichkeit.
Einmal
gelang es ihm, nach New York zu fahren. Auf dem Schiff sah er zum
erstenmal in
seinem Leben eine schöne Frau.
Als
er im Hafen landete, verschwand ihm die schöne Frau aus den Augen. Da
kehrte er
mit dem nächsten Schiff nach Europa zurück.
Anna
konnte den Zusammenhang zwischen Abel, meinem Freund, und dem langen
Eisenbahnassistenten nicht begreifen.
„Warum
erzählst du mir von Abel?“ fragte sie.
„Anna“,
sagte ich, „alle Geschichten hängen zusammen. Weil sie einander ähnlich
sind
oder weil jede das Entgegengesetzte beweist. Zwischen dem langen
Eisenbahnassistenten und meinem Freund Abel ist ein Unterschied. Ein
sehr
banaler Unterschied: Abel, mein Freund, geht zugrunde, aber der
Eisenbahnassistent
wird leben und Stationsvorstand werden. Abel, mein Freund, hat eine
Sehnsucht.
Nie wird der Eisenbahnassistent eine andere Sehnsucht haben als die,
Stationsvorsteher zu werden. Abel, mein Freund, lief aus New York fort,
weil er
die Frau seines Lebens aus den Augen verloren hatte. Nie wird der
Eisenbahnassistent
einer Frau wegen aus New York fortlaufen.“
Ich
war überzeugt, daß Anna nun den Zusammenhang verstehe. Anna aber
umarmte mich
und fragte: „Würdest du meinetwegen aus New York weglaufen?“
In
dieser Nacht liebte ich Anna sehr, weil ich wußte, daß ich ihretwegen
nie aus
New York weglaufen würde. Ich fürchtete, es ihr zu sagen, und liebte
sie dafür.
Ich war feige und führte mich sehr männlich auf.
Anna
verstand mich aber und weinte. Jetzt sehe ich aus wie der Ingenieur,
dachte
ich.
Am
Morgen schlief Anna, als ich fortging. Sie fühlte, daß ich aufgestanden
war,
und suchte, schlafend noch, mit schwachen Armen in der Leere herum.
Es
regnete, deshalb ging ich ins Kaffeehaus.
Der
Kellner trug einen zerknitterten Frack und eine schwere
Juchtenledertasche an
der rechten Hüfte. Er hieß Ignatz, und jeder nannte ihn so. Er hatte
keinen
anderen Namen. Nur ich sagte: Herr Ober!
Ignatz
hatte Tag und Nacht Dienst. Er schlief auf zwei Stühlen im Kaffeehaus,
und
davon kam der zerknitterte Frack. Die Geldtasche schnallte er niemals
ab. Er
war an beiden Seiten etwas plattgedrückt, wie ein Fisch. Seine Arme
hingen, wie
bekleidete Rückenflossen, schlaff hinunter. Und außerdem hatte er
große,
graugrüne Fischaugen und kalte, feuchte Hände. Er wischte sie immer an
der
Ledertasche ab.
Ich
mochte Ignatz nicht, denn er wollte kein Kellner sein. Er las alle
Zeitungen
und sprach mit den Gästen von Politik. Er wollte lieber Politiker sein.
Aber
er blieb doch Kellner und war unzufrieden.
Er
sah immer so aus, als gäbe er den Gästen die Schuld an seiner
verpfuschten Karriere.
Er
nahm Trinkgelder und dankte sehr kühl.
Einmal
kam ich mit Anna ins Kaffeehaus, und Ignatz sagte: „Wie geht es,
Fräulein Anna?“ und wischte sich die rechte Hand an der Ledertasche ab,
um Anna mit einer trockenen Hand zu begrüßen. „Wie geht's Ihnen,
Ignatz?“
fragte Anna und gab ihm die Hand.
Weil
Ignatz die Hand zu lange behielt, sagte ich: „Herr Ober!“ Da grüßte
Ignatz und
ging.
Im
Kaffeehaus hing ein großer Wandkalender.
Jeden
Morgen um acht Uhr kam der Postdirektor, ein alter Herr mit weißem
Backenbart.
Der Postdirektor ging sehr aufrecht und hatte
überlange Hosen an und Sporen an den Stiefelabsätzen, vielleicht, um
den
Hosenrand zu schonen. Er hatte gewiß bei der Artillerie gedient.
Der
Postdirektor hatte so unwahrscheinlich tiefblaue, gute Augen, daß ich
glaubte,
er hätte sie bei einem Optiker eigens für sich machen lassen. Auch sein
Backenbart war so märchenhaft weiß. Der Postdirektor puderte seinen
Backenbart
vielleicht, jeden Morgen oder vor dem Schlafengehen.
Jeden
Morgen riß der Herr Postdirektor einen Zettel vom Wandkalender im
Kaffeehaus
ab. Ignatz hätte das ganze Jahr den 1. Januar
sein lassen. Aber der Postdirektor achtete darauf, daß jeder Tag seinen
Namen und
seine Nummer habe.
Ich
liebte den Postdirektor.
Der
Park, in dem die Liebe blühte, lag nicht in der Mitte, sondern am Ende
der
Stadt. Er lief hinaus in die Wiesenwege. Am Ausgang war ein Gasthaus,
in dem
ich Nachtmahl aß. Gegenüber war die Postdirektion. Die Post war ein
neues
Gebäude, in einem schneeweißen Kalkgewande; es trug ein Wappen an der
Stirn und
am doppelflügeligen, grünen Haustor ein rundes Posthorn. Die Post war
das
einzige Haus mit zwei Stockwerken in dem Städtchen.
Im
zweiten Stockwerk wohnte der Herr Postdirektor.
Immer
stand ein Fensterflügel offen im zweiten Stockwerk. Ich dachte: Dort,
wo das
Fenster offensteht, wohnt der Herr Postdirektor. Er muß jedesmal in den
Himmel
sehn, damit seine Augen blau bleiben. Der Herr Postdirektor, dachte
ich, ist
ein kinderloser Herr, und er hat eine alte Frau mit weißem,
gescheiteltem Haar.
Sie sprechen nur am Abend miteinander, der Postdirektor und die Frau.
Immer
saß ich im Gasthaus so, daß ich das offene Fenster sehen konnte.
Vielleicht
kommt einmal der Herr Postdirektor in den Himmel schaun - hoffte ich.
Aber er
kam selten. Eines Tages setzte sich ein wunderschönes Mädchen ans
Fenster und
sah in den Himmel.
Ich
erschrak über die Schönheit und sah so plötzlich zum Fenster des
Gasthauses
hinaus und zu dem Mädchen empor, daß sie es fühlte und mich ansah. Weil
ich
verlegen wurde, grüßte ich. Sie grüßte auch. Nun kam sie täglich ans
Fenster.
Ich
pflanze meine Erlebnisse wie wildes Weinlaub und sehe zu, wie sie
wachsen. Ich
bin faul, und das Nichts ist meine Leidenschaft. Dennoch lebte ich seit
der
Stunde, in der ich das Mädchen am Fenster gesehen hatte, in einer
steten
Spannung, die ich nur noch aus meiner Knabenzeit kannte. Damals war ich
noch
Teil der Welt, Strohhalm im Strom des Geschehens, schwimmend und
fortgerissen.
Ich weinte über den Verlust einer Papiertüte, einer Nutzlosigkeit.
Seitdem ich
alt bin, weine ich nicht mehr und lache nicht. Niemand kann mir ein
unmittelbares Leid zufügen. Über Schmerz und Freude bin ich
hinausgewachsen.
Nun
aber lebte ich Schmerz und Freude und sank tief in die Kleinigkeiten.
Das
Mädchen sah jeden Tag zum Fenster hinaus, wenn ich vorbeiging. Jeden
Tag grüßte
ich. Am dritten Tag lächelte sie.
An
ihrem Lächeln lernte ich, daß es nichts Geringfügiges gibt unter der
Sonne. Ihr
Lächeln am dritten Tag war ein großes Ereignis.
Ihr
Gesicht war blaß und klein. Ihre schwarzen Augen blank, wie geputzt.
Ihr Haar
glatt und rückwärts gekämmt. Ihre Schultern schmal und furchtsam.
Auch
wenn es regnete, sah sie zum Fenster hinaus, und das Fenster war offen.
Ich saß
im Wirtshaus, und die Fensterscheibe war von der Regenkälte angelaufen.
Ich
mußte das Glas jedesmal blank wischen.
Jedesmal
lächelte das Mädchen.
Einmal
saßen zwei Männer an dem Tisch in der Fensterecke des Wirtshauses, und
ich aß
nicht, sondern ging hinaus und wanderte vor dem Wirtshaus auf und ab
und war
lächerlich wie ein Nachtwächter. Ich hatte den Mantelkragen
hochgeschlagen und
ging langsam, mit großen Schritten. Von meinen Kleidern tropfte es. Die
Leute
standen im Haustor des Postgebäudes oder in der Einfahrt des
Wirtshauses und warteten,
bis der Regen aufhören würde. Wenn es blitzte, fuhren sie ein bißchen
zusammen
und hörten auf zu reden. Manchmal sahen sie mich an. Ein junges Weib
vom Lande,
in Holzpantoffeln und mit aufreizend prallen Brüsten, die hinter der
regenfeuchten Bluse fortwährend zitterten vor Kälte und Erregung,
rückte einmal
auf der Schwelle zur Seite, zupfte mich am Ärmel und wies auf den
freien Platz.
Ich aber ging weiter, und oben lächelte das Mädchen.
Die
Menschen sahen zum Fenster hinauf und lachten. Das junge Weib lachte
auch. Ich
sah mich um, da waren sie alle verlegen, vielleicht hielten sie mich
für
verrückt.
Von
diesem Vorfall lebte ich eine ganze Woche lang. Ich erzählte Anna von
dem
Mädchen, und Anna lachte mich aus. „Warum lachst du?“ sagte ich. „Ich
liebe das
Mädchen am Fenster.“
„Warum
gehst du nicht zu ihr hinauf?“
„Ich
will's tun!“
„Nein,
tu's nicht!“ bat Anna. „vielleicht liebst du sie wirklich.“
Ich
werde niemals vergessen, wie eines Tages der Postdirektor neben dem
Mädchen am
Fenster stand. Ich grüßte, und der Postdirektor grüßte wieder. So
selbstverständlich,
als wäre ich sein guter Freund.
Das
Mädchen war seine Nichte, sagte mir Anna.
Ich
beschloß, zum Postdirektor zu gehn.
Aber
es dauerte zwei Wochen, und ich ging noch immer nicht. Ich wollte
sagen:
Verehrter Herr Postdirektor, Ihre Augen und Ihre Sporen und selbst Ihre
überlange Hose habe ich gern. Dieses Mädchen liebe ich aber. Ich
glaube, sie
ist die Frau meines Lebens. Ich will sie nicht verlieren wie Abel, mein
Freund.
Und
dann würde ich die Geschichte von meinem Freund Abel erzählen.
Der
Postdirektor würde lächeln und aufstehn, und seine Sporen würden leise
klirren,
so wie kaum erwachsene silberne Tschinellen, die erst ordentlich
klingen lernen
müssen.
Das
Mädchen würde meine Geschichte verstehen und nicht fragen wie Anna.