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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






April - Die Geschichte einer Liebe
1925


Sehr früh am Morgen stand ich täglich auf. Anna schlief noch, und der Wirt und der zweite Gast. Die Stiefel der Hausbewohner standen, noch nicht gereinigt, ein Stück Gestern, vor den Türen. Im Hof pendelte der Pudel, gähnte und suchte nach vergessenen Knochen unter der Hoteldroschke, die, unbespannt, mit einer zwecklosen Deichsel, vor dem Schuppen wartete wie ein ausgegrabenes Gefährt. Jakob, der Kutscher, schnarchte im Schuppenbau, brünstig und stark; er schnarchte einen Hymnus auf Natur und Gesundheit. Es war gar nicht lächerlich, sein Schnarchen. Es klang selbstverständlich und machtvoll; ein Naturlaut, ein verhülltes Donnerrollen, ein Hirschröhren. Um fünf Uhr erhob sich ferne und wie aus übersinnlichen Welten heranschwellend das klagende Tuten der Dampfmühle und weckte Jakob, den Kutscher. Er mußte in den Kleidern geschlafen haben, denn er kam, gleichzeitig mit dem letzten, verzitterten Oberton der Mühlensirene, in seiner großkarierten Ärmelweste, in Hosen und bestiefelt, barhaupt, mit einem zerknitterten Pergamentgesicht, sprudelte aus trichtergeformtem Munde Wasser auf seine gekrümmten Handflächen und rieb sich Stirn und Augen. Dann ging er quer über den Hof ins Haus, schwer und mühevoll, als müßte er jedes Bein wie einen Baum mit Wurzeln aus der Erde ziehn.
 
An der ersten Straßenbiegung klinkte Käthe ihr Fenster auf und sah hinunter in die Stadt. Ich grüßte Käthe immer. Ich hatte noch nie mit ihr gesprochen, ich hatte gar nichts mit ihr zu sprechen, ich grüßte sie nur, weil sie aus dem Fenster sah und weil die Welt so früh am Morgen noch nicht konventionell war, sondern einfach wie in den ersten Tagen ihrer Kindheit, ein paar Jahre nach der Erschaffung, als noch im ganzen zwanzig Menschen sie belebten und alle zwanzig freundlich und gut miteinander waren. Später, wenn ich heimkehrte, war's Mittag bereits, die Welt um alle Jahrtausende älter, und ich grüßte nicht mehr, weil es sich nicht schickte, in einer so fortgeschrittenen Welt ein Mädchen zu grüßen, mit dem man noch nie gesprochen.
 
Durch den Park knirschte ein rundbäuchiger Spritzwagen, Rasen und Beete berieselnd. Eine Amsel sprang mit Gassenbubengebärden neben dem Wagen her und schlug mit dem linken Flügel gegen die zerstäubenden Wassertropfen. Unsichtbar lärmte irgendwo oben ein ganzes, in die Ferien geschicktes Lerchenpensionat. Rund um die Bänke, die in der Mitte der Beete standen, war das Gras ein wenig müde und hergenommen von der nächtlichen Liebe der Menschen. Und mir entgegen schritt der lange Eisenbahnassistent durch den Park in den Dienst.
 
Den Eisenbahnassistenten haßte ich. Er war sommersprossig, unglaublich lang und gerade. Ich dachte, sooft ich ihn sah, an einen Brief an den Eisenbahnminister. Ich wollte vorschlagen, den häßlichen Eisenbahnassistenten als Telegraphenstange unterwegs irgendwo zwischen zwei kleinen Stationen zu verwenden. Nie hätte mir der Eisenbahnminister diesen Dienst erwiesen.
 
Ich wußte nicht, warum ich den Beamten so haßte. Er war außergewöhnlich groß gewachsen, aber ich hasse ja nicht grundsätzlich das Außergewöhnliche. Mir schien, daß der Eisenbahnassistent mit Absicht so hoch hinaufgeschossen sei, und das reizte mich auf. Mir schien, als hätte er seit seiner Jugend nichts anderes getan als wachsen und Sommersprossen sammeln. Und außerdem hatte er rötliche Haare.
 
Auch trug er immer seine Uniform und eine rote Kappe. Er machte langsame und kleine Schritte, obwohl er mit seinen langen Beinen ganz gut rasch hätte gehen können. Aber er ging langsam und wuchs, wuchs, wuchs.
 
Ich weiß noch heute sehr wenig über den Eisenbahnbeamten. Aber ich hätte damals schon schwören können, daß er viele versteckte Gemeinheiten begangen habe.
 
Solch ein Eisenbahnassistent konnte zum Beispiel einen Zug, in dem sein persönlicher Feind saß, zu einem Zusammenstoß bringen und die Schuld geschickt auf den Zugführer schieben. Es war eigentlich gefährlich, mit der Eisenbahn zu fahren.
 
Solch ein Eisenbahnassistent, dachte ich, ist niemals imstande, einer Frau wegen auf seine rote Kappe zu verzichten. Wenn er liebte, so legte er bestimmt die Kappe mit der Öffnung nach oben sorgsam auf einen Stuhl. Er vergaß nicht, die Hose im Bug zusammenzufalten, und verstand gewiß nicht die Lust, einer Frau dankbar zu sein. Er konnte auch Frauen durch eine List überrumpeln. Und eifersüchtig war er auch.
 
Sooft ich ihn sah, dachte ich über einen Brief an alle Frauen der Welt:  Frauen! Hütet Euch vor dem Eisenbahnassistenten!
 
Anna mochte den Eisenbahnassistenten auch nicht. Anna fragte:
 
„Warum hasse ich ihn?“
 
Ich wußte nicht, wie ich Anna antworten sollte, und erzählte ihr die Geschichte von Abel, meinem Freund, und der Frau seines Lebens.
 
Abel, mein Freund, sehnte sich nach New York.
 
Abel war Maler, Karikaturist. Er hatte bereits karikiert, als er noch nicht einen Bleistift halten konnte. Er achtete die Schönheit gering und liebte Krüppelei und Verzerrtheit. Er konnte keinen geraden Strich zustande bringen.
 
Abel achtete die Frauen gering. Männer lieben in einer Frau die Vollkommenheit, die sie zu sehen sich einbilden. Abel aber leugnete die Vollkommenheit.
 
Er selbst war häßlich, so daß ihn die Frauen liebhatten. Frauen vermuten Vollkommenheit oder Größe hinter männlicher Häßlichkeit.
 
Einmal gelang es ihm, nach New York zu fahren. Auf dem Schiff sah er zum erstenmal in seinem Leben eine schöne Frau.
 
Als er im Hafen landete, verschwand ihm die schöne Frau aus den Augen. Da kehrte er mit dem nächsten Schiff nach Europa zurück.
 
Anna konnte den Zusammenhang zwischen Abel, meinem Freund, und dem langen Eisenbahnassistenten nicht begreifen.
 
„Warum erzählst du mir von Abel?“ fragte sie.
 
„Anna“, sagte ich, „alle Geschichten hängen zusammen. Weil sie einander ähnlich sind oder weil jede das Entgegengesetzte beweist. Zwischen dem langen Eisenbahnassistenten und meinem Freund Abel ist ein Unterschied. Ein sehr banaler Unterschied: Abel, mein Freund, geht zugrunde, aber der Eisenbahnassistent wird leben und Stationsvorstand werden. Abel, mein Freund, hat eine Sehnsucht. Nie wird der Eisenbahnassistent eine andere Sehnsucht haben als die, Stationsvorsteher zu werden. Abel, mein Freund, lief aus New York fort, weil er die Frau seines Lebens aus den Augen verloren hatte. Nie wird der Eisenbahnassistent einer Frau wegen aus New York fortlaufen.“
 
Ich war überzeugt, daß Anna nun den Zusammenhang verstehe. Anna aber umarmte mich und fragte: „Würdest du meinetwegen aus New York weglaufen?“
 
In dieser Nacht liebte ich Anna sehr, weil ich wußte, daß ich ihretwegen nie aus New York weglaufen würde. Ich fürchtete, es ihr zu sagen, und liebte sie dafür. Ich war feige und führte mich sehr männlich auf.
 
Anna verstand mich aber und weinte. Jetzt sehe ich aus wie der Ingenieur, dachte ich.
 
Am Morgen schlief Anna, als ich fortging. Sie fühlte, daß ich aufgestanden war, und suchte, schlafend noch, mit schwachen Armen in der Leere herum.
 
Es regnete, deshalb ging ich ins Kaffeehaus.
 
Der Kellner trug einen zerknitterten Frack und eine schwere Juchtenledertasche an der rechten Hüfte. Er hieß Ignatz, und jeder nannte ihn so. Er hatte keinen anderen Namen. Nur ich sagte: Herr Ober!
 
Ignatz hatte Tag und Nacht Dienst. Er schlief auf zwei Stühlen im Kaffeehaus, und davon kam der zerknitterte Frack. Die Geldtasche schnallte er niemals ab. Er war an beiden Seiten etwas plattgedrückt, wie ein Fisch. Seine Arme hingen, wie bekleidete Rückenflossen, schlaff hinunter. Und außerdem hatte er große, graugrüne Fischaugen und kalte, feuchte Hände. Er wischte sie immer an der Ledertasche ab.
 
Ich mochte Ignatz nicht, denn er wollte kein Kellner sein. Er las alle Zeitungen und sprach mit den Gästen von Politik. Er wollte lieber Politiker sein.
 
Aber er blieb doch Kellner und war unzufrieden.
 
Er sah immer so aus, als gäbe er den Gästen die Schuld an seiner verpfuschten Karriere.
 
Er nahm Trinkgelder und dankte sehr kühl.
 
Einmal kam ich mit Anna ins Kaffeehaus, und Ignatz sagte: „Wie geht es, Fräulein Anna?“ und wischte sich die rechte Hand an der Ledertasche ab, um Anna mit einer trockenen Hand zu begrüßen. „Wie geht's Ihnen, Ignatz?“ fragte Anna und gab ihm die Hand.
 
Weil Ignatz die Hand zu lange behielt, sagte ich: „Herr Ober!“ Da grüßte Ignatz und ging.
 
Im Kaffeehaus hing ein großer Wandkalender.
 
Jeden Morgen um acht Uhr kam der Postdirektor, ein alter Herr mit weißem Backenbart. Der Postdirektor ging sehr aufrecht und hatte  überlange Hosen an und Sporen an den Stiefelabsätzen, vielleicht, um den Hosenrand zu schonen. Er hatte gewiß bei der Artillerie gedient.
 
Der Postdirektor hatte so unwahrscheinlich tiefblaue, gute Augen, daß ich glaubte, er hätte sie bei einem Optiker eigens für sich machen lassen. Auch sein Backenbart war so märchenhaft weiß. Der Postdirektor puderte seinen Backenbart vielleicht, jeden Morgen oder vor dem Schlafengehen.
 
Jeden Morgen riß der Herr Postdirektor einen Zettel vom Wandkalender im Kaffeehaus ab. Ignatz hätte das ganze Jahr den 1.  Januar sein lassen. Aber der Postdirektor achtete darauf, daß jeder Tag seinen Namen und seine Nummer habe.
 
Ich liebte den Postdirektor.
 
Der Park, in dem die Liebe blühte, lag nicht in der Mitte, sondern am Ende der Stadt. Er lief hinaus in die Wiesenwege. Am Ausgang war ein Gasthaus, in dem ich Nachtmahl aß. Gegenüber war die Postdirektion. Die Post war ein neues Gebäude, in einem schneeweißen Kalkgewande; es trug ein Wappen an der Stirn und am doppelflügeligen, grünen Haustor ein rundes Posthorn. Die Post war das einzige Haus mit zwei Stockwerken in dem Städtchen.
 
Im zweiten Stockwerk wohnte der Herr Postdirektor.
 
Immer stand ein Fensterflügel offen im zweiten Stockwerk. Ich dachte: Dort, wo das Fenster offensteht, wohnt der Herr Postdirektor. Er muß jedesmal in den Himmel sehn, damit seine Augen blau bleiben. Der Herr Postdirektor, dachte ich, ist ein kinderloser Herr, und er hat eine alte Frau mit weißem, gescheiteltem Haar. Sie sprechen nur am Abend miteinander, der Postdirektor und die Frau.
 
Immer saß ich im Gasthaus so, daß ich das offene Fenster sehen konnte. Vielleicht kommt einmal der Herr Postdirektor in den Himmel schaun - hoffte ich. Aber er kam selten. Eines Tages setzte sich ein wunderschönes Mädchen ans Fenster und sah in den Himmel.
 
Ich erschrak über die Schönheit und sah so plötzlich zum Fenster des Gasthauses hinaus und zu dem Mädchen empor, daß sie es fühlte und mich ansah. Weil ich verlegen wurde, grüßte ich. Sie grüßte auch. Nun kam sie täglich ans Fenster.
 
Ich pflanze meine Erlebnisse wie wildes Weinlaub und sehe zu, wie sie wachsen. Ich bin faul, und das Nichts ist meine Leidenschaft. Dennoch lebte ich seit der Stunde, in der ich das Mädchen am Fenster gesehen hatte, in einer steten Spannung, die ich nur noch aus meiner Knabenzeit kannte. Damals war ich noch Teil der Welt, Strohhalm im Strom des Geschehens, schwimmend und fortgerissen. Ich weinte über den Verlust einer Papiertüte, einer Nutzlosigkeit. Seitdem ich alt bin, weine ich nicht mehr und lache nicht. Niemand kann mir ein unmittelbares Leid zufügen. Über Schmerz und Freude bin ich hinausgewachsen.
 
Nun aber lebte ich Schmerz und Freude und sank tief in die Kleinigkeiten.
 
Das Mädchen sah jeden Tag zum Fenster hinaus, wenn ich vorbeiging. Jeden Tag grüßte ich. Am dritten Tag lächelte sie.
 
An ihrem Lächeln lernte ich, daß es nichts Geringfügiges gibt unter der Sonne. Ihr Lächeln am dritten Tag war ein großes Ereignis.
 
Ihr Gesicht war blaß und klein. Ihre schwarzen Augen blank, wie geputzt. Ihr Haar glatt und rückwärts gekämmt. Ihre Schultern schmal und furchtsam.
 
Auch wenn es regnete, sah sie zum Fenster hinaus, und das Fenster war offen. Ich saß im Wirtshaus, und die Fensterscheibe war von der Regenkälte angelaufen. Ich mußte das Glas jedesmal blank wischen.
 
Jedesmal lächelte das Mädchen.
 
Einmal saßen zwei Männer an dem Tisch in der Fensterecke des Wirtshauses, und ich aß nicht, sondern ging hinaus und wanderte vor dem Wirtshaus auf und ab und war lächerlich wie ein Nachtwächter. Ich hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und ging langsam, mit großen Schritten. Von meinen Kleidern tropfte es. Die Leute standen im Haustor des Postgebäudes oder in der Einfahrt des Wirtshauses und warteten, bis der Regen aufhören würde. Wenn es blitzte, fuhren sie ein bißchen zusammen und hörten auf zu reden. Manchmal sahen sie mich an. Ein junges Weib vom Lande, in Holzpantoffeln und mit aufreizend prallen Brüsten, die hinter der regenfeuchten Bluse fortwährend zitterten vor Kälte und Erregung, rückte einmal auf der Schwelle zur Seite, zupfte mich am Ärmel und wies auf den freien Platz. Ich aber ging weiter, und oben lächelte das Mädchen.
 
Die Menschen sahen zum Fenster hinauf und lachten. Das junge Weib lachte auch. Ich sah mich um, da waren sie alle verlegen, vielleicht hielten sie mich für verrückt.
 
Von diesem Vorfall lebte ich eine ganze Woche lang. Ich erzählte Anna von dem Mädchen, und Anna lachte mich aus. „Warum lachst du?“ sagte ich. „Ich liebe das Mädchen am Fenster.“
 
„Warum gehst du nicht zu ihr hinauf?“
 
„Ich will's tun!“
 
„Nein, tu's nicht!“ bat Anna. „vielleicht liebst du sie wirklich.“
 
Ich werde niemals vergessen, wie eines Tages der Postdirektor neben dem Mädchen am Fenster stand. Ich grüßte, und der Postdirektor grüßte wieder. So selbstverständlich, als wäre ich sein guter Freund.
 
Das Mädchen war seine Nichte, sagte mir Anna.
 
Ich beschloß, zum Postdirektor zu gehn.
 
Aber es dauerte zwei Wochen, und ich ging noch immer nicht. Ich wollte sagen: Verehrter Herr Postdirektor, Ihre Augen und Ihre Sporen und selbst Ihre überlange Hose habe ich gern. Dieses Mädchen liebe ich aber. Ich glaube, sie ist die Frau meines Lebens. Ich will sie nicht verlieren wie Abel, mein Freund.
 
Und dann würde ich die Geschichte von meinem Freund Abel erzählen.
 
Der Postdirektor würde lächeln und aufstehn, und seine Sporen würden leise klirren, so wie kaum erwachsene silberne Tschinellen, die erst ordentlich klingen lernen müssen.
 
Das Mädchen würde meine Geschichte verstehen und nicht fragen wie Anna.

 





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