April
- Die Geschichte einer Liebe
1925
Das
Mädchen ist überhaupt ganz anders.
Ich
wüßte auch, was ich dem Mädchen zu sagen hätte.
Ich
fuhr in die große Stadt, um mir selbst Geld zu schicken, und schrieb
meinen
Namen verkehrt und nur den Anfangsbuchstaben meines Vornamens. Dann kam
ich
zurück und wartete auf das Geld.
Der
Briefträger kam und war sehr aufgeregt, weil er das letzte Mal vor zwei
Jahren
Geld gebracht hatte. Das war schon lange her, und er wiederholte rasch
die Vorschriften
und verlangte meine Papiere. Er behielt die Kappe auf dem Kopf, während
er im
Zimmer stand, denn er war im Dienst.
Er
wollte mir das Geld geben, aber ich sagte:
„Mein
Name ist verkehrt geschrieben.“
„Das
tut nichts“, sagte der Briefträger.
„Oh,
doch!“ sagte ich. „Tragen Sie das Geld zum Herrn Postdirektor, und
fragen Sie
ihn, ob Sie mir das Geld geben dürfen.“
Später
saß ich zehn oder fünfzehn Minuten lang beim Herrn Postdirektor. Aber
wir
sprachen nur von meinem Geld, und er sagte, daß er gar nicht zweifle;
ich wäre
der rechtmäßige Empfänger. In dieser Stadt hat noch nie jemand so oder
ähnlich
geheißen.
„Ja,
es ist eine sehr ruhige kleine Stadt“, sagte der Herr Postdirektor, und
er
wollte mir eigentlich damit ein Kompliment machen. Es war, als sagte
er: Wo
denken Sie hin! Einen so schönen, lauten Namen wie Sie trägt keiner
hier.
Seine
Sporen klangen leise, wie kaum erwachsene Tschinellen, und alles war
eigentlich
so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Nur von dem Mädchen am Fenster
war nicht
die Rede.
Als
ich draußen stand, sah ich zum Fenster hinauf. Am Fenster stand der
Herr
Postdirektor. Ich grüßte ihn noch einmal, und er nickte. Ich glaubte,
damals
wäre der geeignete Augenblick gewesen, noch einmal hinaufzugehen und
von dem
Mädchen zu sprechen. Aber gerade die geeigneten Augenblicke
auszunützen, bin
ich niemals imstande.
Alles
im Leben wird alt und abgenutzt: Worte und Situationen. Alle geeigneten
Augenblicke
sind schon dagewesen. Alle Worte sind schon gesprochen worden. Ich kann
nicht
Worte und Situationen wiederholen. Es ist, als trüge ich immerfort
abgelegte
Kleider.
Am
Abend jenes Tages stand das Mädchen nicht am Fenster. Ich beschloß
abzureisen.
Ich
ging ins Hotel und packte meinen Koffer. Anna kam und fragte: „Wie
lange wirst
du fortbleiben?“
Nie
wäre es ihr eingefallen, daß ich für immer verreisen könnte.
„Zwei
Tage!“ sagte ich und fühlte nicht die Spur von Reue über diese Lüge.
Was war eine
Lüge Anna gegenüber? Das Mädchen am Fenster war nicht mehr da, und bei
dem
Postdirektor hatte ich den geeigneten Augenblick nicht ausgenützt.
„Warst
du beim Postdirektor?“ fragte Anna.
„Ja!“
sagte ich. „Aber das Mädchen vom Fenster sah ich heut nicht mehr.“
„Sie
wird krank sein!“ sagte Anna.
„Krank?
- Warum sagst du das?“
„Sie
ist krank! Weißt du das nicht? Sie ist überhaupt krank! Schwindsüchtig
und
lahm. Deshalb geht sie auch niemals auf die Straße. Sie wird bald
sterben!“
Anna
sprach das alles sehr schnell. Ihre Worte schlugen Purzelbäume. Dennoch
hörte
ich jede Silbe, scharf und trocken. Diese Silben gruben sich in mein
Hirn wie
harte Münzen in eine schmelzende Wachsplatte. Ich sah Anna, wie sie
dastand,
mit straff zurückgekämmtem Haar, blank, als wäre sie eben aus dem
Wasser
gestiegen. Anna wird nicht sterben! dachte ich.
Das
Mädchen am Fenster wird sterben! wird sterben! wird sterben! Nie werde
ich mit
ihr sprechen. Deshalb also hatte ich den geeigneten Augenblick nicht
ausgenutzt. Nicht, weil ich geeignete Augenblicke nicht leide, sondern
weil das
Mädchen krank ist.
„Anna!“
sagte ich: „Nun geh' ich für immer fort.“
„Weil
sie krank ist?“ lachte Anna.
„Ja!“
„Aber
ich bin gesund!“ sagte Anna.
In
diesem Augenblick hatte sie das Gesicht einer Triumphierenden. Es war
blaß und
kalt.
»Ich
gehe mit dir zur Bahn!« sagte Anna.
Anna
ging mit mir zur Bahn.
Ein
Zug kam an, und ich wollte gerade zum Fahrkartenschalter. Da kam der
Reisende
wieder und grüßte. Er hatte einen knarrenden Lederkoffer und roch nach
Pomade.
Anna
griff krampfhaft nach meinem Arm, und ich blieb stehen.
„Du,
fahr nicht!“ sagte Anna.
Sie
glich nicht mehr einer Triumphierenden. Sie sah aus wie ein armes,
verstörtes
Tier, wie ein in die Enge getriebenes, umstelltes Eichhörnchen auf
einem
grausamen, baumlosen Acker.
Der
Reisende trat auf mich zu, sagte: „Ergebenster!“ und „Guten Abend!“
und: „Sind
wohl auch angekommen? Oder verreisen jetzt?“
„Nein!“sagte
ich. „Soeben angekommen!“ - und ging mit Anna in die Stadt zurück.
Ich
schlief die ganze Nacht nicht, denn ich dachte an das sterbende
Mädchen.
Seitdem ich wußte, daß sie bald tot sein würde, fühlte ich mich sicher
in
meiner Macht über sie. Ich hielt sie fest, ich konnte ihre Hände
greifen. Sie
war in meinen Besitz übergegangen.
Ich
dachte gar nicht daran, daß sie auch früher schon krank gewesen. Für
mich war
sie es eben erst geworden. Sie wird sterben, dachte ich, und es war mir
wie
einem, der weiß, daß man in einer Stunde kommen wird, um ihm einen
Gegenstand
zu pfänden, den er liebt.
Den
ganzen nächsten Morgen schritt ich auf und ab vor dem Postgebäude. Der
Herr
Postdirektor kam jede Stunde einmal ans Fenster, sah mich und wunderte
sich
gewiß. Er ging um die Mittagszeit aus dem Hause, ich grüßte ihn, und er
erwiderte und wunderte sich. Dann, um drei Uhr nachmittags, kam er
zurück, und
ich ging immer noch auf und ab vor dem Hause. Ich ging hin und zurück,
bewußtlos wie ein Uhrpendel und getrieben von einem unbekannten
Räderwerk.
Am
Abend setzte ich mich ins Wirtshaus und sah hinaus: Das Fenster im
Postgebäude
ging auf, und sie kam.
Sie
grüßte zuerst und etwas hastig, schien mir. Sie hatte wahrscheinlich
geglaubt,
ich würde heute nicht mehr warten, weil sie gestern krank gewesen war.
Ich sah
nur kurz hinauf, und in meinen Augen lag eine lange Rede.
Wenn
ich drei Tage ununterbrochen gesprochen hätte, ich hätte ihr gar nicht
so viel
sagen können.
Ich
war ganz dumm und knabenhaft aufgeregt. Sie verstand, schien mir, was
ich
gesagt hatte. Dann klinkte sie das Fenster zu, als es stärker dunkelte,
im
Zimmer floß plötzlich helles Licht, und die Gardinen schlossen sich. An
der
weichen, hellen Gardinenfläche zeichnete sich der Schatten eines großen
Mannes
ab. Es war nicht der Herr Postdirektor, denn der Schatten des
Postdirektors
hätte einen Backenbart gehabt. Es war ein bartloser Mann. Vielleicht
der
Bruder.
Ich
ging noch eine Stunde durch den Park. Die Menschen liebten sich immer
noch auf
den Bänken und Beeten. Ich begegnete mehreren Frauen, die mit losen
Haaren und
mit einer fremdartigen Ausgelassenheit verlorener und berauschter
Menschen auf
den Kieswegen, ziellos scheinbar, wanderten. Ihr Gang war so taumelnd
und
dennoch erregt lebendig.
Sie
nahmen sich aus wie Kreisel, die früher einmal von irgendeiner fremden
Kraft in
rastloses Rotieren versetzt worden waren und nun, da die Wirkung dieser
unbekannten
Macht erschöpft ist, immer noch im nachhaltenden Zauber des rotierenden
Schwunges befangen, aber müde, ihre letzten flatternden Runden
vollziehen und
nach einem äußeren Stützpunkt oder dem eigenen Gleichgewicht vergeblich
suchen.
Alle
diese, dachte ich, sind gesund und werden nicht sterben.
Ich
traf Anna in ihrem Zimmer, wie sie im Hemd am Bettrand saß und weinte.
Sie
hielt die Hände nicht nach der Art weinender Menschen vor das
Angesicht. Es
schien, daß ihr unermüdliches, mit Landregengleichmaß und stetig
rinnendes
Weinen nicht aus ihrer Seele kam, sondern wie von außen her; etwas
Fremdes,
Plötzliches, Überfallendes, gegen welches sich zu wehren nutzlos, das
zu
verhüllen ohne Zweck war.
In
dieser Nacht liebte ich Anna wie zum ersten Male, mit der Zärtlichkeit
und der
Freude, mit der man einen ganz neuen Besitz umhüllt.
Am
nächsten Morgen erlebte ich die letzte Geschichte dieses Städtchens.
Sehr früh
saß der Reisende schon im Kaffeehaus und aß Kuchen. Er aß nicht mit der
Hand,
sondern umständlich mit Messer und Teelöffel, denn der Reisende war ein
feiner
Mann und wußte sich zu benehmen. Er aß sehr lange an seinem Kuchen.
Dann stand
er auf, ging zum Wandkalender und riß das Datum von gestern herunter,
entschieden und so, als schüfe er das Heute, den neuen Tag, stolz und
machterfüllt wie ein Gott.
Mir
bangte vor der Ankunft des Postdirektors.
Der
Herr Postdirektor riß seit Jahrzehnten die alten Tage ab und
entschleierte die
neuen, behutsam und demütig, nicht wie ein Gott, sondern wie ein Diener
Gottes.
Heute würde er entsetzt nach dem Wandkalender sehen, irre werden in den
Wochentagen und Daten und die Welt nicht mehr verstehen.
Deshalb
hob ich den zerknitterten Zettel auf, glättete ihn und brachte ihn, so
gut es
ging, wieder am Wandkalender an.
Der
Reisende sah mir zu und sagte: „Mein Herr, heute ist der 28. Mai!“ Ich
erschrak
fast, so laut sagte er das Datum dieses Tages, und obwohl es eine sehr
einfache
Sache war und alle Welt es wissen mußte, schien mir, als hätte der
Reisende ein
scheues Geheimnis mit unverschämter Roheit ausgebrüllt.
Der
28.Mai!
In
diesem Augenblick schlug die Turmuhr halb acht, der Herr Postdirektor
trat ein,
seine Sporen klirrten leise und übermütig, sie kicherten, und der Herr
Postdirektor ging feierlich an den Wandkalender und enthüllte den neuen
Tag.
Erst jetzt war's der 28. Mai geworden!
Dieser
28. Mai wurde einer der wichtigsten Tage meines Lebens. Ich beschloß
nämlich
abzureisen.
Was
hätte ich auch länger tun sollen in diesem Städtchen? Das Mädchen am
Fenster
mußte sterben, Anna tat mir weh, ihr Anblick schmerzte mich, und ich
konnte ihr
nicht helfen. Den Briefträger kannte ich schon auswendig und das
silberne
Sporenklimpern des Herrn Postdirektor auch. Käthe, dachte ich, wird
jeden
Morgen um die gleiche Stunde ihr Fenster aufklinken, und es wird nichts
dabei sein,
wenn ich nicht mehr vorübergehend guten Morgen sage. Und es war schon
der 28.
Mai.
Am
28. Mai konnte ich unmöglich länger bleiben. Fast ohne daß ich es
gesehen
hätte, waren die Ähren auf den Feldern mannshoch und noch darüber
gewachsen.
Wenn ein halbes Dutzend aufeinanderstehender Hasen durch die Felder
geschossen
wäre, man hätte nicht einmal eine Ohrenspitze des letzten und obersten
gesehen.
Es war ein gesegnetes Jahr, und in den Obstgärten lag der Blütenschnee
so dicht
und hoch, daß
man mit nackten Füßen hätte gehen können und die Gartenerde nur wie
eine ferne
Wirklichkeit fühlen.