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Literatur


04.3


Geschichten - Joseph Roth
Werke 4
1916- 1929

Romane und Erzählungen






April - Die Geschichte einer Liebe
1925


Das Mädchen ist überhaupt ganz anders.
 
Ich wüßte auch, was ich dem Mädchen zu sagen hätte.
 
Ich fuhr in die große Stadt, um mir selbst Geld zu schicken, und schrieb meinen Namen verkehrt und nur den Anfangsbuchstaben meines Vornamens. Dann kam ich zurück und wartete auf das Geld.
 
Der Briefträger kam und war sehr aufgeregt, weil er das letzte Mal vor zwei Jahren Geld gebracht hatte. Das war schon lange her, und er wiederholte rasch die Vorschriften und verlangte meine Papiere. Er behielt die Kappe auf dem Kopf, während er im Zimmer stand, denn er war im Dienst.
 
Er wollte mir das Geld geben, aber ich sagte:
 
„Mein Name ist verkehrt geschrieben.“
 
„Das tut nichts“, sagte der Briefträger.
 
„Oh, doch!“ sagte ich. „Tragen Sie das Geld zum Herrn Postdirektor, und fragen Sie ihn, ob Sie mir das Geld geben dürfen.“
 
Später saß ich zehn oder fünfzehn Minuten lang beim Herrn Postdirektor. Aber wir sprachen nur von meinem Geld, und er sagte, daß er gar nicht zweifle; ich wäre der rechtmäßige Empfänger. In dieser Stadt hat noch nie jemand so oder ähnlich geheißen.
 
„Ja, es ist eine sehr ruhige kleine Stadt“, sagte der Herr Postdirektor, und er wollte mir eigentlich damit ein Kompliment machen. Es war, als sagte er: Wo denken Sie hin! Einen so schönen, lauten Namen wie Sie trägt keiner hier.
 
Seine Sporen klangen leise, wie kaum erwachsene Tschinellen, und alles war eigentlich so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Nur von dem Mädchen am Fenster war nicht die Rede.
 
Als ich draußen stand, sah ich zum Fenster hinauf. Am Fenster stand der Herr Postdirektor. Ich grüßte ihn noch einmal, und er nickte. Ich glaubte, damals wäre der geeignete Augenblick gewesen, noch einmal hinaufzugehen und von dem Mädchen zu sprechen. Aber gerade die geeigneten Augenblicke auszunützen, bin ich niemals imstande.
 
Alles im Leben wird alt und abgenutzt: Worte und Situationen. Alle geeigneten Augenblicke sind schon dagewesen. Alle Worte sind schon gesprochen worden. Ich kann nicht Worte und Situationen wiederholen. Es ist, als trüge ich immerfort abgelegte Kleider.
 
Am Abend jenes Tages stand das Mädchen nicht am Fenster. Ich beschloß abzureisen.
 
Ich ging ins Hotel und packte meinen Koffer. Anna kam und fragte: „Wie lange wirst du fortbleiben?“
 
Nie wäre es ihr eingefallen, daß ich für immer verreisen könnte.
 
„Zwei Tage!“ sagte ich und fühlte nicht die Spur von Reue über diese Lüge. Was war eine Lüge Anna gegenüber? Das Mädchen am Fenster war nicht mehr da, und bei dem Postdirektor hatte ich den geeigneten Augenblick nicht ausgenützt.
 
„Warst du beim Postdirektor?“ fragte Anna.
 
„Ja!“ sagte ich. „Aber das Mädchen vom Fenster sah ich heut nicht mehr.“
 
„Sie wird krank sein!“ sagte Anna.
 
„Krank? - Warum sagst du das?“
 
„Sie ist krank! Weißt du das nicht? Sie ist überhaupt krank! Schwindsüchtig und lahm. Deshalb geht sie auch niemals auf die Straße. Sie wird bald sterben!“
 
Anna sprach das alles sehr schnell. Ihre Worte schlugen Purzelbäume. Dennoch hörte ich jede Silbe, scharf und trocken. Diese Silben gruben sich in mein Hirn wie harte Münzen in eine schmelzende Wachsplatte. Ich sah Anna, wie sie dastand, mit straff zurückgekämmtem Haar, blank, als wäre sie eben aus dem Wasser gestiegen. Anna wird nicht sterben! dachte ich.
 
Das Mädchen am Fenster wird sterben! wird sterben! wird sterben! Nie werde ich mit ihr sprechen. Deshalb also hatte ich den geeigneten Augenblick nicht ausgenutzt. Nicht, weil ich geeignete Augenblicke nicht leide, sondern weil das Mädchen krank ist.
 
„Anna!“ sagte ich: „Nun geh' ich für immer fort.“
 
„Weil sie krank ist?“ lachte Anna.
 
„Ja!“
 
„Aber ich bin gesund!“ sagte Anna.
 
In diesem Augenblick hatte sie das Gesicht einer Triumphierenden. Es war blaß und kalt.
 
»Ich gehe mit dir zur Bahn!« sagte Anna.
 
Anna ging mit mir zur Bahn.
 
Ein Zug kam an, und ich wollte gerade zum Fahrkartenschalter. Da kam der Reisende wieder und grüßte. Er hatte einen knarrenden Lederkoffer und roch nach Pomade.
 
Anna griff krampfhaft nach meinem Arm, und ich blieb stehen.
 
„Du, fahr nicht!“ sagte Anna.
 
Sie glich nicht mehr einer Triumphierenden. Sie sah aus wie ein armes, verstörtes Tier, wie ein in die Enge getriebenes, umstelltes Eichhörnchen auf einem grausamen, baumlosen Acker.
 
Der Reisende trat auf mich zu, sagte: „Ergebenster!“ und „Guten Abend!“ und: „Sind wohl auch angekommen? Oder verreisen jetzt?“
 
„Nein!“sagte ich. „Soeben angekommen!“ - und ging mit Anna in die Stadt zurück.
 
Ich schlief die ganze Nacht nicht, denn ich dachte an das sterbende Mädchen. Seitdem ich wußte, daß sie bald tot sein würde, fühlte ich mich sicher in meiner Macht über sie. Ich hielt sie fest, ich konnte ihre Hände greifen. Sie war in meinen Besitz übergegangen.
 
Ich dachte gar nicht daran, daß sie auch früher schon krank gewesen. Für mich war sie es eben erst geworden. Sie wird sterben, dachte ich, und es war mir wie einem, der weiß, daß man in einer Stunde kommen wird, um ihm einen Gegenstand zu pfänden, den er liebt.
 
Den ganzen nächsten Morgen schritt ich auf und ab vor dem Postgebäude. Der Herr Postdirektor kam jede Stunde einmal ans Fenster, sah mich und wunderte sich gewiß. Er ging um die Mittagszeit aus dem Hause, ich grüßte ihn, und er erwiderte und wunderte sich. Dann, um drei Uhr nachmittags, kam er zurück, und ich ging immer noch auf und ab vor dem Hause. Ich ging hin und zurück, bewußtlos wie ein Uhrpendel und getrieben von einem unbekannten Räderwerk.
 
Am Abend setzte ich mich ins Wirtshaus und sah hinaus: Das Fenster im Postgebäude ging auf, und sie kam.
 
Sie grüßte zuerst und etwas hastig, schien mir. Sie hatte wahrscheinlich geglaubt, ich würde heute nicht mehr warten, weil sie gestern krank gewesen war. Ich sah nur kurz hinauf, und in meinen Augen lag eine lange Rede.
 
Wenn ich drei Tage ununterbrochen gesprochen hätte, ich hätte ihr gar nicht so viel sagen können.
 
Ich war ganz dumm und knabenhaft aufgeregt. Sie verstand, schien mir, was ich gesagt hatte. Dann klinkte sie das Fenster zu, als es stärker dunkelte, im Zimmer floß plötzlich helles Licht, und die Gardinen schlossen sich. An der weichen, hellen Gardinenfläche zeichnete sich der Schatten eines großen Mannes ab. Es war nicht der Herr Postdirektor, denn der Schatten des Postdirektors hätte einen Backenbart gehabt. Es war ein bartloser Mann. Vielleicht der Bruder.
 
Ich ging noch eine Stunde durch den Park. Die Menschen liebten sich immer noch auf den Bänken und Beeten. Ich begegnete mehreren Frauen, die mit losen Haaren und mit einer fremdartigen Ausgelassenheit verlorener und berauschter Menschen auf den Kieswegen, ziellos scheinbar, wanderten. Ihr Gang war so taumelnd und dennoch erregt lebendig.
 
Sie nahmen sich aus wie Kreisel, die früher einmal von irgendeiner fremden Kraft in rastloses Rotieren versetzt worden waren und nun, da die Wirkung dieser unbekannten Macht erschöpft ist, immer noch im nachhaltenden Zauber des rotierenden Schwunges befangen, aber müde, ihre letzten flatternden Runden vollziehen und nach einem äußeren Stützpunkt oder dem eigenen Gleichgewicht vergeblich suchen.
 
Alle diese, dachte ich, sind gesund und werden nicht sterben.
 
Ich traf Anna in ihrem Zimmer, wie sie im Hemd am Bettrand saß und weinte. Sie hielt die Hände nicht nach der Art weinender Menschen vor das Angesicht. Es schien, daß ihr unermüdliches, mit Landregengleichmaß und stetig rinnendes Weinen nicht aus ihrer Seele kam, sondern wie von außen her; etwas Fremdes, Plötzliches, Überfallendes, gegen welches sich zu wehren nutzlos, das zu verhüllen ohne Zweck war.
 
In dieser Nacht liebte ich Anna wie zum ersten Male, mit der Zärtlichkeit und der Freude, mit der man einen ganz neuen Besitz umhüllt.
 
Am nächsten Morgen erlebte ich die letzte Geschichte dieses Städtchens. Sehr früh saß der Reisende schon im Kaffeehaus und aß Kuchen. Er aß nicht mit der Hand, sondern umständlich mit Messer und Teelöffel, denn der Reisende war ein feiner Mann und wußte sich zu benehmen. Er aß sehr lange an seinem Kuchen. Dann stand er auf, ging zum Wandkalender und riß das Datum von gestern herunter, entschieden und so, als schüfe er das Heute, den neuen Tag, stolz und machterfüllt wie ein Gott.
 
Mir bangte vor der Ankunft des Postdirektors.
 
Der Herr Postdirektor riß seit Jahrzehnten die alten Tage ab und entschleierte die neuen, behutsam und demütig, nicht wie ein Gott, sondern wie ein Diener Gottes. Heute würde er entsetzt nach dem Wandkalender sehen, irre werden in den Wochentagen und Daten und die Welt nicht mehr verstehen.
 
Deshalb hob ich den zerknitterten Zettel auf, glättete ihn und brachte ihn, so gut es ging, wieder am Wandkalender an.
 
Der Reisende sah mir zu und sagte: „Mein Herr, heute ist der 28. Mai!“ Ich erschrak fast, so laut sagte er das Datum dieses Tages, und obwohl es eine sehr einfache Sache war und alle Welt es wissen mußte, schien mir, als hätte der Reisende ein scheues Geheimnis mit unverschämter Roheit ausgebrüllt.
 
Der 28.Mai!
 
In diesem Augenblick schlug die Turmuhr halb acht, der Herr Postdirektor trat ein, seine Sporen klirrten leise und übermütig, sie kicherten, und der Herr Postdirektor ging feierlich an den Wandkalender und enthüllte den neuen Tag. Erst jetzt war's der 28. Mai geworden!
 
Dieser 28. Mai wurde einer der wichtigsten Tage meines Lebens. Ich beschloß nämlich abzureisen.
 
Was hätte ich auch länger tun sollen in diesem Städtchen? Das Mädchen am Fenster mußte sterben, Anna tat mir weh, ihr Anblick schmerzte mich, und ich konnte ihr nicht helfen. Den Briefträger kannte ich schon auswendig und das silberne Sporenklimpern des Herrn Postdirektor auch. Käthe, dachte ich, wird jeden Morgen um die gleiche Stunde ihr Fenster aufklinken, und es wird nichts dabei sein, wenn ich nicht mehr vorübergehend guten Morgen sage. Und es war schon der 28. Mai.
 
Am 28. Mai konnte ich unmöglich länger bleiben. Fast ohne daß ich es gesehen hätte, waren die Ähren auf den Feldern mannshoch und noch darüber gewachsen. Wenn ein halbes Dutzend aufeinanderstehender Hasen durch die Felder geschossen wäre, man hätte nicht einmal eine Ohrenspitze des letzten und obersten gesehen. Es war ein gesegnetes Jahr, und in den Obstgärten lag der Blütenschnee so dicht und hoch, daß man mit nackten Füßen hätte gehen können und die Gartenerde nur wie eine ferne Wirklichkeit fühlen.
 
 





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