April
- Die Geschichte einer Liebe
1925
Auch
sah man es den Wolken bereits an, daß sie sich nicht mehr, von Jugend
und
Sorglosigkeit getrieben, auf dem Himmel herumlümmelten, sondern mit
bedächtiger
Beschwer dastanden oder ihre fruchtbaren, schwellenden Leiber wälzten,
um einer
Pflicht zu genügen. Am 28. Mai weiß man bereits, was man will.
Es
ist, dachte ich, so lächerlich, daß ich hier Abend für Abend vor dem
Fenster
eines Mädchens wandere, das sterben wird und das ich niemals küssen
kann. Ich
bin nicht mehr jung, dachte ich. Jeder Tag ist eine Aufgabe, und jede
meiner
Stunden war eine Sünde am Leben.
Einmal
träumte ich von einem großen Hafen. Ich hörte ein machtvolles Klirren
von
zwanzigtausend Schiffsketten und das Brüllen beschäftigter Matrosen.
Ich sah,
wie schwere Kräne sich hoben und senkten, glatt und selbstverständlich
und ohne
Mühe, als würden sie nicht von Menschen in Bewegung gesetzt, sondern
als
arbeiteten sie aus eigenem und nach göttlichem Willen. Es war nicht der
Krampf
des Eisens, sondern die leichte Gelenkigkeit natürlicher Kräfte.
Manchmal
träumte ich von einer großen Stadt, es war vielleicht New York. Ich
atmete das
Rasseltempo ihres Lebens, ihre Straßen rannten groß, breit,
unaufhaltsam, mit
Menschen, Fahrzeugen, Pflastersteinen, Laternenpfählen, Litfaßsäulen,
ich weiß
nicht wohin und wozu. Die Stadt stand nicht, sondern lief. Nichts
stand. Große Fabriken
qualmten aus riesigen Schornsteinen den Himmel an. In sekundenkurzen
Pausen
hielt ich die Augen geschlossen, um die Melodien dieses Lebens zu
hören. Es war
eine greuliche Musik; sie klang so wie die Melodie eines verrückt
gewordenen,
ungeheuren Leierkastens, dessen Walzen durcheinandergeraten waren.
Diese Musik
aber reizte auf. Es war nur häßlicher, nicht falscher Rhythmus. Eine
Weile
schrie ich im Rhythmus mit, dann erwachte ich.
Als
ich wach war, wunderte ich mich, daß ich eigentlich nicht mehr Teil
der Stadt war, sondern gänzlich losgelöst von ihr und lächerlicher
Bewohner
eines lächerlichen Städtchens. Was war ich denn eigentlich? Der
Mann unterm Fenster. Freund, sagte ich zu mir, begrabe dieses Mädchen,
das ohnehin nicht mehr lebt, und gib dich mit dem Leben ab.
Wichtig ist das Leben. Es hätte vielleicht mehr Sinn (nach den gültigen
Regeln
menschlicher Vernunft hätte es mehr Sinn), zu dem Mädchen hinaufzugehen
und tagsüber an ihrem Bett zu sitzen und des Abends
mit ihr am Fenster und ihr ein bißchen von dem ungeheuren Chaosrasseln
mitzubringen und dem vielen roten Blut, das durch die Adern
der Welt floß.
Aber
wichtiger ist das Leben.
Indem
ich so grausam zu mir sprach, versuchte ich, den Schmerz zu begraben.
Ich
begrub ihn unter einem Wall von Grausamkeit.
Ich
fuhr in der einzigen Droschke der Stadt, in der ich gekommen
war, zurück. Anna
hatte ich nichts gesagt.
Es
war später Nachmittag. Die Sonne rann in goldenen, breiten Strömen. Der
Bahnhof
kauerte wie eine große, gelbe Katze in der Sonne. Die Schienenstränge
liefen
weit in die Welt, eisern umspannten sie die Erde.
Als
ich im Zug saß und zum Fenster hinaussah, war ich bereits von der Stadt
und von
den letzten Wochen durch Grausamkeit, Freude, Kraft getrennt.
Mochte
der Briefträger sich einen Rausch antrinken, der Postmeister mit seinen
Tschinellen klirren, der Reisende nach Pomade duften. Der Kellner
Ignatz
feuchte Hände haben. Anna seine Geliebte werden.
Und
das Mädchen am Fenster? . . .
Es
kann sterben! sagte ich und schäme mich nicht zu gestehen, daß ich mich
bei
dieser Gelegenheit über meine Gesundheit freute.
Was
war das für eine Krankheit, in der ich die letzten Wochen zugebracht
hatte? Was
war doch mein Freund Abel für ein sentimentaler Kerl? Nie, nie, nie
würde ich
aus New York wegfahren einer Frau wegen.
Ja,
ich will gerade jetzt nach New York fahren. Amerika ist ein herrliches
Land.
Kein steinerner Bischof hat es gegründet.
Während
ich so dachte, pfiff der Zug und tat einen Ruck. In diesem Augenblick
trat der
lange Eisenbahnassistent mit der roten Kappe aus der Tür seiner
Amtsstube auf
den Perron. Die Tür war noch eine Weile offen.
Und
hinter dem Eisenbahnassistenten kam ein wunderschönes Mädchen. Es war,
es war
das Mädchen vom Fenster.
„Bleib
noch!“ hörte ich den Eisenbahnassistenten zu ihr sagen. „Ich bin gleich
fertig!“
Das
Mädchen aber hörte ihn nicht. Es sah mich an. Wir sahen uns an. Sie
stand
aufrecht, im weißen Kleid, gesund und gar nicht lahm, und auch gar
nicht
schwindsüchtig. Offenbar war sie die Braut des Eisenbahnbeamten oder
seine
Frau.
Während
der Zug noch einmal anzog und leise zu rollen anfing, winkte ich und
sah dem
Mädchen in die Augen. Nur dieses Blickes wegen habe ich diese
Geschichte
geschrieben.
Im
Kupee war mir, als hätte ich die Pflicht zu weinen. Ich aber lachte,
sah, wie
auf dem Felde ein Hirt seinen Hund schlug, ein Streckenwächter mit dem
Signal strammstand,
seine Frau Wäsche trocknete und ein kleiner Landwagen auf einem Feldweg
torkelte.
„Das
Leben ist sehr wichtig!“ lachte ich. „Sehr wichtig!“ und fuhr nach New
York.