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04.3
Joseph
Roth -
Werke 1
Das
journalistische Werk
1919
Menschliche
Fragmente
Der
Zeitgenosse
Das
war einmal Mensch. Nannte sich Ebenbild Gottes, Krone der Schöpfung,
und
wandelte aufrecht und mit den Füßen durch den Staub, aus dem er gemacht
war. Er
ging freier als der Löwe, blickte mutiger als der Tiger und erhob seine
Augen
zu dem Fluge des Adlers und zu den Gestirnen des Kosmos . . .
Was
ist das? Fabeltier, Insekt, Reptil sagenhafter Vorzeit? Der Oberkörper
waagrecht,
die Arme seitlich nach auswärts gebogen, in jeder Hand einen Stab, das
Gesicht
parallel zum Straßenpflaster: ein Vierfüßler. Warum steckt es in einer
Kleidung, die man den Rock des Kaisers nannte, als dieser noch Direktor
der Irrenanstalt:
Vaterland war und »sein« Rock Zwangsjacke? Warum ist dieses Geschöpf
nicht
nackt und
behaart wie andere Tiere? Warum führt es nicht ein Mensch an der Leine?
Warum
trägt es am Hals keine Marke? Fürchtet es nicht den Waffenmeister?
Es
ist Mensch! Mensch mit menschlichem Antlitz, mit einem Hirn, das
denken,
phantasieren, erfinden, träumen, arbeiten, wagen, schaffen kann!
Mensch, aus
den Niederungen des Heldentums und der Kanonenfutterage mit gebrochenem
Rückgrat und geborstenen Nervensträngen, zurückgekehrt in die Heimat.
Seht, wie
er torkelt! Sein Gang ist ein Zickzack, mißlungene Karikatur eines
Blitzes.
Sein schlotterndes Gebein
scheppert, wenn es an die Mauer stößt, und zuckt im nächsten
Augenblick, wie im
Ekel von der steinernen Wand zurückgeschleudert, an den Rand des
Trottoirs.
Er
weiß nicht, was der nächste Augenblick ihm in den Weg schickt. Er kennt
keinen
Weg. Nur eine Richtung, vages Traumbild einer »Direktion«, Folge der
militärischen und
unzuverlässig wie diese . . .
Was
ist das? - Fragment, Überbleibsel eines Menschentums, das jubeln und
weinen, herrschen und niederknien, befehlen und flehen konnte.
Im
wirren Jammer seines Zickzacks Symbol einer Gegenwart, die mit
gebrochenem
Rückgrat zwischen Revolutionen, Weltanschauungen und
Gesellschaftsordnungen
torkelt. Was bleibt Ihr stehen, Zeitgenossen? Seht! Es ist
»Nervenschock und Rückgratbruch«:
Euer Spiegelbild . . .
Der
Gast
In
der Gemeinschaftsküche sitzen sie an weiß gedeckten Tischen und
täuschen sich
Sattheit vor mit Markenabgabe, Trinkgeldern und Papierservietten.
Die
Gemeinschaftsküche ist Ruhepunkt im Wirrsal der Stunden, Fata Morgana
eines
Mittagstisches, Vision eines standesgemäßen Hungers.
Aber
einer ist, der hat keinen Ruhepunkt,
keine Vision, keine Fata Morgana. Er hat nur Hunger. Er kommt täglich
um
dieselbe Stunde, flackernde Begehr in den Augen, mit der
gespensterhaften Lautlosigkeit
eines vom Grabe Auferstandenen. Er grüßt nicht,
bittet nicht, fordert nicht. Er kommt nur, steinerner Gast mit der
Menageschale, und sein Kommen ist Drohung und Gebet, seine
Lautlosigkeit Befehl ...
Für
eine Weile erstarren die, die an dem Traumbild von einem Mittagstische
sitzen.
Ihr Reden, das den Zweck hatte, Gemütlichkeit des Sattseins
vorzutäuschen,
verstummt. Es gibt noch Schlimmeres: Einer ist, der hat keinen
Ruhepunkt, keine
Fata Morgana, keine Vision . . . Er hat nur Hunger. Er ist selbst
Hunger. Hunger
im Korpus eines menschlichen Fragments. Aus dünnen, ausgefransten
Uniformärmeln
hängen grobknochige, rohe Hände mit dick angelaufenen, blauen
Adersträngen
schlaff herunter. Hände, deren Vergangenheit Arbeit und Angriff hieß;
ihre
Gegenwart ist Betteln.
Rotblaugeschwollene
Füße quellen aus den Trümmern eines zerrissenen Stiefels hervor. Füße,
deren
Vergangenheit Zielschreiten und Wanderung war; ihre Gegenwart ist
Schleichen.
Er
kommt jeden Tag. Lautlos und unerbittlich kommt er, der Hunger, gerade,
wenn
die andern dabei sind, ihn zu verleugnen . . .
Prager
Tagblatt, 17· 4· 1919
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Die Insel der
Seligen
Ein Besuch in
»Steinhof«
Da
liegt sie, die Gartenstadt der Irrsinnigen, Zufluchtsort an dem
Wahnsinn der
Welt Gescheiterter, Heimstätte der Narren und Propheten. Goldregen
leuchtet
über weißem Kies, Kastanien haben festlich leuchtende Knospen
angesteckt, und
Lerchengeschmetter prasselt nieder aus blauen Lüften. Friedlich im
Frühling und
blau gebettet ist die Stadt mit dem lächelnden Antlitz und dem
vergrämten
Herzen.
Die
Häuser sind alle gleich gebaut und heißen »Pavillon«, haben römische
Ziffern an
der Stirnseite und fest verschlossene Pforten. Um manche ist ein Garten
gebaut,
und dort lustwandeln, sitzen, laufen, stehen die Hausbewohner herum. Es
ist
gerade die Zeit, da sie an die Luft geführt werden. Eine Frau hält
beide Hände
waagrecht vor sich hingestreckt, während sie auf und ab geht, rastlos,
unermüdlich, immerzu, summt sie ein melancholisch-monotones Lied.
Offenbar
glaubt sie, ein Kinderwagerl vor
sich herzuschieben. Ein Mann hockt auf dem Boden und müht sich
vergeblich,
deutliche Kreise in die noch harte Erde zu zeichnen. Ein anderer bewegt
die
Fäuste, dreht eine Faust nach innen, hält die andere waagrecht und
still und
verfolgt aufmerksam jede seiner eigenen Bewegungen. Aber um andere
Häuser ist
es still, da ist kein Garten. Das Haus der Tobsüchtigen, der
Schwerverbrecher
und Breitwieser-Kumpane ist dunkel und dräuend, hat fürsorgliche, feste
Eisengitter, durch die von Zeit zu Zeit eine grinsende Menschenfratze
heraussieht.
Das
Haus der Idioten ist dunkel, Trübsinn und Schwermut lagern über dem
ganzen
Trakt. Innen aber ist es hell, hat viele Glastüren, durch die die Sonne
teilnahmsvoll ihre Stiefkinder besucht. Besucher kommen. Frauen, alte,
junge,
vergrämte, heitere, gleichgültige und bekümmerte. Alle tragen große
Taschen,
Pakete, Liebesgaben.
Erst
muß man zum Inspektionsarzt, bekommt einen blauen Zettel, geht in das
betreffende Haus und läutet an. Ein Wärter öffnet, nimmt den Zettel ab.
Dann
kommt das Wiedersehen. Manche Kranke sind erfreut über den Besuch,
manche sind
verstört, nichts wissen wollend, die einen lachen, die andern weinen.
Aber fast
alle, die ich sah, durchsuchen zuerst die Taschen, die meisten freuen
sich mehr
über das Mitgebrachte als über den Besuch.
Hunger
Jawohl,
Hunger. Auch hier hat er seinen Einzug gehalten. Ein schon genesener
Patient, der
jetzt mit dem Schreiben der Krankengeschichten seine Langeweile
totzuschlagen
bemüht ist, erzählt mir, daß Hunger und Unterernährung oft
Geisteskrankheit
hervorrufen und daß gerade in letzter Zeit häufig infolge Hungers
tobsüchtig
Gewordene eingeliefert werden. Die Nerven haben weniger Blutzufluß,
sind nicht genügend
»geölt«, und die Räderchen dieser göttlichsten aller Maschinerien
geraten in
Verwirrung. Der eine verdächtigt seinen Hausgenossen, daß
sie ihm das ihm gebührende Essen verweigern, um es sich selbst
zuzuführen, wird
tobsüchtig, schlägt drauflos. Ein anderer verliert die Fähigkeit zu
denken
überhaupt, starrt trübe vor sich hin: Er ist hungrig. Dem ist in der
Anstalt
freilich wenig geholfen. In der Früh ein fragwürdiger »Schwarzer«, zu
Mittag eine
Brühe, Kraut oder Rüben, zum Nachtmahl noch einmal Rüben. Erst in den
letzten
Tagen ist das Essen wieder etwas besser geworden. Heute ist gerade ein
Fleischtag. Es gelingt mir, einen Speisezettel zu bekommen, ich zeige
ihn einem
Patienten. Er schüttelt den Kopf: »Süßkraut?! Ich weiß, es wird wieder
Sauerkraut
werden. Und mit dem Fleisch ist es auch nicht weit her!«
Aber
selbst wenn - es ist nicht alle Tage Fleischtag, es gibt vier Klassen,
und auf
die Patienten der vierten Klasse kommt Hunger- statt Fleischportion.
Ihr
Unglück ist im allgemeinen das gleiche - ihre Kost nicht dieselbe. Ich
lasse
hier den Speisezettel folgen:
Speisenfolge
für
Sonntag, den 12. April 1919
III.
Klasse
Mittags:
Graupensuppe,
Rindfleisch, Sauerkraut
Abends:
Gulasch,
Haferreis
IV.
Klasse
Mittags:
Graupensuppe,
Gulasch, Sauerkraut
Abends:
Süßkraut
Militär:
Mittags:
Graupensuppe, Rindfleisch, Sauerkraut
Abends:
Süßkraut
Pflegepersonen:
Mittags:
Graupensuppe,
Rindfleisch, Sauerkraut
Abends:
Gulasch, Graupen
Traktpfleger:
Mittags:
Bröselnudeln
Wien,
am 11. April 1919
Graupen
Interviews
Ich
habe von einigen interessanten »Fällen« gehört, und ich lasse mich bei
ihnen
anmelden. Ob der Herr Doktor bereit wäre, mich zu empfangen?
Jawohl,
sehr gerne. Ein großer blonder Mann, glattrasiert, mit ausdrucksvollen
Zügen,
sympathischen blauen Augen, empfängt mich.
»Dr.
Theodosius Regelrecht, Advokaturskandidat«. Seinen Namen hat er
abgelegt, er
will überhaupt von seiner Familie nichts wissen, er heißt »Regelrecht«
und
damit basta. Er schreibt an seinen Memoiren, behauptet, viel erlebt zu
haben,
und ist jedenfalls eine Persönlichkeit.
»Sie
gehören zur Papierverwertungsbranche?« Seine erste Frage ist etwas
verblüffend,
ich erwidere mit einem kleinlauten »Ja«. »Ich habe also die
zweifelhafte Ehre«,
fährt er fort, »in Ihnen einen Teil jener unmaßgeblichen Meinung zu
sehen, die
man die >öffentliche< nennt? Sie sind einer jener >freien
Berufe<,
die sich infolge eines fatalen Versehens der Natur nicht am Strich
anbieten
können und es infolgedessen über oder unter dem Strich tun! Nun,
stellen Sie
Ihre Fragen?«
»Wie
denken Sie über die politische Lage Deutschösterreichs, Herr Doktor?«
»Deutschösterreich
ist ein kaiserloses Kaiserreich, aber keine Republik. Reichspräsident,
Staatskanzler, oder wie das Oberhaupt heißt, würde sich zum
rücksichtslosesten
Bolschewismus bekehren um den Preis - einer Königskrone. Sämtliche
ehemaligen
österreichisch-ungarischen Nationen schließen sofort Frieden und
Donauföderation, wenn man ihnen gestattet, noch einmal an einem
Kaiserjubiläumsfestzug teilzunehmen. Sämtliche Zeitungen würden den
Staatsanwalt – ich glaube, er hieß Dr. Mager - mit einem wahren
Grubenhundefreudengeheul begrüßen,
wenn ihnen gestattet würde, die Rubrik >Hof- und
Personalnachrichten<
wiedereinzuführen. Alle Telepathen und Ringkämpfer verlieren sofort ihr
ganzes
Publikum, wenn irgendeine Hoheit noch einmal geruht, vor einem
Grinzinger
Kriegsspital wieder vorzufahren, und die Sehnsucht der Wiener nach der
Burgmusik ist so unüberwindlich, daß sie aus Mangel an dieser
Kommunistenversammlungen abhalten.«
»Glauben
Sie an den Kommunismus, Herr Doktor?«
»Er
kann kommen, aber wenn er kommt, wird er ein Kommunismus mit einem
>goldenen
Herzen< sein. Auch in Budapest ruft man ja >Eljen Kun!< nur
deshalb, weil man nicht mehr >Eljen Kiralyi!< rufen kann!«
»Glauben
Sie an die Wiederkehr der Monarchie?«
»Was
ist das für eine Frage? Kommunismus oder Monarchie - beides ist
deutschösterreichisch> und beide sind nicht. Im übrigen habe ich
mich lange genug
aufgehalten. Berichten Sie dem Irrenhaus, das sich >Welt< nennt
und für
das Sie schreiben, daß ich, Dr. Theodosius Regelrecht, keineswegs
gesinnt bin
zurückzukehren. Ich bin nicht irrsinnig!«
Damit
ging ich. Mein nächster Besuch galt einem würdigen, graubärtigen Herrn,
der eine bunte Papierkrone auf dem Kopf trägt und sich den »letzten
Kaiser«
nennt. Offenbar liest auch er Zeitung, denn er ruft immer wieder: »Mich
werden
sie nicht absetzen!« Seine traurige Majestät ist unnahbar, also ging
ich weiter.
Im
Korridor eilt ein kleines, dürres Männchen auf mich zu. »Dr. Regelrecht
hat mir
von Ihnen erzählt. Ich bin bereit, stehe Ihnen zur Verfügung. Ich habe
gehört:
Die Monarchie ist aufgelöst, der Reichsrat nach Hause geschickt, und in
der
Nationalversammlung hat ein Staatssekretär eine Thronrede gehalten in
Vertretung des Kaisers, den er zu diesem Zweck in die Schweiz geschickt
hat.
Oh, das Ende der Welt!«
»Sind
Sie nicht etwas zu pessimistisch?«
»Ich?
Im Gegenteil! Ich sehe nur, daß sich die Welt zu neuer Anschauung
bekehrt. Seit
Jahr und Tag predige ich: >Die Welt steht auf dem Kopf.< Deshalb
haben
sie mich für verrückt erklärt. Aber jetzt steht sie auf dem Kopf!«
»Wie
sind Sie hergekommen?«
»Oh,
ganz einfach! Sieben Kriegsanleihen hatte ich ruhig mitgezeichnet. Als
man mich
aber aufforderte, noch eine achte mitzumachen, bekam ich einen
Lachkrampf und
rief: >Die Welt steht auf dem Kopf!< Hätte ich damals, wozu wohl
mehr
Anlaß gewesen
wäre, einen Weinkrampf bekommen, man hätte mich eingesperrt. So kam ich
hierher und hatte durch einen monatelangen Verkehr mit Menschen, die
reiche und
große Ideen haben und die man deshalb >Idioten< nennt,
Gelegenheit, meine
Weltanschauung zu vertiefen. Ich rate Ihnen: Kommen Sie zu uns! Sie
sind Schriftsteller,
und es dürfte Ihnen schon gar nicht schwerfallen! Denn die Ärzte
glauben einem
niemals, daß man vernünftig ist. Ich verzeihe es ihnen: Ihr Studium und
ihr Verkehr mit Kollegen berechtigen sie zu diesem Mißtrauen. Aber
kommen Sie
zu uns, gründen Sie eine Zeitung. Ich will sofort abonnieren. Es soll
eine
satirische Wochenschrift sein, und Sie brauchen keine Witze zu
verfassen!
Drucken Sie bloß psychiatrische Gutachten nach und behördliche Erlässe!
Und
jetzt leben Sie wohl!«
...
Abschied
Offen
gestanden: Er fällt mir schwer. Abend hüllt die Insel der Unseligen -
oder
Seligen? - in blauen Dunst. Nur die Kuppel der von Otto Wagner erbauten
prachtvollen Kirche glänzt noch herüber. Vielleicht hat er recht, der
kleine
Professor? Ist die Welt nicht ein Tollhaus? Und ist es nicht praktisch,
sich
rechtzeitig ein warmes Plätzchen im »Steinhof« zu sichern? Ich werde es
vielleicht doch tun. Und - eine Zeitung gründen. Ich suche auf diesem
Wege
Mitarbeiter . . .
Der
Neue Tag, 20.4. 1919
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