lifedays-seite

moment in time


Literatur


04.3


Joseph Roth - Werke 1

Das journalistische Werk
1919






Barrikaden


Nein, sie stammen wahrlich nicht erst aus der Zeit der Revolutionen. Sie sind nicht Anzeichen eines aufgeregten, sondern im Gegenteil: eines gemütlichen Wien. Sie sind nicht Zweck und Ziel einer Strömung, sondern Grund und Ursache einer Untugend. Aber was auch beim Anblick dieser Barrikaden so empört, ist eben der Umstand, daß sie der Ausdruck jener Zwecklosigkeit sind, die die Existenz des Winters ausmacht und die, aufgeweicht in einem Viertelliter Heurigen, als sogenannte »Gemütlichkeit« von Volkssängern und Feuilletonisten wiedergekäut und ausgespuckt wird. Ist eben jene Schlamperei, die nicht der Fehler der alten österreichisch-ungarischen Monarchie war, sondern die Tugend dieses unseres Deutschösterreich, daß diese seine Tugend allen Teilstaaten aufoktroyiert. Und wenn auch tausendmal erklärt wird: Deutschösterreich sei ein funkelnagelneuer Staat, der mit dem alten Reiche nichts zu tun habe, so verweise ich dringend und unerbittlich auf jene uralte Bretterverschalung des neuen Boltzmann-Instituts in der Währingerstraße, auf jene Bretterverzierung, die jedem Einsichtigen beweisen muß, daß wir zwar ein funkel-nagelneuer Staat geworden, aber mit alten k. k. Brettern jämmerlich geflickt sind.

Wozu steht dieses Brettergerüst immer noch da? In der Nacht verrichten Hunde und Heurigenmenschen dort ihre Notdurft, und am Vormittag klebt man dort Plakate auf mit der Ankündigung von Linkstänzen um Blaufüchse und Rechtstänze um goldene Kälber. Wäre es nicht vernünftiger, das letztere in der Stille einer Sommernacht und das erstere im Sonnenglanz des Tages zu erledigen? . . .
 
Wozu diese Bretterverschalung? Das Institut ist fertig, Plakatsäulen gibt's zur Genüge, und für Hunde ist auch ein Laternenpfahl gut genug. Ich kann mir nicht anders helfen: Ich muß denken, der Magistrat bereitet den Putschisten wirkliche, ernstliche Barrikaden vor. Noch hat man in der Boltzmanngasse nicht geschossen. Aber warten wir ab, bis es erst dazu gekommen ist, und wir werden sehen, wie nützlich jene Bretterwand vor dem Boltzmann-Institut ist.
  
 
Heimgekehrt
 
Plötzlich tauchten sie auf, zwei Gestalten in der Kärntnerstraße, Robinsons oder so was, mitten zwischen Bügelfalten, Crepe de Chine-Kleidchen, Lackstiefletten und Telepathen: zwei Gestalten, robust, schwer, schmutzig und antediluvial. Bei näherem Zusehen entpuppen sie sich als zwei Heimkehrer. Sie waren aus Irkutsk oder aus sonst einer Gegend, wo nicht mehr der schwarze, sondern der rote Pfeffer wächst, im Sommer vergangenen Jahres aufgebrochen und hatten das zweifelhafte Glück gehabt, im Jahre des Herrn 1919 in ihre Heimatstadt Wien, die Stadt ihrer Träume, zu gelangen. Auf ihren zerfetzten Stiefeln lagerte der Staub von drei langen, total zerwanderten Jahren, und ihre braungebrannten Körper staken in Säcken von einer undefinierbaren Färbung, die sehr entfernt an Gelbweiß erinnerte, aber ebensogut auch sandige Erde hätte sein können. Sie schritten mächtig aus, sie suchten das Kommando, bei dem sie sich zu melden hätten. Sie staunten nicht, sie wunderten sich nicht. Scheinbar war das mächtige Erleben spurlos an ihnen vorbeigegangen. Ich sprach mit ihnen. Es war ihnen gutgegangen in Rußland. Wozu sie heimgekehrt seien? – Weil man doch einmal zu Hause sein wolle. Wissen sie, in welches Haus sie heimgekehrt sind? Als sie ausgezogen, war die Zeit noch groß, da sie zurückkamen, ist sie neu. Aber jene haben wir so lang enden lassen, daß wir diese nicht alt werden lassen. Und so sind sie, die beiden Heimkehrer, heimgekehrt in einer Zeit, deren Neuheit darin besteht, daß sie mit Neuerungen mißlungener Experimente verunstaltet, heimgekehrt in eine Stadt, deren Straßenpflaster die Ehre haben, auf dem ebensogut Blut fließt wie auf den Feldern desselben Namens, heimgekehrt in ein Land, das nicht weiß, was anzufangen, weil es überall aufhört, heimgekehrt zu Menschen, die »Genosse« einander sagen und den Revolver in der Hosentasche tragen. Wozu sind diese beiden heimgekehrt? Sie wissen es ebensowenig wie den Grund, warum sie ausgezogen sind.-
 
Josephus
Der Neue Tag, 22. 6. 1919

zurück

 


Seifenblasen


Ich habe Kinder gesehen, die Seifenblasen aufsteigen ließen.nNicht im Jahre neunzehnhundertunddreizehn, sondern gestern. Es waren richtige Seifenblasen. Ein Fläschchen voll Seifenschaum, ein Strohhalm, zwei Kinder und eine stille Gasse im Sonnenglanze eines Sommervormittags. Die Seifenblasen waren große, wunderschöne, regenbogenfarbige Kugeln und schwammen leicht und sanft durch die blaue Luft. Kein Zweifel: Es waren richtige Seifenblasen. Nicht aus den Tümpeln der Kriegsleitartikel, der Vaterlandspartei, der Pressequartiere aufgestiegene Seifenblasen patriotischer Phraseologie, sondern wunderschöne, regenbogenfarbige Seifenblasen.
 
Ich denke an die vielen Seifenblasen, die wir platzen sahen, während der ganzen langen Zeit, da Kartensystem und Kettenhandel sich der Seife bemächtigt hatten und die Fabrikation der Seifenblasen aus den Mündern der Kinder in die Mäuler der Siegfriedler und Politiker übergegangen war. Da war die Seifenblase des ukrainischen Brotfriedens, die Seifenblase von Brest-Litowsk, vom »verjüngten Österreich« und schließlich die vierzehn großen Seifenblasen Wilsons, die in Versailles an Clemenceau anstießen und zerplatzten. Wir hatten inzwischen die gnädige Erlaubnis erhalten, uns an jene Strohhalme zu klammern, mittelst derer die Seifenblasen hergestellt wurden. Oh, es war eine traurige Zeit!
 
Ich weiß, es werden immer noch Seifenblasen dieser Art aufsteigen. Seifenblasen der Weltrevolution, der Proletarierdiktaturen. Aber seitdem ich die echten, die wunderschönen regenbogenfarbigen Seifenblasen gesehen habe, blicke ich spöttisch und überlegen auf jene.
 
Denn die Zeit ist wieder gekommen, da aus Kulturbedürfnissen Kinderspielzeuge werden. Die logische Konsequenz, die daraus zu ziehen ist: daß sich die Politiker nicht mehr mit Kulturbedürfnissen befassen sollen. Vielmehr mit dem Dreschen der Strohhalme, die nötig sind, damit Kinder Seifenblasen erzeugen. Nicht Politiker.

 
Es wird eingestiegen
 
In der Südbahnhalle prangt die schöne Stilblüte: »In die Züge 31 und 35 wird durch die Wartesäle eingestiegen.« Man kann gerade nicht behaupten, daß diese Tafel an Deutlichkeit etwas zu wünschen übrigließe.
 
Wann und wohin die Züge 31 und 35 abgehen? Natürlich, wann und wohin sie wollen. Hauptsache ist: das Durch-die-Wartesäle-Eingestiegen- werden.
 
Wie prächtig sich doch die deutsche Grammatik auf Wiener Verhältnisse anwenden läßt! Wo erscheint die leidende Form mehr angebracht als in der Südbahnhalle ? In Wien streikt man nicht. Es wird gestreikt. In Wien verkehrt man nicht. Es wird verkehrt. In Wien fährt man nicht. Es wird gefahren. Hier steigt man nicht ein. Das ist eine physische Unmöglichkeit. Es wird in der Menge Tausender Passagiere eingekeilt, erstickt, erdrückt, geohnmachtet, gewartet: schließlich aufgemacht, geschoben, getragen, gehoben; und zum Schluß eingestiegen.
 
In Anbetracht des betrübenden Umstandes, daß es nur wenigen gelingt, alle die leidenden Formen der deutschösterreichischen Grammatik bis zur letzten, das heißt: eingestiegen werden, durchzuhalten, schlage ich folgende Tafel vor:

»Vor dem Eingestiegen-werden in die Züge 31, 35 wird durch die Wartesäle des Südbahnhofes gestorben.«
 
Josephus
Der Neue Tag, 10.9. 1919

zurück

 


Konservativ

Knapp bevor man in die Lazarettgasse von der Spitalgasse einbiegt, befindet sich eine Haltestelle des 5 er-Wagens. Ungefähr zehn Schritte weiter, ihr gegenüberliegend, in der Lazarettgasse eine Haltestelle des 15er, der durch die Lazarettgasse fährt. Hier mündet die 15er-Linie in die 5er ein, denn beide haben ein gemeinsames Ziel.
 
Die Tücke des Objekts: Spängler fügte es, daß, wenn ich an der Haltestelle des 15 er-Wagens wartete, der 5 er-Wagen zuerst kam. Wartete ich auf diesen, dann kam bestimmt der 15 er. Ich beschloß, mich zu rächen, und ging zu Fuß. Dann kamen beide Wagen gleichzeitig.
 
Seit einiger Zeit ist statt der Haltestelle in der Spitalgasse eine Leinwand zu sehen, auf der mit riesengroßen Buchstaben angekündigt steht: Haltestelle verschoben! Man kann also an einer Haltestelle beide Wagen erwarten. Spängler hat die Tücke ausgeschaltet, indem er die Objekte zusammenrückte.
 
Nun blieb aber noch die Tücke jenes Subjekts, das in Wien wegen Kohlenmangels vor die Elektrische gespannt ist: die Tücke des Amtsschimmels.
 
Besagtes Subjekt bleibt natürlich dort stehen, wo die Leinwand in riesengroßen Lettern verkündet: Haltestelle verschoben!
 
Tiefer Sinn aller Wiener Reformen wird hier offenbar. In eine knappe Definition gefaßt, heißt er: Verschoben ist nicht aufgehoben! Dagegen: Aufgehoben ist aufgeschoben!
 
Die Haltestelle wurde verschoben. Also bleibt der Wagen stehen. Denn die Haltestelle ist nicht aufgehoben. Aufgeschoben ist dagegen die Aussicht, beide Wagen an einer Haltestelle zu erwarten. Nicht aufgehoben ist die Möglichkeit, daß beide zugleich kommen und man infolgedessen zu Fuß geht. Also was ist eigentlich wirklich aufgehoben? Die Aussicht auf einen Erfolg verschobener Reformen! . . .
 
 
Der Schuß um Mitternacht
 
Ehe ich in die Custozzagasse einbog, ertönte ein Schuß. Es hatte zwölf Uhr geschlagen, und ein Schuß, der der Mitternachtsglocke sozusagen auf dem Klöppel folgt, wirkt in der Custozzagasse nicht aufmunternd.
 
Ich gestehe meine Feigheit. Ich blieb stehen und suchte nach jenem, was man nie findet: einem Wachmann.
 
Ich wartete eine Viertelstunde. Als es ein Viertel schlug und ich berechnet hatte, daß derjenige, den der Schuß getroffen, schon längst tot sein und jener, der ihn abgegeben, verschwunden sein mußte, entschloß ich mich, in die Custozzagasse einen Blick zu werfen. Ein Blick konnte nicht schaden. Ein Blick kann nicht getroffen werden.
 
Also warf ich einen Blick. Er fiel auf zwei patroullierende Stadtschutzleute. Ich war getröstet: Nun ist alles in Ordnung. Der Schwerverletzte in ärztlicher Obhut, der Attentäter in Gewahrsam. Oh, unsere brave Stadtschutzwache!
 
Ich beschloß, die beiden Wackeren zu befragen und ihnen nach Feststellung des Tatbestandes die Hand zu drücken. Also fragte ich: wie, wo, woher?
 
Darauf zog der eine einen Revolver und sagte: Tadellos: Dös is a neieher italiänischer! Mir harn ihn scho ausprobiert!
 
Und der zweite sagte: Der geht guat!
 
Worauf ich ging und über den Wandel der Zeiten nachdachte: Nachtwächter, die lärmen; die Landstraße als Scheibenschießplatz; das Auge des Gesetzes, das zielt, statt zu wachen; ein neugegründeter Sicherheitskörper, der andere Körper in Unsicherheit bringt; italienische Revolver als Beute der Schlacht bei Custozzagasse; und manches andere dachte ich.
 
Von meiner Angst vor mitternächtlichen Revolverschüssen bin ich geheilt. Ich denke mir: A neicher italiänischer!
 
Josephus
Der Neue Tag, 12.9. 1919

zurück

 


Die Folgen


Ein Kellner trug eine Tasse Tee über die Straße. Ein dreimal gewendet aussehender, herabgekommener Fixbesoldeter kam dem Frühstück in den Weg und war so überrascht von dem langentbehrten Anblick, daß er, offenbar aus dem Wunsche heraus, von der Teetasse getrunken zu werden, an diese anstieß und sie dem Kellner aus der Hand schlug, so daß sie aufs Pflaster fiel und klirrend zerschellte. Darob Streit zwischen dem Kellner und dem Fixbesoldeten. Der Kellner behauptete, der dreimal gewendete Herr müsse zahlen. Dieser, daß eine über die Straße lustwandelnde Teetasse öffentliches Ärgernis errege, insbesondere, wenn die Gefahr besteht, daß ein Fixbesoldeter ihr begegnen könnte.
 
Unter den Wienern, die zur Stunde, da dies geschah, sozusagen zur Arbeit eilten, bildeten sich zwei Gruppen, die den Fall der Teetasse lebhaft diskutierten. Die einen schrien, der Herr müsse das ruinierte Frühstück bezahlen. Die andern hielten dawider, daß einem ruinierten Herrn viel eher ein Frühstück bezahlt werden müßte.
 
Der Streit tobte mit unausgesetzter Heftigkeit etwa fünf Minuten. Plötzlich fiel das Wort »Tepp, blöda« mit dumpfem Knall in das Tosen des Streits. Der also Getroffene wich nicht, sondern erhob die Rechte, wog sich ein paarmal hin und her und schleuderte schließlich ein kräftiges »Rotzbua!« zurück.
 
Unter den Wienern, die zu jener Stunde sozusagen zur Arbeit eilten, bildeten sich zwei Gruppen: die eine für den Teppen, die andere für den Rotzbua. Der Fall komplizierte sich zu einem gordischen Knoten. Da kam seltsamerweise ein Wachmann und erklärte beide Schützen für verhaftet. Die Teetasse, deren Scherben noch auf dem Pflaster lagen, hieß er zurückbleiben. Der Fixbesoldete und der Kellner waren verschwunden. Verhaftet wurden zwei Wiener, die sozusagen zur Arbeit geeilt waren.
 
Denn so ist der Lauf jedes Wiener Geschehens: Die Ursachen verschwinden, und die Folgen ziehen sich in die Länge. Scherben hinterläßt jedes Ereignis. Einer zerschlug eine Tasse, und der andere wollte sie bezahlt bekommen. Zwischen beiden entspann sich ein Streit. Aber die Logik der Wiener Lokalchronik fügt es, daß zwei andere verhaftet werden. Die Folge der Existenz eines Fixangestellten und einer Teetasse war ihr Fall, die Folge des Falles ein Rechtsstreit, die Folge des Rechtsstreites das Verschwinden seiner Urheber, und da diese nicht mehr waren - mußten natürlich zwei andere streiten. Überflüssig war nur der Wachmann. Aber sollte er etwa dort erscheinen, wo er notwendig ist? . . .  
   
Nein!
 
Denn ein Wachmann ist, wie schon sein Titel besagt, ein Mann, der bewachen soll. Nun wäre z.B. das Friedrichspalais an der Albrechtsrampe zu bewachen. Es enthält zahlreiche wertvolle Gemälde und andere Kostbarkeiten. Und solange die Monarchie war und der Erzherzog Friedrich, machte der Wachmann seinem Titel Ehre und stand vor dem Friedrichspalais. Ich dachte, das wäre eine Ehrenwache. Denn der Wachmann vor dem Friedrichspalais schien mir noch - sagen wir: wachmännischer - als seine Kollegen. Seine weißen Handschuhe hauchten Festlichkeit. Seine Metallknöpfe glänzten Würde. Seine Haltung war die eines Kandelabers. Er war gewiß eine Ehrenwache.
 
Aber einmal war der Erzherzog Friedrich weg, und der Wachmann stand dennoch vor dem Palais. Aha! dachte ich, er bewacht also doch die Schätze!
 
Seit der Einführung der Republik ist der Wachmann verschwunden. Zwar sind ja wertvolle Gemälde und Kostbarkeiten geblieben. Aber Friedrich ist fort!
 
Der Wachmann war doch eine Ehrenwache. Warum war er aber auch in Friedrichs Abwesenheit auf seinem Posten gestanden? Eben nicht als Ehrenwache, sondern als Bewachungsposten. Denn solange Friedrich Erzherzog war und die Monarchie eine Monarchie, mußte man Schätze bewachen. Jetzt, denkt die Behörde, da der Erzherzog – Friedrich ist und die Monarchie Republik heißt, können sie uns gestohlen werden. Um sich republikanisch zu erweisen, schaffte sie den Ehren- und Bewachungsposten vor dem Friedrichspalais ab. Den Friedrich konnte man noch zur Not bewachen. Die Schätze nicht. Würde man diese bewachen, so würden die Leute glauben, man bewache jenen.
 
Mit Recht: Denn wann hätte man schon in Wien etwas Wertvolleres als einen Friedrich bewacht? Doch nur, nachdem es gestohlen worden war! . . .
 
Josephus
Der Neue Tag, 28.9. 1919


zurück

 

 
 





   lifedays-seite - moment in time