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04.3
Joseph Roth - Werke 1
Das
journalistische Werk
1919
Zwei
Ein
Pferd war wieder einmal so unvernünftig gewesen, auf dem holprigsten
Pflaster
einer engen Gasse zusammenzubrechen. Es lag keuchend und schweratmend
da. Sein
Fell war naß vom Schweiß, und die Haare bildeten kleine, feuchte
Borstenbüschel. Rings um den gestürzten Gaul stand das »Volk«; ein
Konglomerat
aus Schaulust und Arbeitslosigkeit. Das Pferd schielte mit seinem
großen
triefenden Auge durch die obere Spalte der Scheuklappe verächtlich auf
die
Menge, die ihm noch seine letzte Stunde verbitterte. Das Volk hatte so
etwas
wie eine Vision vom Tode: »Dös halt's nimmer aus!«; »A Stund' not«,
»Recht hat
er!« Ein Philosoph sagte: »Das Gescheitste, was so a Viech heutzutag'
machen
kann, bei die Futterpreise!« In den Mienen der Leute glänzte
Bewunderung für
das Pferd, das die Weisheit besaß zu krepieren. Ein hagerer Mensch in
einem
schwindsüchtigen Rock, dessen Hals innerhalb der Grenzen eines
blaukarierten
Kragens ratlos herumirrte wie ein Federstiel in einem weiten, leeren
Tintenfaß,
bekam allmählich die Physiognomie des personifizierten Neides. Er
machte
unbewußt die Todeszuckungen des Pferdes mit
und schien jeden Augenblick sich auf das Pflaster hinlegen zu wollen.
Die
Augen der Umstehenden bekamen alle denselben gläsernen Schimmer. Es war
schließlich nur ein Augenpaar. Die Augen des Volkes, eines Konglomerats
aus
Schaulust und Arbeitslosigkeit, aus Hunger und Neid. Die Augen
schillerten
böse:
Der
hat's überstanden. Warum sind wir keine
Gäule?
Als
das Pferd schließlich seinen letzten Atemzug getan hatte, zerstreute
sich die
Menge, traurig, unsagbar traurig. Nicht über den Tod des Tieres,
sondern über
ihren eigenen Fortbestand.
Als
ich in die nächste Gasse einbog, sah ich ein vor einem Rinnstein
zusammengebrochenes Wesen. Sein Gesicht hatte die Züge des Pferdes, das
ich
soeben sterben gesehen. Aber es war zufällig ein Mensch.
Auch
»bei die Futterpreise!« im Sterben begriffen. Ringsum war kein Atom von
»Volk«
zu sehen. Nur ein Hund, der sich mehr zum Rinnstein hingezogen fühlte,
schnupperte an dem Knochenhäuflein herum.
Ein
Mensch war zusammengestürzt. Kein Pferd kümmerte sich um ihn.
Denn
die Pferde sind weise und sterben mitten auf dem holprigen Pflaster.
Ein Mensch
sucht sich eine stille Straßenecke. Mit Recht: Denn wenn er selbst
mitten auf
dem Ring stürbe, kein »Volk« würde ihn beneiden. Daß ein Pferd stirbt,
selbst
»bei die Futterpreise«, ist immer noch eine Sehenswürdigkeit. Aber daß
ein
Mensch krepiert, ist »bei die Futterpreise« schon selbstverständlich.
Papier
Das
ist die Materie, die allgewaltig und unüberwindbar den Leitartikel wie
eine
Fahne über dem Jammer unserer Gegenwart schwingt. Letzter Zweck allen
Geschehens ist: auf Papier mitgeteilt zu werden. So gewinnt die
Mitteilung die
Herrschaft über die Geschichte. Die Mitteilung macht Geschichte.
Der
Krieg zeitigte eine besondere Erscheinungsform der Mitteilung: die
außerordentliche
Mitteilung, im Jargon der großen Zeit »ExtraAusgabe « genannt. Die
»Extra-Ausgabe« bewirkte eine Zeitlang Ereignisse, indem sie sie
mitteilte.
Dann aber wuchsen die Ereignisse der Extra-Ausgabe über den Kopf. Denn
eine
höhere Macht, das Pressequartier, schuf die Ereignisse, d. h. den
Heeresbericht. Und diesen brachte
die Extra-Ausgabe, keine außerordentliche mehr, sondern eine
ordentliche
Mitteilung.
Dennoch
konnten sich die Leute der Macht des Papiers nicht entziehen. Der Ruf
»Extra-Ausgabe!« betäubte den Zweifel. Der Glaube an das Papier blieb
aufrecht
bis zum Zusammenbruch des Pressequartiers und dem ganz
unvorhergesehenen
Kopfsprung der Geschichte, der es plötzlich eingefallen war, ein
Ereignis ohne
vorherige Fühlungnahme mit dem Pressequartier zu zeitigen.
Nun
blieb die Extra-Ausgabe aus. Ich hielt sie für tot, erledigt, aber
vorgestern
sprang sie wieder, munter und lebendig, mitten im Grabenkorso aus dem
Munde
eines Kolporteurs unter die Leute. Sie hatte wieder Geschichte gemacht.
Sie
meldete die Ermordung des Königs von Italien. Und die Leute rissen sich
um die
Mitteilung. Sie kostete achtzig Heller. Aber der Ruf betäubte den
Zweifel. Das
Papier, das fünf Jahre lang die Menschen belogen und betrogen, hat
seine Macht
nicht eingebüßt. Siegreich aus dem Schutt der Vernichtung erhebt sich
das
Papier auf den Schwingen der Extra-Ausgabe.
Josephus
Der
Neue Tag, 6. 10. 1919
zurück
Divergenzen
Ohne
die Uhr am Stephansplatz wäre ich kein Schriftsteller. Die
Stephansturmuhr ist
eines meiner unumgänglich notwendigen Schriftstellerrequisiten.
Wenn
ich schon gar keinen Stoff habe, so gehe ich zu meiner Stephansturmuhr.
Sie hat
immer irgendeine Liebenswürdigkeit für mich parat in ihrem Uhrgehäuse.
Ich
besuche sie regelmäßig, ungefähr wie man eine alte Tante besucht, von
der man
weiß, daß es nicht ganz richtig mit ihr ist, daß sie aber dennoch
irgendwelche
Leckerbissen im
Schrankfach hat.
Es
ist immer irgendwas kaputt an der Stephansuhr. Sehr oft steht sie,
manchmal
geht sie falsch, fast immer zurück, als sehnte sie sich nach
vergangenen, guten
alten Zeiten. Seit einigen Wochen hat sie eine gar wunderliche Laune:
Ihre
linke Gesichtshälfte, dort, wo die Ziffern immer so wundervoll
springen,
kümmert sich einen Schmarrn um die rechte, auf der das Ziffernblatt mit
den
Zeigern angebracht ist. Künden die Zeiger rechts halb zehn, so sagen
die
Ziffern links dreiviertel neun.
Ich
glaube, die gute Tante Stephansuhr weiß ganz gut, was sie will. Als ein
Wiener
Symbol fühlt sie die Verpflichtung, ein Wiener Symptom zu werden. Sie
kündet
nicht die Zeiten der Stunde, sondern gleich die der ganzen Zeit. Sie
spielt
Verordnung und Erfolglosigkeit, Erlaß und Widerruf, Nachricht und
Dementi. Sie
sagt: Nur nicht alles gleich ernst nehmen in Wien! Es kommt immer ganz
anders . . .
Josephus
Der
Neue Tag, 8. 11. 1919
zurück
Verwirrung
Der
Gasautomat ist ein bescheidenes Möbelstück. Er birgt sich im Vorzimmer,
hinter
der Tür, schwarzlackiert und unscheinbar und nur mit einem
Messingstreifen als
schüchterner Verzierung auf der Stirn.
Der
Gasautomat hat einen Mund. Eine schmale Ritze. Mit diesem Werkzeug
pflegte der
Automat Sechserln aus Nickel oder Eisen zu verschlingen. Die Köchin
machte sich
immer im Dunkel des Vorzimmers zu schaffen. Sie suchte den Mund des
Gasautomaten. Es war ein zärtliches Verhältnis zwischen der Köchin und
dem
Gasautomaten.
Wenn
der Automat hungrig war, verdunkelte sich plötzlich das Zimmer. Die
Gaslampe
begann grünlich-gelb zu schimmern wie einer, dem es schlecht wird. Das
feinkarierte Netz im Zylinder wurde mit allen Fäserchen sichtbar wie
die
Kulisse in der Oper, wenn Gretchens Bild am Spinnrad dahinter
erscheint. Die
Gesichter der Menschen waren wie von einem überirdischen, seltsam
mystisch-grünen Scheinwerfer übertüncht. Selbst der Kanarienvogel
zwischen dem
Rhododendron und
der Fensternische begann angsterfüllt zu zwitschern, schlug mit den
Flügeln und
machte einen Wind. Es war ganz wie bei der Sonnenfinsternis.
Die
Damen begannen in den Täschchen zu kramen, die Herren steckten
sämtliche
greifbaren Daumen und Zeigefinger in die Westentaschen. Irgendwo
erschien auf
dem Tische ein Sechser! Die Tochter des
Hauses verschwand im Dunkel des Vorzimmers. Ein klapperndes Geräusch
zeigte die
Vollendung ihres Sündenfalles an. Die Köchin barst vor Eifersucht.
Alles
das hat sich nun seit einiger Zeit geändert. Der Mangel an Sechserln
veranlaßte
die Direktion der städtischen Wasserwerke, die Gaspreise zu erhöhen.
Man müßte
nun eigentlich eine Papierkrone in den Mund des Automaten stecken. Der
aber
will von einer Krone nichts wissen. Er kann die Valuta nicht verdauen.
Er will
immer noch nur ein Sechserl, das mehr wert ist als eine Krone.
Früher
pflegte ein Mann mit einem rätselhaften Schlüssel und einer großen
Bierträgertasche zu kommen. Er kniete vor dem Gasautomaten und pumpte
ihm den
Magen leer. Alle Sechserln wanderten in die Tasche. Die Verdauung des
Gasautomaten war geregelt.
Nun
ist die Kasse offen. Der Gasautomat läßt sich betrügen. Es ist eine
Schmach.
Man
wirft ein Sechser! hinein, der Automat glaubt daran und funktioniert
gewissenhaft. Aber dann holt man unten das Sechser! wieder heraus und
steckt es wieder
in den Mund des Automaten.
Nach
einem Monat kommt ein Mann mit einem Bleistift und einer Rechnung. Er
zählt am
Bauch des Automaten ab, wie oft dieser getäuscht wurde, und kassiert
die Zahl
der illusorischen Sechserln in Kronenwährung ein.
Ein
Kubikmeter Gas kostet eine Krone, der Automat gibt ihn aber nur für ein
Sechser! her. Aus Dankbarkeit entlockt man diesem immer wieder sein
Geld und
zahlt es dafür in Kronen einem Dritten. Ein Kubikmeter Gas kostet also
in
Wirklichkeit ein Sechserl, das heißt weniger als eine Krone. Eine Krone
will
der Automat nicht, weil ein Sechserl mehr ist als eine Krone. Oh,
welche
Verwirrung! . . .
Josephus
Der
Neue Tag, 27. 11. 1919
zurück
Die heilige
Flamme
Ich
hatte einen riesigen Appetit auf eine Pfeife, und, was mehr ist, ich
hatte eine
Pfeife bei mir und in meinem Tabakbeutel gerade genug Tabak oder
dergleichen,
um meine Pfeife zu stopfen.
Ich
stopfte sie. Aber natürlich hatte ich kein Zündholz. Ich hielt einen
bepelzten
Passanten an, den ich rauchen sah.
»Ich
bitte um Feuer!«
Er
war sogar ganz liebenswürdig, aber er sagte:
»Ja,
Zündhälzeln hab' ich keine net, ich muß mir eh schon eine Zigaretten an
der
vorigen anzünden.«
Ich
erkannte, daß er schob, bat ihn aber dennoch, mich meine Pfeife an
seiner
Zigarette anzünden zu lassen.
Er
sagte: »An Ihnerer Stinkpfeifen wer' ich mir meine Khedive
verstänkern!«
Ich
seufzte, leerte den Inhalt der Pfeife wieder in den Tabakbeutel und
dachte: Im
Büro wird der Ofen brennen.
Ich
hatte so einen Appetit auf eine Pfeife. Schon auf der Treppe stopfte
ich sie
mir wieder. Ich dachte: Ich stecke einen Fidibus in den Büroofen
--- Aber der Ofen war nicht geheizt.
Ich
fragte den Bürodiener: »Habt ihr denn kein Zündholz, um den Ofen
anzuzünden?«
Er
sagte: »0 ja, aber kein Heizmaterial.«
Ich
freute mich: »Also, bitte, geben Sie mir ein Zündholz.«
Er
sagte: »Der Herr Direktor hat mir die Zündholzschachtel abverlangt,
weil wir eh
nicht heizen können.«
Ich
stopfte meine Pfeife und ging zum Herrn Direktor hinein, bat ihn um
Feuer.
Der
Herr Direktor schrie mich an: »Nächstens werden Sie sich ein Hemd bei
mir
ausborgen wollen. Wertgegenstände wie Füllfedern und Zündhölzer borgt
man nicht
her.«
Traurig
ging ich und entstopfte wieder meine Pfeife. In der Tür hörte ich, wie
der
Direktor vor sich hinsagte: »Ich habe gedacht, er will einen Vorschuß
haben.
Aber wenn er mich so belästigt--«
Ich
dachte: »Der Kollege Pimplhuber ist immer glänzend mit Rauchmaterial
versehen.
Vielleicht--«
Ich
stopfte hoffnungsvoll meine Pfeife und ging zum Kollegen Pimplhuber.
Er
sagte: »Geh, das ist fad! Eben wollte ich zu dir kommen, ob du Feuer
hast. Ich
wollte dir sogar eine Trabuco dafür schenken --«
Ich
entstopfte meine Pfeife, stopfte sie aber von neuem und ging zum
Kollegen
Huberdimpfel. Er ist wegen seiner sozialen Anschauungen bekannt.
Der
Kollege Huberdimpfel sagte: »Ich habe nur ein Zündholz, aber das will
ich
brüderlich mit dir teilen. Er brach es in zwei genau gleiche Hälften
und gab
mir die untere ohne den Kopf.
Ich
entstopfte meine Pfeife und überlegte. Im Cafe Kolossal verkauft der
Ober
Zündhölzer, die Schachtel zu einer Krone zwanzig. Ich habe noch vier
Kronen im
Vermögen. Eine Krone fünfzig kostet der Tee ohne, dreißig Heller kriegt
der
Ober Trinkgeld –
Ich
ging ins Cafe Kolossal, bestellte einen Tee ohne, kaufte dem Kellner
eine
Schachtel Zündhölzer ab, zog mit einem Seufzer der Befriedigung Pfeife
und
Tabakbeutel-- - und bemerkte, daß bei dem vielen Stopfen und Entstopfen
allmählich mein
bißchen Tabak verlorengegangen war.
Eine
Geschichte
Das
ist eine Geschichte ohne Pointe
Denn
erstens kann man nicht fortwährend Geschichten mit Pointen erzählen,
und
zweitens gibt es Geschichten, die keine Pointen haben und die dennoch
wert
sind, erzählt zu werden, weil sie schön sind.
Beim
Stiefelputzer am Stephansplatz sah ich einen Menschen stehen, einen
Soldaten.
Es war ein Kunde des Stiefelputzers. Nun, das ist natürlich nichts
Besonderes.
Täglich hat der Stiefelputzer am Stephansplatz soundso viele Kunden.
Ist das
eine Geschichte?
Aber
der Kunde, von dem ich jetzt erzähle, war, wie gesagt, ein Soldat, ein
Invalider. Ein - Einbeiniger. Hier fängt die Geschichte an. Und hier
hört sie
zugleich auf. Sie enthält nichts als die Tatsache, daß sich ein
Einbeiniger
seinen einen Stiefel wichsen läßt.
Wenn
ich wollte, ich könnte sagen, was sich der Einbeinige dabei dachte.
Etwa: Wie
glücklich, daß ich mir einen Stiefel wichsen lassen kann. Es soll Leute
geben,
die das überhaupt nicht können, weil sie - nicht einmal einbeinig sind.
Aber
ich sage nichts. Denn diese Geschichte trägt die Pointe schon in sich.
Sie ist Wie eine
Nadel, die nur aus einer Nadelspitze besteht. Die Geschichte ist ihre
eigene
Pointe.
Josephus
Der
Neue Tag, 21. 12. 1919
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