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04.3
Joseph Roth - Werke 1
Das
journalistische Werk
1919
Interviews
mit Straßentypen
Kinder
der Straße sind sie. Die Straße ist ihr Heim und ihr Obdach, ihr
Ursprung und
ihr Ziel. Sie sind es, die der Straße erst die Physiognomie verleihen
und die
Eigenart, sie gehören zu ihr wie Laternenpfähle, Pflastersteine,
Rettungsinseln, Plakatsäulen, Obelisken und Wartehäuschen.
Sie
sind das Mobiliar der Straße, von der Fabrik: Leben erzeugt und in die
Großstadt als Posel verschleudert. Der Bürger geht täglich an ihnen
vorbei,
gleichgültig und stumpf, weicht ihnen aus wie einem Baum am Straßenrand
oder
einem Rinnstein und ist angehalten, wenn so ein Möbelstück den Mund
auftut oder
die Hand. Und doch sind diese Denkmäler ewig menschlicher
Unzulänglichkeit oder
breithafter Gesellschaft
mit Seelen begnadet, auch die Karikaturen Gottes, mit Herz und Hirn,
mit
Schicksal und Erlebnis. Es ist lehrreich, sie sprechen zu hören. Bei
Interviews
dieser Art besteht wenigstens die Gefahr des Hinausgeschmissenwerdens
nicht. Zu
Nutz und Frommen einer breiteren Öffentlichkeit seien einige hier
mitgeteilt:
Der
wohltätige Bettler
Herr
Hirsch Garfunkel stammt aus dem Osten. Als 17jähriger Jüngling sollte
er wegen
seiner »schönen Stimm'« Kantor werden. Er aber glaubte, das Zeug zum
Opernsänger zu haben. Deshalb verließ er heimlich, ohne Wissen der
Seinigen,
die Heimat und fuhr nach Amerika.
Hier
sang er zuerst in einigen Tempeln und verdiente so so seinen Unterhalt.
Aber,
wie gesagt: Herr Garfunkel wollte durchaus höher hinaus, und eines
Tages ging
er zur Bühne. Die Theaterverhältnisse waren ihm fremd, Tratsch, Neid,
Ränke der
Kollegenschaft, Spott und Schabernack vertrieben ihn von der Bühne.
Inzwischen
hatte er ein ausschweifendes Leben geführt und seine Stimme verloren.
»In dem großen
Amerika«, sagt Herr Garfunkel, »ist es schwer, so ein Ding wie eine
Stimm'
wiederzufinden.« Deshalb kehrte er nach Europa zurück.
In
Amsterdam blieb er stecken, denn das Reisegeld fehlte ihm. Amsterdam
ist eine
alte Judengemeinde, es gibt viele reiche Glaubensgenossen, und Herr
Garfunkel
wurde bei ihnen, wie er sagt, »Eingeher«.
Das
heißt: Er ging dort ein und aus. Er war halb Tempeldiener, halb Lakai.
Damals
ging's ihm gut. Es gab Tage, an denen er sechs Mittagessen
hintereinander
verzehrte. Alles durch sein Ein- und Ausgehen. Da starb plötzlich sein
Protektor, einer der reichsten Kaufherren der Stadt Amsterdam. Herrn
Garfunkel
war der Aufenthalt verleidet. Er bettelte sich einiges zusammen und kam
nach
Wien. »Wien war damals noch eine schöne Stadt«, sagt Herr Garfunkel. Er
»verkehrte« in Theaterkreisen. »Die Schratt« zählte er zu seinen
»Bekannten«,
der Schauspieler Kamineth war »direkt sein Freund«. Von den sogenannten
»Kollektenbrüdern «unter den Schauspielern kannte er viele, darunter
den
Schauspieler Benda. Mit der Zeit hatte er sich eine glänzende Klientel
erworben. Künstler von Rang, Grafen, Kammerherrn und Hofräte kannten
ihn von
der Straße: Jeder entrichtete ihm seinen Zoll. Da erinnerte sich Herr
Garfunkel, großherzig, wie er immer war, seiner armen Brüder
im Judenviertel. Sein anspruchsloses Leben ermöglichte ihm ein
Auskommen mit
geringen Mitteln. Den Rest verteilte er an die Armen. So ward er
Wohltäter von
Beruf, Spender und Bettler in einer Person. Was er tagsüber
»eingenommen«
hatte, verteilte er am Abend den Armen in der Leopoldstadt. Mit der
Zeit
erweiterte sich die »Kundschaft«,
wuchs auch seine »Klientel«, und Herr Garfunkel legte Bücher an.
Doppelte
Buchhaltung gehörte nicht dazu: Es waren bloß Notizbücher. Aber genaue
Verzeichnisse der Spender und Bedürftigen waren alphabetisch angelegt.
Das
Geschäft florierte.
Heute
steht der wohltätige Bettler vormittags am Graben, nachmittags in der
Kärntnerstraße und wartet auf die Spender. Er grüßt von Zeit zu Zeit
einen
alten Herrn, spricht einige an. Aber das Geschäft geht lange nicht mehr
so gut,
behauptet Herr Garfunkel. »Die Wiener Leut' haben einen Geldsack, wo
das Herz
sein soll, früher haben sie das Herz im Geldsack gehabt«, sagt er. Ja,
einmal,
das war eine Zeit.
Die
vornehmen Herrschaften! Der gottselige Baron Rothschild! Und wie der
alte
Bösedorfer noch gesund war! Herr Garfunkel weiß nicht, wie alt er ist.
Ich
schätze ihn auf 80. Sein Bart ist silberweiß. Sommer und Winter trägt
er zwei
lange Röcke.
Herr
Garfunkel ist ein Fragment, ein Rest aus dem Trümmerhaufen der alten
Monarchie.
Wehmütig schleicht er über den Korso . . .
Der
blöde Nazi
Oder
auch: der Tepp vom Alsergrund. Wer kennt ihn nicht, den überlangen Nazi
mit dem
allzu kurzen Spazierstöcklein, mit dem er bei jedem Schritt auf das
Pflaster
klopft, daß es widerhallt! Nazi geht prinzipiell niemals auf dem
Trottoir,
stets in der Mitte der Straße, unbekümmert von Autos und Elektrischer.
Nazi hat
zweifellos einen Charakterkopf: Ließe er sich seinen Schnurrbart
rasieren, er
würde einem Lloyd
George zum Verwechseln ähnlich sehen.
Nazi
heißt eigentlich Ignatz B. und entstammt einer guten bürgerlichen
Familie. Nazi
erzählte, daß man ihn aus der Schule entfernt habe. Er hat drei
Volksschulklassen, er kann auch ein bißchen lesen. In der Früh um 7 Uhr
steht
Nazi auf. Er macht seine Besuche bei seinen »Stammkunden«: beim
Greisler am
Eck, beim Fleischhauer, beim Milchhändler,
beim Schuster. Er besorgt dem Herrn Doktor vom Zehnerhaus einen Weg,
bekommt
sein Trinkgeld. Zu Mittag geht er nach Haus. Dann ruht er, geht
spazieren.
Manchmal unternimmt er Ausflüge in den Prater.
Ich
sprach mit Nazi an einem sonnendurchfluteten Nachmittag im Park. Der
Narr freute
sich über die Sonne, über den blauen Himmel. »Schön, Herr Doktor!« rief
er.
»Kannst du lesen, Nazi?« »Ja, Herr Doktor, bißchen!« Er versuchte, ein
Schild
zu lesen. »Zu Haus«, sagt er plötzlich. Nazi ist hungrig. Er steht auf,
verneigt sich höflich, zieht seinen Hut. Nazi hat Manieren.
Ich
drückte ihm etwas Kleingeld in die Hand. Nazi sieht mich verwundert an.
Ich reiche ihm die Hand. Nazi überlegt. Dann schlägt er ein und lacht
fröhlich:
»Guter Herr Doktor!«
Seinen
Stock schlägt er bei jedem Schritt wuchtig auf das Pflaster. Ein paar
Buben mit
Schulranzen laufen ihm nach und rufen: Nazi! . . .
Nazi
hat das Odium des Alsergrunder Typentums auf seine hageren Schultern
genommen.
Er trägt seinen Namen wie ein unerbittliches Verhängnis . . .
Kaspar
Feitel
Zu
einem großen Durchhaus »Am Hof« steht Kaspar Feitel seit Jahr und Tag.
Ein
blinder Musikant. In der Linken die Geige, in der Rechten den Bogen,
zwischen
den Lippen die Mundharmonika. Er geigt und bläst: Droben, wo die Sterne
stehn . . .
Kaspar
Feitel hat die Sterne nie gesehen. Er ist ein blind Geborener. Aus dem
Nordböhmischen ist er vor langen Jahren mit seinem Vater nach Wien
gekommen.
Der
Vater hatte ein Puppentheater. Damit fuhr er durch ganz Mähren,
Schlesien, die
ungarische Slowakei: Es war eine schöne Zeit. Kaspar spielte, die
»Kasperln«
trieben Schabernack. Man verdiente viel.
Eines
Tages fuhren sie mit ihren zwei Wagen über eine Landstraße. Sie kamen
an eine
Eisenbahnrampe. Im ersten Wagen saß Kaspars Vater mit seinen Puppen.
Plötzlich
brauste ein Zug heran. Der Vater wurde aus dem
Wagenherausge-schleudert,
jämmerlich zerquetscht. Die schönen Puppen waren alle hin. Das junge
Frauenzimmer, das im Puppentheater als Kassiererin angestellt war,
wurde Kaspar
Feitels Frau. Früher arbeitete sie in einer Dampfwäscherei. Jetzt ist
sie zu
alt. Ja, wenn sie auch ein Instrument spielen könnte! Aber sie kann nun
einmal
nichts.
Kaspar
Feitel hat nicht viel. Seine Frau bringt ihm eine Suppe mit
Haferreiskörnern in
einem irdenen Topf. Feitel zieht einen Blechlöffel aus einer
Rocktasche. Früher
einmal konnte man vom Bäcker in der Willingerstraße zwei schöne Semmeln
umsonst
bekommen, erzählt Frau Feitel. Jetzt nicht einmal eine Brotrinde.
Kaspar Feitel
hungert bisweilen.
Einmal,
es ist gar nicht so lange her, hätte Kaspar fast sein Glück gemacht. Er
hörte
die Leute vorbeigehen. Plötzlich fiel etwas auf das Pflaster. Es klang
wie das
Aufklatschen einer Brieftasche. Kaspar Feitel hörte zu spielen auf. Er
lauschte
angestrengt. Leute gingen vorbei. Hatte einer schon die Brieftasche
aufgehoben?
Da
tritt ein Wachmann auf ihn zu. »Segn's«, sagt er, »da liegt vor Ihna a
Brieftasch' mit zweitausend Kronln!« »Ich bin ja blind«, entschuldigte
sich
Kaspar Feitel. Ich gebe ihm eine Krone und sage adieu!
Kaspar
nickt nur und spielt: Droben, wo die Sterne stehn . . .
Der
Neue Tag, 19. 5. 1919
zurück
Die
Weißgeldwechselstube
Mißtrauen
steht an der Schwelle und empfängt dich: Du kannst ein Spitzel sein,
ein
Konfident, ein Zuträger, ein Spion. Ein Fremder bist du jedenfalls: Du
hast
einen reinen Kragen an, und dein Benehmen riecht verdächtig nach
Mitteleuropa.
Deine Hände fuchteln nicht durch die Luft, deine Augen zwinkern nicht
listig,
erkokettieren kein Geschäftchen, deine Brusttasche ist normal an deinen
Busen geheftet
und steht keine
Viertelmeile von der Hülle deines Ich ab. Du hast nichts Verhetztes an
dir,
nichts Polizeiwidriges, nichts Wildmäßiges, nichts Schlaues.
Vor
dem Auge des Gesetzes zuckst du mit keiner Wimper, und keiner deiner
Finger
rührt sich, ein Hintertür! zu öffnen. Was willst du also, Anständiger,
gesetzlich Geschützter und Gesetze Schützender unter gesetzlich
Schutzlosen und
dem Schutz der Gesetze Entronnenen? Was suchst du, Geachteter, unter
den
Geächteten? Du Vollwertiger unter Minderwertigen? Du Gewaschener unter
Schmutzigen? Kulturmensch in Kulturlosigkeit? Du Gewissenhafter im
Reiche der Gewissenlosigkeit?
Du mit Skrupeln Behafteter im Bezirke der nachkriegerischen
Moralinfanity?
Siehst du: Du bist ein Fremder, und deshalb steht das Mißtrauen an der
Schwelle
des kleinen Kaffeehauses in der Bankgasse und empfängt dich . . .
Ich
weiß eine Zeit, da war dieses Kaffeehaus noch ein harmloses
»Tschecherl«, und
seine armselige Existenz bestritt es von dem Erfrischungsbedürfnis der
Diener
der ungarischen Gesandtschaft. Es erweckte den Anschein, als wäre es
eigens für
die Zwecke der Gesandtschaft eingerichtet und zu nichts anderem fähig,
als dem
Neuigkeitsbedürfnis der Unterbeamten mittels Zeitungen und dem
zeitweiligen
Durste der Stammgäste und Likörstamperln entgegenzukommen. Freilich!
Damals kannte
die Zeit noch kein Weißgeld, sondern gute österreichisch-ungarische
Währung,
und die Gesandtschaft in der Bankgasse hatte von dem gemeinsamen
Oberhaupte der
Monarchie noch nicht die Berechtigung erhalten, durch die Kanäle Wiens
den
Kommunismus in die Banken einzuführen. Die Gesandtschaft wollte mehr
repräsentieren als zweifelhafte Präsente machen, sie hatte keine Pässe
zu
vidieren, sondern den Dualismus, und ihr Wirkungskreis war noch
beschränkter
als der Horizont ihrer heutigen Überwacher. Damals war das Kaffeehaus
in der Nähe
ein beliebter naher Ausflugsort für Hintertürsteher und -öffner, und
manches
harmlose, ganz harmlose kleine Geschäftchen wickelte sich zur
allgemeinen
Zufriedenheit der beteiligten vier Augen und der unbeteiligten zwei des
Kaffeesieders ab. Aber heute! . . .
Wie
gesagt: Das Mißtrauen steht schon an der Schwelle und empfängt dich:
»Suchen
Sie wen?« Nein, ich suche niemanden, aber ich hüte mich, es zuzugeben.
Natürlich suche ich jemanden. »Haben Sie >weißes<?« »Kaufen Sie
>weißes<?« Der Spekulationsgeist verachtet auch die Erfindungen
Bela Kuns
nicht und handelt selbst noch mit den Fabrikaten der Hölle. Hier in der
Wechselstube in der Bankgasse gibt es wahrhaftig noch Menschen, die
Weißgeld
kaufen. Ohne Drohungen, ohne Gewaltanwendung, ohne Ukas der
Räteregierung. Ihr
alle Weißgeldbeladenen, aus Ungarn
Kommenden, verzweifelt nicht! Einen blauen Lappen für zehn Kilogramm.
Weißpapier kriegt Ihr immer noch! Ihr könnt Euer Weißgeld loswerden,
vollkommen
loswerden, leichter als jene, die Euch damit begnadet! Oh, gäbe es doch
auch
eine Wechselstube in der Bankgasse, in der man Volksbeglückungsideen
eintauschen könnte gegen Nahrungsmittel und zehn Kilogramm Kun gegen
ein
Milligramm Vernunft! . . .
In
dem »Tschecherl« sitzen: Slowakische Bäuerinnen mit bunten, ockergelben
Blumentüchern; russische Vaganten mit schwarzen hochgeschlossenen
Hemden und
wilder Anarchie in struppigem Haupthaar; kleine Schieber mit
blaukarierten Hemdkrägen
und großen Glaskugeln in giftgrünen Krawatten; polnische Juden mit
Geschäftsgeist in Augenwinkeln und seidenen Kaftans; ungarische Bauern
mit
jenem Ausdruck namenloser Stierheit, die menschliche Wesen unbedingt
erlangen
müssen, wenn sie zehn Jahr lang Paprika fressen und plötzlich keinen
Schnaps
trinken dürfen; Hausierer mit Briefpapier, in dem Blaugeld steckt;
Agenten und
Spekulanten; Agitatoren
und Makler; kleinere Waffenstillstandsgewinner, die auf einen Krieg
hoffen und
darauf, nicht ihn, sondern durch ihn zu gewinnen; verzweifelte
Kunsegenbeladene, die um einen blauen Pappenstiel ihr hart erworbenes
Weißgeld
herzugeben bereit sind.
Das
sind die Besucher. Hie und da, wie zur Entschuldigung vor dem
draußen-stehenden
Wachmann, zeigen sich die Umrisse einer Kellnerin, die eine in einem
Glase
»Soda-Himbeer« schwimmende spanische Fliege an einem beliebigen Tisch
serviert.
An der Wand hängt eine Nummer des »Faun«, die noch vor dem Kriege
entstanden,
hier Muße findet, sich zu überleben. Ein »Neues Wiener Journal«, das
mindestens
acht Monate alt und noch so naiv ist, vom »Endsieg« wissen zu wollen,
dient
dazu, Weißgeld und Blaugeld unberufenen Augen zu entziehen.
Das
Klosett und die Telephonzelle erfreuen sich des lebhaftesten
Zuspruches. Im
ersteren werden Geschäfte geheimer abgewickelt als in diplomatischen
Salons,
und die Telephonzelle dürfte die einzige in ganz Deutschösterreich
sein, in der
Verbindungen glatt und ohne Hindernisse hergestellt werden. Ein
Handtuch, das
in der Nähe der Kassa ein ebenso schmutziges wie nutzloses Dasein nicht
führt,
sondern geradezu hängt, gibt Zeugnis davon, daß hier Hände nicht häufig
in
Unschuld gebadet
werden. Im Dunst und Staub lebt eine Küche in sorgloser Vergessenheit,
und ein
halbzerbrochener, mühsam gekitteter Topf bildet eine kostbare
Reminiszenz . . .
Aus
all dem quirlt der Geist des Kommunismus und des Handelns, sprudelt die
Geldgier und frohlockt der Betrug. Hier ist der Ort, an dem der
Gegensatz der
Rassen und Nationen verschwindet. Hier kann es sein, daß eine
slowakische
Bäuerin einem polnischen Juden um den Hals fällt. Daß ein Rotgardist
einen
Wucherer ans Herz drückt. Wer an der Menschheit verzweifelt, gehe in
das
»Tschecherl« in der Bankgasse und richte sich auf. Wenn die
Internationale des
proletarischen Gedankens
versagt, wenn die Internationale des Geistes in Ohnmacht liegt - nun,
es lebt
immer noch die Internationale des Weißgeldes und der Spekulation! . . .
Der
Neue Tag, 18.7. 1919
zurück
Bruck
und Kiralyhida
Bruck-Kiralyhida
hatte einmal einen Bindestrich. Da kam der Umsturz, löschte den
Bindestrich
weg, und damit war die Doppelmonarchie kaputtgegangen. Wäre der
Bindestrich
geblieben, so hätten wir vielleicht heute noch den Dualismus.
Der
Bindestrich war in Wirklichkeit eine Brücke, die, über die Leitha
geschlagen,
Diesseits und Jenseits miteinander verband. Der Verkehr über die Brücke
war ein
vollkommen unbehinderter. Diesseits sprachen die Leute Deutsch und
Ungarisch,
jenseits sprachen sie Ungarisch und Deutsch. Diesseits prunkten sie
schwarz-gelb, jenseits schillerten sie in grün-weiß-rot. Diesseits
fühlten sie
kaiserlich, jenseits kiraly.
Das
waren die Unterschiede. Sonst gab es nur sehr geringe, kaum
wahrnehmbare. Hier
wie dort waren die Kinder blond, braun oder schwarz, aber immer
schmutzig. Hier
wie dort waren die Geschäftsleute klug, praktisch und nüchtern. Hier
wie dort
konnte man das Geld auf ebenso leichte wie schmerzlose Art loswerden.
Und man wurde
es los. In der ganzen Monarchie nicht leichter als in Bruck Kiralyhida.
Während
des Kriegs gab es in Bruck eine Strafanstalt, die sich
»Offiziersschule« nannte
und die Aufgabe hatte, aus Einjährigen »mit Knopf« privilegierte
Häftlinge mit
Anspruch auf Gage und Fähnrichsportepee zu machen. Täglich marschierten
die
Zöglinge dieser Anstalt über die Brücke. Damals bedeutete die Brücke
noch jenen
Ort, wo sich Österreicher und Ungarn Schulter an Schulter berührten, um
so für das
offizielle gemeinsame Vaterland zu kämpfen und zu sterben. Die einen
für den
Kaiser, die anderen für den König. Damals waren beide einer. Jetzt ist
eines
zwei. Der Bindestrich ist weg! . . .
Nein!
Wenn man eigentlich genauer hinsieht, ist der Bindestrich noch da. Er
heißt nur
anders. Er ist ein Scheidestrich geworden. Statt zu binden, trennt er.
Um es
mit einem Wort zu sagen: Es ist eine Grenze.
Der
Bindestrich ist besetzt. Diesseits von deutschösterreichischen
Gendarmen,
jenseits von Rotgardisten. Unheimliches Gefühl, so in der Nähe der
Brücke zu
stehen. Der Herzschlag setzt für eine Sekunde aus. Das Ende der Welt.
Anfang
des Chaos. Grenze der Vernunft. Oder der Unvernunft? . . .
Der
Grenzverkehr ist lebhaft. Man tauscht Geld, Waren, Ideen aus. Um einen
billigen
Ausgleich herzustellen, hat die deutschösterreichische Regierung
genauso viele
Polizeiagenten hergeschickt wie die ungarische Agitatoren. Man verträgt
sich
ausgezeichnet und verkehrt in denselben öffentlichen Lokalen. Um
einander
besser beobachten zu können, spielt man miteinander eine Partie
Billard.
Es
gibt allerdings auch Bourgeois. Ungarische Kapitalisten. Nur sie sind
von den
Agitatoren schwer zu unterscheiden. Sie sind genauso elegant, sprechen
genauso
Ungarisch, haben Brieftaschen von gleichem Umfang und gleichem
Kubikinhalt. Sie
trauen sich nur nicht über die Grenze und warten auf den Sturz der
Kun-Diktatur
in Ungarn. Die Agitatoren warten auf die Proletarierdiktatur in
Deutschösterreich.
Das
ist der ganze Unterschied . . .
Auch
die Entente ist vertreten. Durch vier Engländer. Unteroffiziere mit 100
Kronen
täglich Gehalt. Nur einer spricht Deutsch. Deshalb sind die vier den
ganzen Tag
beisammen. Sie essen die gleichen Speisen, trinken die gleichen
Getränke,
kaufen die gleichen Waren. Deshalb eben, weil nur der eine Deutsch
spricht.
Diesem fügen sich die anderen. Denn es ist unbequem und unenglisch,
viel zu
sprechen und zu
gestikulieren. Das besorgen die Ungarn desto ausgiebiger. Diese
sprechen alle
Deutsch.
Wenn
man sich nicht in acht nimmt, kriegt man in Kaufläden, Kaffeehäusern,
Hotels
usw. eine Zwanzigkronennote in lauter Zweikronennoten gewechselt, deren
Seriennummern alle mit einer Sieben beginnen.
Es
ist eine böse Sieben. Das Geld ist Kun-Geld, also wertlos. Man tut am
besten,
es einem ahnungslosen, aus dem Innern Deutschösterreichs kommenden
Reisenden
als Trinkgeld anzuhängen.
Wie
gesagt, es ist etwas beängstigend in Bruck. Denn man teilt hier die
Menschen in
zwei Kategorien: in solche, die einen blaukarierten, und in solche, die
einen
weißen Hemdkragen haben. Die ersteren sind Polizeispitzel, die
letzteren
kommunistische Agitatoren. Die einheimischen Männer tragen überhaupt
keinen
Hemdkragen. So wird man als Fremder mißtrauisch betrachtet. Entweder
man ist
Spitzel oder Agitator, oder man entschließt sich, ohne Hemdkragen zu
gehen.
Dann wird man vom erstbesten Gendarmen verhaftet und ist aller Sorge
enthoben.
Seltsame
Stadt! Als ich mich in der Nacht in dem zu kurzen Bett anständig
ausstrecken
wollte, träumte ich, daß ich mit der Nase an den Bindestrich anstoße,
just
dort, wo er von Rotgardisten besetzt ist. Ich roch Bela Kun, erwachte
schweißtriefend und konnte nicht mehr schlafen.
Nie
mehr gehe ich nach Bruck an der Leitha. Seitdem es nicht mehr
Bruck-Kiralyhida
heißt, ist es ungemütlich. Und das nur wegen des Bindestrichs.
Es
ist schade um den Bindestrich . . .
Josephus
Der
Neue Tag, 20.7. 1919
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