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Literatur


04.3


Joseph Roth - Werke 1

Das journalistische Werk
1919






Die Toten vom Stephansplatz

Wer hätte geahnt, daß man in dieser gemütlichen Stadt über Leichen gehen könne? Kaum fünfzig Zentimeter unter dem Holzpflaster liegen Kiefer, Schädeldecken, Wirbelknochen. Oben ist ein Standplatz für Autos und Einspänner. Fünfzig Zentimeter darunter modern die Gebeine der Ahnen, oben klingt das hochdeutsch-kultivierte Duliöh der Frequentanten des »Nachtfalters«. Sie wissen nicht, daß ihr Gesang über einen gepflasterten Friedhof weht . . .
 
Die sonderbarsten Dinge geschehen in dieser Stadt: Man reißt ein Pflaster auf und feiert ein Wiedersehen mit seinen Ahnen. Ein paar vergrabene Pfund Gold hätten uns wahrlich mehr genützt. So haben wir Gelegenheit, unser historisches, paläontologisches, anatomisches Wissen zu bereichern. Kein Wiener läßt sich diese Gelegenheit entgehen. Sie kommen in Scharen: Fiakerkutscher, Autotaxichauffeure, Hotelportiers, Herren mit Privatgelehrtenhabitus und Schulkinder. Ein Herr mit Schlapphut und einer überdimensionalen Botanisiertrommel klaubt im Schweiße seines Angesichts die Zähne seines Urgroßvaters zusammen und hält hierauf, von der Schar begeisterter Zuseher umdrängt, einen schon aber sehr freien Vortrag über Vindobona, die römische Gründung. Schon in den Römerzeiten sei hier ein Friedhofgewesen. Schauer rieselt durchs Gebein: Wie, wenn jener Unterkiefer gar nicht der des Schwiegervaters meiner Urgroßmutter ist, sondern einem biederen römischen Legionssoldaten gehört? . .
 
Die Pflasterer allein haben nicht die geringste Pietät gegenüber diesen wertvollen Funden. Was wollen diese Knochen hier? Sie stören nur. Überreste eines vergangenen Geschlechts, was hindert ihr da magi strati ich anbefohlenen Fortschritt der Zivilisation? Wozu die Mahnung an eine alte Vergangenheit, da Wien im Begriffe ist, einer neuen anheimzufallen? . . .
 
Oder ist es eine andere Mahnung? Mir scheint: Da die Lebenden sterben, erwachen die Toten. Bei der Belagerung Wiens durch die Türken - erzählt ein Herr, der es wissen muß - hätte man keine Zeit gehabt, die Leichen vorschriftsmäßig zu begraben, sondern hätte sie nur verscharrt.
Das also wären die Gebeine jener Kämpfer. Bei der Veranstaltung einer wienerischen Kulturtat melden sich die alten Verteidiger der Stadt. Man sollte die Gebeine fein fürsorglich zusammentragen und ein Mausoleum errichten.
 
Jedenfalls kann jeder, der sich die Mühe nimmt, in Alt-Wiener Chroniken
nachzulesen, erfahren, daß der Wiener »Stefans-Freydhoff« noch vor 100 Jahren bestanden hat. Sooft der Stephansplatz eine Umpflasterung erlebte, wurden Knochen gefunden.
 
Josephus
Der Neue Tag, 31. 7. 1919

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Von Hunden und Menschen

 
Zu den vielen Straßenbildern des Wiener Kriegselends hat sich seit einigen Tagen ein neues gesellt: Ein vom Krieg zum rechteckigen Winkel konstruierter Mensch Invalide mit Rückgratbruch - bewegt sich auf eine fast unerklärliche Weise durch die Kärntnerstraße und kolportiert Zeitungen. Auf seinem mit dem Trottoir eine Horizontale bildenden gebrochenen Rücken sitzt ein  Hund.
 
Ein wohldressierter, kluger Hund, der auf seinem eigenen Herrn reitet und aufpaßt, daß diesem keine Zeitung wegkommt. Ein modernes Fabelwesen: eine Kombination von Hund und Mensch, vom Kriege ersonnen und vom Invalidenjammer in die Welt der Kärtnerstraße gesetzt.
 
Ein Zeichen der neuen Zeit, in der Hunde auf Menschen reiten, um diese vor Menschen zu bewachen. Eine Reminiszenz an jene große Zeit, da Menschen wie Hunde dressiert und in einer sympathischen Begriffskombination als »Schweinehunde«, »Sch ... hunde« usw. von jenen benannt wurden, die selbst Bluthunde waren und so nicht genannt werden durften.
 
Eine Folge des Patriotismus, der die aufrechten Ebenbilder Gottes abhängig machte von vierfüßigen Geschöpfen, die niemals den Seelenaufschwung besaßen, Heldentum und Kanonenfutterage zu bilden, und höchstens zur Sanität assentiert werden durften. An der Brust des Invaliden baumelt ein Karl-Truppenkreuz. Am Halse des Hundes hängt eine Marke.
 
Jener mit dem Karl-Truppenkreuz ist ein Leidender. Dieser mit der Marke ein Tätiger. Er bewacht das Leid des Invaliden. Er bewahrt ihn vor Schaden. Das Vaterland und die Mitmenschen konnten ihm nur Schaden zufügen. Diesen hat er es zu verdanken, daß jener ihn bewacht. Oh, Zeichen der Zeit! Ehemals gab es Schäferhunde, die Schafherden, Kettenhunde, die Häuser bewachten. Heute gibt es Menschenhunde, die Invalide bewachen müssen, Menschenhunde als Folgeerscheinung der Hundemenschen. Wie eine Vision wirkte auf mich dieses Bild:
 
Ein Hund sitzt auf einem Menschen. Ein Mensch ist froh, von diesem Hunde abhängig sein zu können, da er sich erinnert, wie er von anderen abhängig sein mußte. Gibt es Traurigeres als diesen Anblick, der ein Symbol der Menschheit zu sein scheint? Ringsum lustwandelt der Kriegsgewinn mit der Telepathie, und in der Mitte ein berittener Hund! Inferiorität der menschlichen Rasse, Superiorität der tierischen.
 
Wir haben es herrlich weit gebracht durch diesen Krieg, in dem die Kavallerie abgeschafft wurde, damit Hunde auf Menschen reiten können! . . .
 
Josephus
Der Neue Tag, 1. 8. 1919

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Das Märchen vom Sophiensaal

Märchen ereignen sich mitten im Getriebe des Werktags der grauen Nüchternheit der simplen Ereignisse. Die Geschichte des Sophiensaals könnte auch ganz gut wie ein Märchen beginnen: Es war einmal . . .
 
Also: Es war einmal ein Festsaal, der war wie ein Gedicht oder, noch besser, der Saal der Säle, der Hohefestsaal. Er strahlte im tausendfältigen Glanze der Lichter, und auf seinen Parkettböden wirbelten die zartesten weißen Halbstiefelchen an zartesten weißen Damenfüßchen.
 
Es gab keinen vornehmen Ball, der nicht in jenem herrlichsten aller Säle stattgefunden hätte, und Prinzen und Fürsten und sonstige Märchen- oder Kinodramenpersönlichkeiten waren seine gewohnten Besucher. Und was das Märchenhafteste war: Dieser Festsaal war eigentlich gar kein Festsaal. Nein! Er war- eine Badeanstalt. Eine zwar nicht ganz einfache, aber immerhin: eine Badeanstalt. Natürlich nur im nüchternen Schein des sommerlichen Alltags. Alljährlich aber kam Prinz Karneval dahergeritten, klopfte mit seinem Glockenstäbchen dreimal an das Tor der Sophiensäle, und plötzlich trocknete das Bassin vollkommen aus, wie seinerzeit das selige Rote Meer, und siehe da:
 
Am Grunde des vertrockneten Sees leuchteten und lockten die bestgewichsten Parkettböden. Da ward aus der Badeanstalt plötzlich ein Ballpalast. Die vornehmsten Wiener Bälle wurden dort veranstaltet.
 
Das allerfeinste Publikum - es war noch zu jener Zeit, da es ein feines Publikum gab - bewegte sich in seinen Räumen mit gemessener Grazie und stilvoller Eleganz.
 
Aber einen Schmerz noch konnte der Ballpalast nicht verwinden: Da gab es einen alten Kaiser namens Franz Joseph, dessen Höflinge behaupteten, der Sophiensaal, der herrlichste aller Ballsäle, der Hohefestsaal, das Gedicht von einem Festsaal, besäße nicht die genügende »Feuersicherheit«. Denn Hofmenschen sind böse Leute und trockene Patrone und haben nichts anderes zu tun, als bei einem Ballpalast nach - Feuersicherheit zu fragen. Also ließen sie den alten Kaiser nicht hingehen, und der Sophiensaal war sehr traurig über seine Hofunfähigkeit. . .
 
Dennoch geschah einmal ein Wunder, und der alte Kaiser kam. Es geschah aus Anlaß der dritten internationalen Kochkunstausstellung. Da war der gute Sophiensaal getröstet und feierte wieder seine heiteren Feste.
 
Aber da nun einmal das Glück alles Schönen und Guten auf Erden nicht vollkommen sein kann, mußte es sich der Sophiensaal gefallen lassen, daß sich just in seinen Räumen eine tragikomische Geschichte ereignete:
 
Franz Joseph war wieder einmal in den Sophiensaal gekommen, zu einem Fest, das kaufmännische Kreise veranstaltet hatten. Ein Herr vom Komitee hatte die ebenso ehrenvolle wie schwierige Aufgabe, die Anwesenden dem Kaiser vorzustellen. Der gute Mann entledigte sich seiner Arbeit mit so viel Anstand, daß er einem Anstand nicht entgehen konnte. Er stellte nämlich der Reihe nach alle Persönlichkeiten folgendermaßen vor: »Herr Damian Zipfl - Se. Majestät, der Kaiser; HerrMoritz Kohl- Se. Majestät, der Kaiser; Herr Valentin Täuberich - Se. Majestät, der Kaiser« und so fort in nicht enden wollender Folge. Aber selbst ein Kaiser kann ungeduldig werden, und da Franz Joseph zu jener Zeit noch ein gut Stück Humor gehabt haben dürfte, ließ sich die so oft wiedergekaute Majestät etwa folgendermaßen vernehmen:
 
„Es wird schon genug sein! Nennen Sie mir nur die Herren. Ich glaube, mich dürften doch die meisten schon kennen . . . «
 
Solche und ähnliche Geschichten erlebte der Sophiensaal in reicher Folge. Bis plötzlich die böse Konkurrenz des Konzerthaussaales auftauchte und den Glanz der Sophiensäle um ein Beträchtliches herabminderte.
 
Da nun aber gar der Krieg ins Land zog, da war es mit aller Pracht vorbei: Der Sophiensaal wurde ein simples Rekonvaleszentenheim. In seinen Räumen roch es nach Kampfer und Jodoform, und statt der Walzerklänge flatterten irre Seufzer kranker Menschen durch alle Winkel des Palastes . . .
 
Nun meldet ein trockener Aktiengesellschaftsbericht: Bei der am 30. v. M. abgehaltenen 78. Generalversammlung unter dem Vorsitze des Präsidenten Oberbaurates Ferdinand Dehm waren 479 Aktien und 95 Stimmen vertreten. Das Objekt wird im Herbst dieses Jahres seiner alten Bestimmung zugeführt. Der Verlust von 49971 Kronen 47 Heller wird auf neue Rechnung vorgetragen.
 
Also schließt das Märchen vom Sophiensaal mit einem schönen Ausblick. Man könnte ganz gut enden: Es wird einmal . . .

Josephus
Der Neue Tag, 3.8. 1919

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