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04.3
Joseph Roth - Werke 1
Das
journalistische Werk
1920
Das
Antlitz der Zeit
In
der Kirche des heiligen Johannes, Pfarrkirche des zehnten Bezirkes,
hielt
Prediger Pater Hamerle an einem der letzten Dezembertage des Jahres
1883 eine sehr schöne Stegreifpredigt. Er sprach von den Gegensätzen
zwischen
Reich und Arm und meinte, daß der Schweiß, der an
der Hand des armen Mannes klebt, besser und gottgefälliger sei als der
Ring am Finger des Reichen. Er zitierte Abraham a Santa Clara und
Schiller, die ebenfalls die Armut preisen. Und zum Schlusse wünschte
der Pater seinen Pfarrkindern ein glückliches neues Jahr und vergaß
nicht, sie zum Gehorsam gegenüber der kirchlichen und staatlichen
Ordnung
aufzurufen.
Der
Taglöhner Eduard Ocholsky und der Schneidergehilfe Wenzel Groulig
machten hierauf Krawall. Ihnen gefiel die Predigt nicht. Schiller und
Abraham a Santa Clara imponierten ihnen wenig. Sie wollten lieber
den Ring vom Finger des Reichen an ihren eigenen Fingern sehen als
den Schweiß. Es entstand ein Lärm in der Kirche. Fromme Pfarrkinder
stürzten sich auf die beiden und auf andere Ruhestörer, die
mitkrawallisierten,
und nahmen sie fest. Die Ketzer wurden der Polizei übergeben.
Und - 0 Schrecken! - im Besitze eines der Verhafteten wurden
sozialrevolutionäre Druckschriften vorgefunden.
Am
Dinstag, den ersten Jänner des Jahres 1884 (man schrieb noch »Dinstag«
ohne »e«) fühlten sich die Leitartikler jener Zeit verpflichtet,dem
Publikum mit mehr oder weniger frommen Stegreifpredigten zu
kommen. Die Leitartikel begannen in der Regel: »Wir stehen an der
Schwelle
eines neuen Jahres.« Von dieser Stelle aus wurde über das alte Jahr
des langen und noch mehr des breiten gesprochen. Über die Schwelle
stieg man erst am dritten Jänner. Und schrieb von Hofempfängen, vom
beginnenden Fasching, von Offiziersqualifikationslisten, von
der Witterung - die damals noch nicht »Wetter« hieß - und von
allem jenem, über das man, an der Schwelle des nächst-neuen Jahres
stehend,
wieder schreiben konnte.
An
diesem ersten Jänner aber pochte der Leitartikler nicht an die Pforten
des
neuen Jahres, sondern blickte auf den Zipfel des alten zurück.
Der
Leitartikel begann nicht: »Wir stehen an der Schwelle eines neuen
Jahres«,
sondern: »Mit einem wüsten Kirchentumult innerhalb der Marken
der Haupt- und Residenzstadt schloß das alte Jahr.« Und dann:
»Man sieht bereits die sozialistische Bewegung in die Kirchen
eindringen
und die Freiheit der Kanzeln bedrohen. So weit ist es indessen nicht
gekommen, wenn man auch schwerlich den Verdacht niederkämpfen
wird, daß die Urheber der peinlichen Szenen jenen Elementen angehören,
die aus Unklarheit über ihre Ziele sich Sozialisten nennen.«
»Aus
der Wolke des Sozialismus ist der Steinregen in die Johanneskirche
niedergefallen«,
schreibt der Leitartikel poetisch. Und gibt sich redliche
Mühe, die Entstehungsursache der Wolke des Sozialismus zu erklären:
»Unter den heutigen Verhältnissen wollen die Massen selbst den
Trost nicht, der ja immerhin ihr Schicksal erträglicher machen und der,
wenn auch mit demselben (»derselbe« war ein beliebtes Pronomen) sie
nicht aussöhnen, so doch gewiß ihnen dienlich sein kann, es leichter
zu ertragen.«
Ungeachtet
des Steinregens aus der Wolke des Sozialismus ging - nein! verfügte
sich - der Kaiser zum Photographen, zum Hof-Photographen Angerer,
und ließ sich um 1 Uhr mittags in mehreren Stellungen photographieren.
Der Erzherzog Johann war inzwischen in der Franz Joseph-Kaserne,
wo er den Kronprinzen erwartete. »Derselbe« verfügte sich
ins Divisionsbüro. Gegen 1 Uhr verließ die Wache mit klingendem Spiel
den Exerzierplatz. »Daselbst« war Se. Exellenz, der Minister
des Äußeren, Graf Kalnoky anwesend.
Aus
dem Spiegel des Leitartikels lächelt das geschminkte, frisierte,
stilisierte Antlitz
der Zeit entgegen. Es gab sich vornehm. Ereignisse, die geeignet
gewesen wären, Runzeln und Furchen um seine Augenwinkel zu
zeichnen, wurden von höfischen Federn weggewischt. Man schrieb
sozusagen
geistige Rondeschrift. Den eckigen Ereignissen hobelte man die
Spitzen ab und polierte sie rund. Man verlieh der Geschichte den
persönlichen
Adel und machte sie hoffähig. Aber dem Leben, das Überraschungen
liebt, gelang es von Zeit zu Zeit, ein ungezogenes, schmutziges
Ereignis zu gebären. Bei einem der Verhafteten findet man
plötzlich sozialrevolutionäre Druckschriften. Flugs wird das
Neugeborene
gebadet, gepudert. Sozialrevolutionäre Druckschriften?
Ach
was! Sie stammen einfach von »jenen Elementen, die aus Unklarheit über
ihre Ziele sich Sozialisten nennen«.
An
der Spitze des Tages marschierten die Berichte vom Hof. Mit der
Morgenröte
ging die Hoheit auf. Daselbst. Höchstdaselbst. Nicht »hier«.
Nicht »dort«. Die Lokalhistorie trippelte auf zierlichen Ballschuhen
mit
ellenhohen Stöckeln aus hinweisenden Fürwörtern. Die Zeit
ging dementsprechend nicht, lief nicht, sondern verfügte sich. Ein
armseliger
Tröpfelregen schlug ein schimmerndes Pfauenrad, warf sich mit
michelangelesker Geste einen Umlaut um, spannte sich ein »Ung« vor
und war eine »Witterung«. Ruhestörer, landesverwiesene Ausländer und
andere Abweichungen waren in jener Zeit der Typen - »Individuen«. »Im
Laufe des
vorigen Monats wurden 42 Ausländer weggewiesen, und
zwar: je zwei Individuen nach den Niederlanden und der Schweiz,
ein Individuum nach Italien --« Perücken aus Suffixen umrahmten das
Antlitz der Zeit. Ihre Haare kräuselten sich in rosagetünchten
Satzfloskeln.
Ein goldener Schnörkel umrahmte ihr Lorgnon.
Sie
wollte nicht zugeben, die Zeit, daß sie Zeit war. Am liebsten hätte sie
sich »Hof-Zeitung« genannt. Sozialisten waren zwar keine Individuen,
aber
immerhin »Elemente«. Eine Revolte schämte sich ihres Wesens und
nannte sich lieber »Exzeß«. Und alles, alles, über Individuen,
Elemente,
Exzesse, schrieb der Leitartikel weich und zart wie mit einer
Flaumfeder,
nachdem sich derselbe an die Schwelle des neuen Jahres verfügt
hatte.
Wie
ist das Antlitz der Gegenwart zerfurcht, durchpflügt, zerrissen!
Wo
sind Puder und Schminke? Verfügt sie sich noch? Oh, sie eilt auf
Sohlenschonern.
Ihre Phrasen sind nicht glättend, sondern schneidend.
Das
Antlitz der Zeit ist zernichtet. Das Leben ist zerlebt.
Häßlich
ist sie, die Zeit. Aber wahr. Sie läßt sich nicht malen, sondern
photographieren.
Ob sie wahr ist, weil sie häßlich ist? Oder häßlich, weil
wahr?
Josephus
Der
Neue Tag, 1. 1. 1920
zurück
Petro Fedorek
Er
war ein Bauer. Irgendwo in Galizien hatte er eine strohdachgedeckte
Hütte, eine
Kuh, ein Schwein, eine Frau und ein Kind. Die Kuh trieb er auf die
Weide, das
Schwein hielt er in seiner »Chalupa«, die Frau prügelte er, und um das
Kind
kümmerte er sich nicht. Er war ein armer Bauer.
Die
Agenten, jüdische Agenten von
»Austro-Americana« und »L!oyd«, kamen ins Dorf und erzählten von
Kanada. In
Kanada, dachte Petro Fedorak, kann man Gold finden. Man gräbt mit einer
Schaufel, so tief etwa, wie man nach Kartoffelwurzeln gräbt, und
plötzlich
klirrt das Eisen. Man gräbt nicht tiefer. Man ist auf Gold gestoßen.
Hat man
einmal so einen Klumpen Gold gefunden, so nimmt man ihn mit in die
Stadt, kriegt
tausend Gulden dafür oder gar noch mehr und fährt nach Haus.
Kauft
noch zehn Joch Feld, gibt
dem Pfarrer für die neue Kirche zehn Gulden, bringt seiner Marynka ein
gelbes
Kopftüchel mit roten Mohnblumen und ist ein reicher Bauer.
Petro
Fedorak verkaufte einem
jüdischen Hausierer zwei Pölster, gute daunen gefüllte Pölster, in
denen man
selig schlief wie in Jesu Schoß, und löste eine Karte nach Kanada.
Von
seinem Staunen darüber, daß
man in Kanada, so tief man auch grub, kein Gold finden konnte, will ich
gar
nicht erzählen. Petro Fedorak gewöhnte sich mit der Zeit das Staunen
vollkommen
ab. Er arbeitete. Irgendwo in einer Fabrik. Und sparte. Und schickte
Geld nach
Haus. Und schrieb Briefe. Eigentlich schrieb er nicht, sondern
diktierte. Und
da er nicht lesen konnte, was die anderen schrieben, mißtraute er
ihnen. Und er
ging von einem zum anderen und ließ sich die Briefe noch einmal und
noch
einmal vorlesen. Und wenn
sie schon ganz schmutzig waren, sah er sie selbst noch einmal an - er
hielt sie
immer verkehrt-, ließ dann eine dicke Träne auf das Papier fallen,
strich mit
der Hand darüber, daß sich die Tinte verwischte, und schickte den Brief
ab.
Er
ersparte sich ein kleines
Sümmchen. Als er hörte, daß der Krieg vorbei sei
und das kanadische Geld einen
so gewaltigen Wert habe, löste er eine Karte
und fuhr heim.
Und
kam nach Wien, Wien, einer
großen Stadt. Es hatte lange gedauert, bis er hierhergekommen war. Aber
er
hatte sich gedacht: Wie gut! Besser, lange zu fahren, als überhaupt
nicht. Und
wäre ich nicht in Kanada gewesen, so läge ich jetzt in den Karpaten.
Also,
gelobt sei Jesus Christus,
ich bin in Wien!
Er
kam auf den Nordbahnhof. Es
ging zwar kein Zug! Aber Petro Fedorak dachte: Vom Nordbahnhof ist es
näher
nach Hause als vom Hotel.
Und
er beschloß zu warten, bis
ein Zug gehen würde.
Aber
da traf ihn der Schlag.
Petro Fedorak starb gestern im Nordbahnhof am Herzschlag.
Es
kann vielleicht übergroßes
Heimweh gewesen sein. Es soll schon manchem vor Sehnsucht das Herz
gebrochen
sein.
Aber
es muß nicht justament
Heimweh gewesen sein! Es war ein einfacher, sinnloser, törichter,
zweckloser,
bestialischer, niederträchtiger Herzschlag.
Josephus
Der
Neue Tag, 1.
1. 1920
zurück
Der
Kolporteur
Es
ist eine kleine, bescheidene
Gasse. Ich brauche ihren Namen nicht zu nennen. Denn gesetzt den Fall,
sie
hieße Moosgasse oder Steingasse oder Waldgasse - was liegt daran?
Genug, es ist
eine stille, bescheidene Gasse.
Die
Stimmen der Großstadt werden
schüchtern-gedämpft. Sie treten leise und demütig in den Bereich der
Gasse wie
fromme Gläubige in die Moschee. Es ist, als ob die Geräusche der
Großstadt ihre
Schuhe ausgezogen hätten und auf Socken dahertappten.
Die
Häuser in der kleinen Gasse
stehen dicht beieinander. Sie sehen sich mit ihren lächerlich kleinen,
viereckigen Fensterscheiben an wie mit alten, kurzsichtigen Augen. Sie
kennen
einander ausgezeichnet. Oh, ausgezeichnet! Sie wissen alte Geheimnisse
und
Dinge, von denen man nicht gerne spricht.
Die
Hühner des Kohlenhändlers
Matthias Zawadil beherrschen die Straßenmitte. Am Nachmittag unternimmt
der
Hahn mit seiner Familie einen Spaziergang. Der Hahn geht stolz voraus
und setzt
vorsichtig einen Fuß vor den zweiten mit klassischer Senatorenwürde.
Hinter ihm
die Henne. Sie ist ein Frauenzimmer, launisch, nervös, weicht manchmal
nach
rechts oder links ab. Die Küchlein folgen gutmütig, naiv, ohne eine
Spur von
Lebenskenntnis, neugierig. Von Zeit zu Zeit trippelt eines auf den
Bürgersteig
und verliert sich in einem Hausflur. Jede Viertelstunde einmal bleibt
der Hahn
plötzlich stehen und stößt einen Trompetenruf aus. Dann sammeln sich
alle um
ihn. Worauf er wieder denselben Weg zurückgeht, stolz voran, mit
klassischer Senatorenwürde
einen Fuß vor den andern setzend.
Ich
erinnere mich, daß einmal ein kleines weißes Küchlein in dieser Gasse
eines
jämmerlichen Todes gestorben ist. Ein Auto raste über es hinweg. Eine
Sekunde
lang gab es einen fürchterlichen Anblick. Das Küchlein in der
Straßenmitte, das
noch nie ein Auto gesehen hatte, versuchte fassungslos zu fliehen. Ach!
Es wäre
noch Zeit gewesen. Das Auto war noch weit, am Ende der Straße. Das
kleine Tier
sah zum erstenmal in seinem Leben ein rasendes, fauchendes Ungetüm.
Konnte es
wissen, daß Automobile nicht auch auf Bürgersteigen fahren? Es mußte
annehmen,
daß dieser
Koloß aus Schnelligkeit, Staub und Gestank die ganze Gasse mit allen
Häusern
wegfegen würde, wie der Besen der Hausmeisterin die Körner von der
Schwelle des
Kohlenhändlers wegfegte. Wo gab es da Rettung? Nur in der Flucht. Und
das
Küchlein floh. Aber das Auto war schneller. Als Staub und Dampf sich
verzogen
hatten, lag ein weißer, rotgetupfter Fetzen in der Straßenmitte. Der
Leichnam
des Küchleins. Der achtzigjährige Hausherr von Nummer sieben, der
frühere
Gemeinderat Cölestin Prosper, stand mit seiner langen Pfeife am Fenster
und sah das
Unglück. Am nächsten Morgen gab es eine große Überraschung in der
kleinen
Gasse. Der Hausherr und Gemeinderat Cölestin Prosper schritt mit
Zylinder und
Regenschirm, gefolgt von seinem Dackel, nach drei Jahren wieder einmal
durch
die Gasse. Um die Mittagszeit kehrte er zurück. Cölestin Prosper
schmunzelte.
Er sah aus wie einer, dem etwas gelungen ist.
Ungefähr
eine Woche später hing beim Eingang in die Gasse eine große Leinwand.
Auf der
starrten in fetten Buchstaben jedem die Worte entgegen: »Automobilen
und
Schwerfuhrwerken ist die Durchfahrt verboten!«
Seither
lebte die Hühnerfamilie des Kohlenhändlers Matthias Zawadil in Frieden,
wenn
nicht gerade des Kohlenhändlers Tochter einer flatternden Henne mit
einem
geschwungenen Holzscheit nachläuft, um sie zu erschlagen.
Eines
Tages stand ein kleiner Junge an der Straßenecke. Seine kleine
schmutzige Linke
umspannte kaum noch einen dicken Zeitungspack. Mit der rechten schwang
er ein
Blatt.
Er
kam jeden Morgen und störte niemanden. Die Hausmeisterin und Matthias
Zawadil
und die dicke Köchin des Herrn Cölestin Prosper, die immer alte
Gummigaloschen
an den Füßen trug - Sommer und Winter-, kauften bei dem kleinen Jungen
die
Zeitung.
Aber
einmal kam er auch am Abend.
Es hatte kaum angefangen zu dunkeln, und schon stand der kleine
Zeitungsjunge
da. Aber er schwieg nicht! Nein, im Gegenteil. Er brüllte einen
fanatischen,
seltsamen Singsang. Es waren immer dieselben Laute, in der gleichen
tödlichen Reihenfolge.
So
kam er jeden Abend. Die
Häuser, die gerade dabei waren einzunicken, schreckten jedesmal auf.
Bei jedem
Schritt klirrten die Fensterscheiben.
Oh,
was war das für ein
tüchtiger, kleiner Zeitungsjunge!
Eines
Morgens ging der Hausherr
von Nummer sieben mit Zylinder, Regenschirm und Dackel wieder einmal
durch die
Gasse. Um die Mittagszeit kam er zurück. Aber sein Regenschirm baumelte
nicht,
sondern ragte wie ein umgekehrtes Rufzeichen in den Himmel. Cölestin
Prosper
sah nicht aus wie einer, dem etwas gelungen ist.
Am
Abend war der kleine
Zeitungsjunge wieder da. Diesmal war er besonders guter Laune. Er rief
also
nicht: Der Abend, sondern: »Der Obend!« Das »0« war schrill und hatte
gleichsam
eine scharfgeschliffene Spitze. Es drang durch die dicksten Mauern. Es
durchbohrte mit einer ungeheuren Rasanz die alten Kupferdächer.
Cölestin
Prosper verließ mit
seinem Regenschirm-Rufzeichen das Haus und näherte sich dem Kolporteur.
Er tat,
als wollte er eine Zeitung kaufen. Der kleine Junge hielt ihm sein
ganzes
Zeitungsbündel unter den weißen Backenbart.
Plötzlich
schwankte die Spitze
des Regenschirms. Ein kräftiger Schlag erfolgte.
Cölestin
Prosper prügelte den
Zeitungsjungen.
Seit
jenem Abend steht ein
anderer Kolporteur an der Straßenecke. Ich bin neugierig, was Cölestin
Prosper
machen wird.
Josephus
Der
Neue Tag, 4. 1.
1920
zurück
Teisinger
Der
Untersuchungsausschuß
beschäftigte sich mit den »militärischen Pflichtverletzungen« des
Feldmarschalleutnants Teisinger, der rund 200000 Menschen »auf seine
Verantwortung« gegen das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung für
frontdiensttauglich erklärt hatte. Der Feldmarschalleutnant gab ohne
weiteres
zu, zweimal hunderttausend Menschen »widerrechtlich« in den Tod
geschickt zu
haben. Er wies nach, daß er »nach höheren Weisungen« gehandelt habe,
nur der Hammer
in der Hand des Kriegsmolochs gewesen sei. Der Untersuchungsausschuß
fand, daß
kein Grund vorhanden sei, Teisinger vor ein Militärgericht
zu laden.
Wir
müssen uns erst mühsam die
Mentalität jener Zeit rekonstruieren, um langsam zu verstehen, was
Teisinger
eigentlich vorgeworfen wurde. Er hat »widerrechtlich« Menschen in den
Tod
geschickt. Denn es war eine Zeit, in der man - man denke! - Menschen
mit Recht
in den Tod schicken durfte. Es war eine Zeit, in der man den grotesken
Widersinn für selbstverständlich ansah, daß die Gesundheit zum Sterben prädestinierte,
die Krankheit des
Sterbens enthob. Teisinger aber war das lebendige, zweibeinige
Paradoxon jener
Zeit: Er bestimmte die Kranken zum Tode. Die Verrücktheit des Krieges
hatte
sich so gesteigert, daß die Ausgeburt ihres hitzigsten Deliriums in das
Gegenteil: den gesunden Menschenverstand übergriff. Teisinger, der
schrecklichste der Schrecken, die personifizierte Kriegsfurie in
Feldmarschalleutnantsuniform, wollte etwas ganz Vernünftiges: daß die
Kranker
sterben.
Deswegen
wurde er angeklagt.
Begreift man die Unlogik dieser Anklage?
Ein
Mann wird angeklagt, weil er
die Kranken in den Tod schickte. Wäre er damals angeklagt worden, als
er sie
noch schickte, so wäre die Anklage aus der Moral jener Zeit heraus
verständlich
gewesen. Denn die Moral jener Zeit war: Gesunde sterben lassen. Heute,
da es als das größte Verbrechen gilt zu töten, fällt die Anklage gegen
Teisinger in sich zusammen. Denn man klagt ihn nicht an, weil er
tötete,
sondern weil
er Kranke tötete. Erhält man
die Anklage aufrecht, so stellt man sich eo ipso auf den
Moralstandpunkt
jener Zeit, d. h.: Gesunde darf man töten.
Diesen
Standpunkt nimmt die
heutige Öffentlichkeit nicht mehr ein. Sie klagt nur jene an, die
schlechthin
getötet haben. Der letzte auf der Anklagebank müßte Teisinger sein.
Nicht der
erste. Denn ist Kranke töten eine Gemeinheit, so ist es wenigstens eine
vernüftigere Gemeinheit als Gesunde töten. Solange aber der Urquell
jener
Niedertracht des allgemeinen Menschenschlachtens nicht einmal entdeckt
ist, hat
man kein Recht, Teisinger, der Abflußkloake, den Garaus zu machen. Aber
nicht
das juristisch Greifbare ist es, das Kranketöten, weswegen Teisinger
vor den
Untersuchungsausschuß kam. Die Psychologie der Lynchjustiz lud ihn vor
den
Richterstuhl. Das revolutionierende Volk stürzt zuerst den König und
dann den
Minister, dessen Opfer der König selbst ist. Der blutbefleckteste in
der Masse
der Kriegsschergen war Teisinger. Er leuchtete rot, am rötesten hervor,
und
deshalb griff man nach ihm vor allen. Er war der Henker. Den
Staatsanwalt
suchen wir vergebens.
Teisinger,
der Begriff, nicht
Teisinger, das Lebewesen. Man sagte: »Teisinger«, wie »Tod und Teufel«.
Er
lebte nicht. Er musterte. Er gehörte zum Inventar der Kommission wie
das
Metermaß. Er war ein Organ des Staates, des »Vaterlandes«, wie die
Polizei, die
Häscher, die den Deserteur aufspürten. Er war eine Waffe wie ein
Geschütz, die »Dicke
Berta«, die schon im Hinterland funktionierte. Er war eine militärische
Institution, wie das
A. O. K. und das Militärkommando. Er war nicht der, sondern das k.
u. k. Teisinger. Teisinger in Anführungszeichen. Man könnte ihn
logischer
anklagen des Umstandes, daß er sich zum Henker hergab. Aber Teisinger
mit der
Erziehung und Psychologie des aktiven Offiziers ist so nicht zu fassen.
Teisinger mit der moral insanity des zum Pflichtmord und Ehrentod
erzogenen
privilegierten Häftlings in dem großen Kerker des Militarismus ist
nicht klagbar,
nur zu bedauern.
Zu
denken, daß dieses
fürchterliche »Teisinger« ein Mensch ist, der Teisinger mit einem
Vornamen. Ein Mensch, der verzweifeln muß an einer Welt, in der man ihn
seiner Verdienste wegen anklagt. Der seinen Freispruch nicht einmal
versteht, sondern so deutete, daß er eben seiner Verdienste wegen nicht
schuldig gesprochen werden kann. Zu erziehen, zu ändern ist nichts mehr
an diesen Teisingers. Nur zu beklagen sind sie. Und wir, die wir ihn
selbst - hervorgebracht haben.
Denn
merken müssen wir uns dieses
k. u. k. Teisinger. Sprechen wir ihn frei, aber verurteilen wir uns,
stets
an ihn zu denken. Auf daß er sich nicht wiederhole! Es könnte nämlich
sein, daß
. . . und es könnte sehr leicht sein, daß er sich wiederholt. Wir haben
ihn
zwar freigesprochen.
Aber
soweit sind wir nicht, daß
wir ihn schon überwunden hätten!
Der
Neue Tag, 21. 1.
1920
zurück
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