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Literatur


04.3


Joseph Roth - Werke 1

Das journalistische Werk
1920







Artisten

Manchmal ist die Welt kleinwinzig wie ein Ameisenhaufen, so daß man ordentlich den Respekt vor ihr verliert, und die Schatten vergangen er Dinge so groß, daß man ihnen nicht entrinnt und sich stets von ihnen verfolgt weiß. Und oft glaubt man, auf dem Vorwärtsmarsche etwas liegengelassen und vergessen zu haben, und dann, urplötzlich, an einer beliebigen Stelle deiner Landstraße, siehst du es wieder vor dir, als wärest du rückwärts geschritten, nicht vorwärts, oder als hätten verflossene Dinge längere Beine und liefen dir voraus, um sich wie ahnungslose Meilensteine an den Wegen der Zukunft aufzustellen. Ja, die Meilensteine, denen du begegnest, sind gar nicht neu, sind immer wieder die alten, die dich auf Umwegen überholen und vor dir Posto fassen. Haben sie nicht alle das gleiche Gesicht? Lauter Bekannte sind alle Meilensteine.
 
So geschah es mir, als ich in das Grand-Cafe in der Praterstraße trat, studienhalber. Alle die Gesichter hatte ich schon irgendwo gesehen. Dieses Kaffeehaus, dessen Decke mit Zigarrenqualm geradezu bestrichen ist wie eine Brotschnitte mit Gänsefett und das vom Eingang nach links und geradeaus sich dehnt und zwei Katheten bildet, eine steckengebliebene Beweisführung für den Pythagoräischen Lehrsatz.
 
Menschen, die an den Wänden und auf dem Fußboden picken wie Insekten auf Fliegenleim und mit den flatternden, zappelnden Händen wirklich den Eindruck machen, als möchten sie loskommen und könnten es nicht. Glühbirnen, die wie festgenagelte Leuchtkäfer rötlich durch den Qualm blinzeln, als täte ihnen ihr eigenes Leuchten weh. Ein Mann in einer grünen Weste, so grün wie Moorland auf einer geographischen Wandkarte, mit baumelnden, silbernen Haselnußknöpfen und einem Elfenbeinsächelchen an silberner Uhrkette. Offenbar ein Impresario. Eine Kartengesellschaft an der Wand rechts von der Kassa. Klitsch, klatsch schlagen die Karten auf das grüne Tuch wie wattierte Ohrfeigen. Die Männer in Hüten, offenbar zur Beruhigung ihres Gewissens. Denn was ein tüchtiger Artist ist, der versitzt nicht seine Stunde im Kaffeehaus, sondern kommt immer nur auf einen Sprung, einen Kunstsprung sozusagen, und braucht den Hut gar nicht erst abzunehmen. Bleibt aber dennoch, um seine Zeit im Kaffeehaus zu versitzen, aber den Hut auf dem Kopf, denn er ist, wie gesagt, »auf dem Sprung«.
 
Die Frauen, meist schon in »Bühnentoilette«, aus Schminkdosen zusammengekleistertes Temperament in den Zügen und Atropinimitation von Leben in den puppenfaden Glasaugen.
 
Hier traf ich sie wieder, die Gesellschaft aus dem ostgalizischen Kriegsnest, das »Wiener Variete«, das »erstklassigste Ensemble«, das ich auf meinem Weg liegen gelassen hatte und längst verloren glaubte, wie man etwa, von einem Feste heimkehrend, bunte Papierfetzen und herabgerissene Lampions hinter sich läßt, die dann der Wind einem Misthaufen zuführt oder der Regen durchweicht und vernichtet.
 
Ja, denkt euch, hier traf ich sie alle wieder:
 
Den kleinen Cohn, der sich »Tiberius« nannte und wie ein Nero aussah, den »Direktor« des Ensembles, der nach jeder Nummer im Kaffeehaus der Etappe absammeln ging und das Geld nach seinem Gutdünken unter seinen Leuten verteilte, oder auch nicht.
 
Claire Clairon, genannt »die Nachtigall von Hernals und Ottakring«, die rührend-falsch die Ballade vom Zigeuner sang.
 
Hertha-Hertha, mit einer Vergangenheit, derer sie sich nicht zu schämen brauchte: Zirkusreiterin, Dompteuse, und jetzt sang sie jeden Abend »Weine nicht, Hertha, Mädel vom Chantant«, ein Lied, das mit einem hochdramatischen Aufschrei und Hinfall zu enden hatte und das Hertha-Hertha wie ein billiges Feuerwerk in ein knacksendes Dis explodieren ließ.
 
Mia Martison, die »Riesenboa«, die in einem leuchtend roten Schwimmkostüm überlange Glieder auf den nie gesäuberten Dielenbrettern des Podiums verzweifelt räkelte und sich wand und krümmte, nicht wie eine Schlange, sondern wie ein personifiziertes langes Gähnen.
 
Das »tanzende Zwillingspaar«, zwei kleine Frauenzimmer mit unpersönlichen Puppengesichtern, die ihre Beine in die Luft schleuderten, so hoch, daß sie fast Löcher in den Plafond geschlagen hätten und weiß Gott auf welchen Stern geflogen wären, wenn sie nicht durch zierlichseidene Trikothöschen an den Rumpf genäht wären.
 
Und natürlich auch »der kleine Diabolo«, eine achtundzwanzigjährige, aber kontraktlich zum Backfischalter verpflichtete Person, mit wirren Superoxydblondlöckchen, die »Tiberius« in die Luft schmiß, daß sie wirbelte wie eine Zigarettenhülse im Sturm.
 
Und den »Conferencier« Herrn Lund, der einen roten Frack trug, einen Frack, ich sage euch, vor dem man sich gewiß würde bekreuzigen müssen, wenn ihm seine Zirkusmanegevergangenheit nicht den Anstrich des Irdischen gegeben hätte. Herr Lund verkaufte Ansichtskarten an Etappenoffiziere, Ansichtskarten voll kostbarer Schweinereien, das Stück zu einer Krone. Nur jene Karten, auf denen er selbst, Herr Lund, photographiert war, kosteten zwei Kronen. Oh, er wußte sich zu werten! Sein Repertoire war seltsam, wie aus einer Antiquitätengalerie zusammengestellt, sein historischer Wert unschätzbar. Und Herr Lund pflegte sich gar nicht anzustrengen! Er machte Witze mit einer Selbstverständlichkeit, als ob sie neu wären, und er war interessant trotzdem, wie ein altes Räderwerk aus Nürnberg.
 
Alle, alle traf ich sie wieder im Artistencafe in der Praterstraße. Mia Martison, die Riesenboa, erkannte mich zuerst nicht, um später, wenn sie mich erkennen würde, ein theatralisches)“Ach Gott, wie komisch!« mit Erfolg an den Mann bringen zu können.
 
Nur Hertha-Hertha fühlte sich verpflichtet, über die schlimmen Zeiten zu klagen, in denen selbst Grafen in die Schweiz reisten, die zu ihr in inniger Beziehung standen.
 
Alle waren sie gewerkschaftlich organisiert und suchten ihren Obmann, einen »Arbeiterrat«, ja, denkt euch, einen Arbeiterrat! Geschminkt, parfümiert wie Drogerien, mit Halsbindchen, Kettchen, Ringen, Ohrgehängen verdächtig-gläserner Abstammung, suchten sie einen »Obmann«, waren gewerkschaftlich organisiert.
 
Es geht ihnen schlecht, die Vergnügungsstätten sind zu, man kann nicht »arbeiten«. Und Cohn-Tiberius gibt nichts her. Er hat Geld, der Hund, aber man sieht nichts.
 
So seltsam nahmen sie sich aus im Kaffeehaus: Rampenlicht entbehrend, Boheme mit Spießerhunger, Zauber in Gulaschtunke, Kunst in Wochentagsmisere. Ihr Reden ist falsch, weil sie keine alten Witze sagen, sondern neue Trauerspiele, und der ganze Aufwand an Schminke, Parfum, Glasgeglitzer, Goldzahnplomben, Superoxydblond, Pathetik, Pelzimitationen und Halbseide ist überflüssig, wenn man einen Obmann sucht und gewerkschaftlich organisiert und arbeitslos ist.
 
Es ist wie ein Faschingszug nach Aschermittwoch.
 
Josephus
Der Neue Tag, 25. 1. 1920


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Die reaktionären Akademiker


Revolutionsfeindlich, monarchistisch, »völkisch«, säbelsehnsüchtig, purpurverlangend, so ist die deutsche Jugend von heute.
 
Mit der Plötzlichkeit einer Offenbarung ward uns die Erkenntnis, daß nicht alles jung, was neu ist, und daß Jugend nur dem Alter, nicht der Veraltetheit antithetisch ist. Am Ende war es seit eh und je die Fahne, die die Jugend mitriß, und nicht die Idee, deren Ausdruck die Fahne ist. Der Schlachtruf und nicht die Güter, um die Krieg geführt wurde.

Der Trompetenstoß, der Fanfarenruf. Nie die innere Gewalt einer Idee, sondern der Faltenwurf ihrer Pellerine. Und am Ende hat die naturgemäß theatralisch wirksame Geste einer gewaltigen Idee die Jungen zu Wortführern der Idee gemacht. Die Jugend war nur bestochen und nicht überzeugt. Hypnotisiert und nicht ergriffen. Ja, nicht einmal berauscht war sie? Nur betrunken?
 
Denn nun, da die Lavaglut der Revolution sich nicht in einem farbenprächtigen Feuerwerk äußert, sondern die Gefahr besteht, daß sie in der Gestalt eines nüchtern grauen Ascheregens die Welt einhüllt, spannt die deutsche Jugend die Regenschirme ihrer ordentlichen Professoren auf. Diese Revolution hat zu wenig romantischen Kitsch.
 
Nüchtern war ja allerdings auch der Krieg. Aber die körpergewordene Phrase des zwanzigsten Jahrhunderts, Wilhelm H., wölbte sich wie ein schwarzrotgoldener Regenbogen über der Langeweile der Schützengräben. Poetisch war ja der Erstickungstod in Gasgestank gerade nicht. Aber auch durch Gasgestank führte der Weg in die Walhalla. Die moderne Revolution dagegen ist Götterdämmerung ohne Farbenspiel.

Sieg ohne Siegesmarsch und Fahnenweihe. Feier ohne Truppenschau. Und noch weniger: Die Truppenschau der Revolution, wenn sie überhaupt stattfindet, ist lächerlich einfach. Man steht selbst unter den zu Visitierenden. Man salutiert selbst, ohne salutiert zu werden. Stand man früher als Einjähriger auch mit in der Reihe, so doch mit dem erhebenden Gefühl, nicht ewig so stehen zu müssen. In ein, zwei Jahren würde man selbst Fronten abschreiten und mit gestellter Heiserkeit Kommandorufe brüllen. Was jetzt Fronten abschreitet - auch rein bildlich verstanden -, ist Plebejertum, staubgeborenes, purpurvermissenlassendes Proletariat. Ist womöglich noch Judentum. Es mangelt an knisternder Banalität, gottesgnadenträufelnder Rührseligkeit, tuschrauschender Hohlheit.
 
Diese Revolution geht einher in Zivil und hat nicht einmal die nationale Überzeugung im Knopfloch. Ich bitte Sie ...
 
Aber kann es wirklich sein?
 
So hätte sich die Jugend geändert? Waren die Bannerträger des Fortschritts stets nur Getriebene und nicht Treibende? Ist es nicht die urewige, bewegende, die Vorwärtskraft, die in jeder neuen Jugend wiedergeboren wird? Hebt nicht jede neue Generation die Welt aus den verrosteten Angeln? Pulst nicht das rote Blut jeder neuen Menschenwelle durch die Errungenschaften der Zeit? Ist die Opferfreudigkeit, mit der Generationen von Jünglingen den Flammentod auf den Altären der Kultur starben, nicht bewußte Aktivität? Hypnotisierte können auch handeln, gewiß. Sie können sich vielleicht auch, von fremdem Willen gebannt, opfern. Aber können sie schaffen, Schöpfer sein, wie die Jugendgeneration der Erde?
 
Und selbst wenn die Jugend, nur von der Geste bezaubert, die Heldentaten vollbracht hatte - hat diese Revolution etwa keine? Ist das Geheimnisvolle, das Schlupfwinkeltum revolutionärer Bewegung nicht jugendreizende Romantik genug? Bürgt die revolutionäre Gesinnung nicht genügend für das Vorhandensein von Gefahren? Ist es nicht gerade dieses Gefahrvolle, übereuropäisierte Nervenanspannende, was jeder revolutionären Bewegung den oft schädlichen Zuwachs an weiblicher Intellektualität und intellektueller Weiblichkeit beschert?
 
Warum also ist die deutsche akademische Jugend antirevolutionär?
 
Von mehreren wichtigen Ursachen ist die wichtigste die, daß die Stellung zur Revolution eine - Brotfrage ist.
 
Der junge Mann aus bürgerlicher Familie, der die Reifeprüfung bestanden hatte, konnte sicher sein, daß er in irgendeinem gutgeheizten Büro unterkommen würde. Er hatte sich acht Jahre mit Logarithmensuchen und Verba-auf-mi-Flektieren geplagt und weitere vier Jahre Testate und Mensurenschmisse gesammelt oder fleißig »Schnellsiederkurse« besucht - nun hatte er ein Recht auf Brot. Auf einmal wird ihm dieses Recht strittig gemacht. Nun können Männer ohne eine Spur von einem Schmiß, Männer, die nicht einmal ein Ungenügend für falsches Skandieren von Hexametern aufzuweisen haben - Staatssekretäre werden.
 
Die Konkurrenz wächst ins Ungeheure. Man hat sich »zwölf Jahre umsonst geplagt«. Nicht nur, daß der manuelle Arbeiter ein größeres Einkommen hat, nein, es ist ihm außerdem noch möglich, jene Art Karriere zu machen, die vor der Revolution nur dem Akademiker frei war. So entstand die unglückselige Antithese: Waschfrau und geistiger Arbeiter. Daß die Waschfrau ihm nicht mehr »Küß die Hand« sagen muß - wenn sie es auch immer noch tut-, »geniert« den »Doktor« mehr, als daß ihr Verdienst ein größerer ist.
 
Denn auch früher kam es vor, daß der akademische »Mittelständler« - wie häßlich und unnatürlich Begriff und Wort - kümmerlicher lebte als ein Taglöhner. Aber die betrügerische Gesellschaft gab ihm dafür das Phantom der »akademischen Ehre«. Er hatte nichts zu essen, aber er durfte »sich schlagen«. Theoretisch konnte er die höchsten Stellen im Staate einnehmen. Er war prädestiniert zum »Höheren Staatsbeamten«. Er konnte Minister und Feldmarschalleutnant werden. Der andere, nicht Graduierte, konnte es nicht. Und die ganze Erbärmlichkeit der menschlichen Durchschnittsnatur offenbarte sich darin, daß die nebulose, theoretische Möglichkeit, mehr zu werden als der Nachbar Taglöhner, den »Doktor« vergessen ließ, wie schlecht es ihm ging.
 
Im Krieg wurde mit einem Schlag die graue Theorie zur blühenden Wirklichkeit. Man war Offizier mit Zigarren- und Zigarettenzubußen, mit Gagen, Rekruten, Säbel und »Ehre«. Tief versteckt gewesene und von akademischer Kalkfarbe übertünchte Bestialität und Niedrigkeiten in dem und jenem durfte sich ungestraft austoben. Man war »Herr« mit Kommandogewalt über Leben und Tod, mit einem oder mehreren »Burschen«. Mit Schicksalssternen auf dem Blusenkragen. Und der lächerliche Trost, daß man eventuell nicht in einem Massen-, sondern in einem Einzel- und »Heldengrab« bestattet werden könnte, machte selbst den gräßlichen Tod um eine kleine Nuance angenehmer. Schließlich dauerte der Krieg zu lange, die Ehrenhaftigkeit schwankte bedenklich, man begann sich zu drücken, aber, aber die Überzeugung von der »göttlichen Sendung des Deutschen« war zu fest verankert. Chamberlain schrieb, Wilhelm der Zweite redete, die Presse leitorakelte, und der Weihrauch des» Vorgesetztentums« benebelte den Schädel. Man aß immer noch besser als der Mann, man durfte sich austoben, prügeln, schimpfen, kommandieren, raufen, trinken nach Herzenslust. Und als man schließlich merkte, daß etwas faul war im Staate, gab man die Schuld den Pazifisten, der »roten Internationale«, den Juden, mit denen man abrechnen wollte, sobald man zurückgekehrt wäre.
 
Man kehrte zurück, und siehe da: Pazifisten, Internationalisten, Sozialisten, Freidenker, Zweifler, Demokraten, kurz: »Juden« waren »am Ruder«. Nun war man arm, hatte nichts zu essen. Aber die »Ehre« war auch nicht mehr da? Auf die »Satisfaktionsfähigkeit« wird nichts mehr gegeben? Nun, soll man da nicht antirevolutionär sein?!
 
Also nach der Brotfrage die »Ehrenfrage«.
 
Die Revolutionsfeier war die erste Volksfeier in Deutschland und bei uns, bei der das Alkoholtrinken verboten ward. Die Revolution machte keine Bierbankpolitik. Diese Revolution war international.
 
Gewiß auch ein Grund, weshalb die akademische Jugend ihre Feindschaft ansagte. Aber außerdem war diese Revolution noch antialkoholisch. Also höchst un-»deutsch«.
 
Eine gewagte Behauptung, vielleicht ein »Witz«. - Ich kann mich nicht seiner wehren: Er zwingt mich zur Veröffentlichung: Der Antialkoholismus dieser Revolution hat ihr bei den »Studierten« geschadet . . .
 
Volksfremd und weltfremd, eingeschachtelt in die Schubladen: Gelehrte, Mensuren, Korpsgeist, Patriotismus, lebt in deutschen »Landen « eine ägyptische Priesterkaste: die Akademiker. Seltsame Bräuche und uralte Gesänge. Hölzerne Sprache und steifleinene Weltanschauung.
 
So sitzen sie im Tempel nationaler Kultur, und kein Blick dringt ins Allerheiligste. Und sie, die Priester, haben keinen Blick für die Welt.
 
Sie kennen eine »Nation«, sie bekennen sich zur »Nation«, aber sie haben keine Ahnung vom Volk.
 
Wie sollten sie da nicht Gegner der Revolution sein? Unsere Akademiker sind Priester, unsere Hochschulen - Klöster, unsere Wissenschaft - Kirche, der Rektor ein Erzbischof. Klerikalismus der Wissenschaft. Arterienverkalkung des Geistes. Jeder Klerikalismus ist reaktionär.
 
Der Neue Tag, 1.2. 1920

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"Plakate"

Nun bin ich krank und sitze im Lehnstuhl am Fenster meines Zimmers, das im ersten Stock liegt. Ich darf mich nicht erheben, darf keine Zeitung lesen, keinen fremden Menschen sehen. Ich darf nur gradaus durchs Fenster blicken.
 
Die Welt ist hinter mir versunken wie etwa ein Bahnhof, aus dessen Halle ein Zug mich mit rapid wachsender Schnelligkeit entfährt. Ich bin froh. Ich werde vielleicht wieder Landschaften sehen.
 
Nein, ich werde keine Landschaften sehen. Ich muß zum Fenster meiner Wohnung hinausblicken, und gegenüber ist hoch oben ein Fenster, und darunter ein Stück nackter Wand, von der sich der Mörtel in kleinen Brocken ablöst. Das gelbbraune Ziegelwerk, das darunter hervorsieht, bildet groteske Fratzen. Und tiefer unten, just in gleicher Höhe mit meinem Fenster, beginnt eine seltsame, lustige, bunte Welt. Ein Wäschermädel mit roten Backen und einer prallen Büste, die von Bierbaum-Lyrik strotzt, über einen Waschtrog zierlich gebeugt. Mit schlanken Fingerspitzen faßt sie ein Wäschestück und hält es hoch. Das macht mich krank. Wie kann man nur so zimperlich mit Unterhosen umgehen? Unterhosen sind kein Schmetterling, mein Fräulein! Greifen Sie nur zu! Seltsamerweise weht irgendwoher ein Wind.
 
Unerklärlich! Wie kommt ein Wind in diese Waschküche! Sie ist ordentlich gehalten, weiße, schwarz gestreifte Kacheln sind an den Wänden sichtbar. Ich wette, daß die Tür gut schließt.
 
Nun aber bläht so ein rätselhafter Wind die Röcke dieses Mädchens hoch und ach! man sieht Waden und Strumpfbänder. Und ein wenig Spitzenzeug. Blütenweiße Dessous! Oh, wie nahe verwandt sind Seife und Erotik!
 
Ganz ohne innigere Beziehung zu diesem netten Wäschermädel ist, wie ich vermute, jener Mann linker Hand nicht! Ich wüßte nicht, aus welchen Gründen sonst er seine braunen Backen so bläht und mit seinen alkoholglühenden Augen besoffene Pfauenräder schlägt. Er ist groß und fett und macht den Eindruck eines vorsintflutlichen Ungeheuers, eines Ichthyosaurus etwa, der, ohne Rücksicht auf Darwin zu nehmen, mit einem kühnen und plumpen Satz über Tausende von Lebensformen hinweg direkt zum Menschen hinüberleitet. Wo in aller Welt leben Wesen dieser Art, mit menschenähnlichen Fratzen und Elefantenhabitus? »Urwiener Musik-Gesang« steht auf dem Plakat.
 
Das Ungeheuer hat einen winzigen Schädel, auf dem eine schwarze Haarglasurklebt. Im Verhältnis zu seinem Bauch ist der Kopf so lächerlich gering wie ein Holztiegelchen, mit dem Kinder spielen. Über dem ungeheuren Leib ein Instrument, Mandoline oder so. Die Farbe der großen, behaarten Pratzen und der Backen ist dunkelrot wie rohes Büffelfleisch, das drei Tage unterm Sattel gelegen hat. Dieses Übergangswesen vom Ichthyosaurus zum Menschen ist ein Urwiener Heurigensänger bei J ohannes-Stube. Ich bin neugierig, was sich da zwischen dem dummen Wäschermädel und diesem seltsamen Naturexperiment entspinnen wird.
 
Rechts von dem Wäschermädel eine Gesellschaft, die mir gefällt. In einem geradezu ausländisch erleuchteten Lokal steht ein Herr auf Lackschuhspitzen. Seine weiß behandschuhten Hände schweben waagrecht in der Luft, Daumen und Zeigefinger berühren sich zärtlich.
 
Der Mann ist Tanzlehrer. Nicht übel. Damen und Herren, süßlich wie Zuckerwerk, schlingen einen Reigen. Wie gut es den Leuten geht! Und hier muß man im Lehnstuhl sitzen und krank sein! ...
 
Von einem entsetzlichen Geball aus Ultramarin und Schwarzblau überwölbt, schmettert ein messingner Kitsch, sozusagen »Lichtermeer «, eitel Jubel und Seligkeit. Ein einziger golden glühender Schrei.
 
Ein gelbrotes Fanfarenjuchhe. Damen in hellen Kleidern, die silbern leuchten. Glühende Weinkelche wie Heiligtümer. Opferschalen auf Dionysosaltären. Wie? Ich habe schon so lange keine Zeitung gelesen! Wien hat Licht und Kohle im Überfluß.
 
Ah! Wie gräßlich! Da ist eine Nacht, blau, sag' ich euch, so schrecklich finsterblau wie violettes Sturmgewölk. Einer Lokomotive gefräßige Augen bohren sich durch das Farbendickicht. Auf Schienensträngen liegt ein armes Frauenzimmer. Waden wie das Wäschermädel. Nur ist es hier natürlich, daß ihre Röcke nicht in Ordnung sind. Erotik und Lokomotive passen doch besser zueinander.
 
Nun, ja! Warum liegt sie denn schon drei Tage und Nächte? Und der Zug, der so nahe ist, braust und braust fortwährend heran und überfährt sie doch nicht! Ich lechze nach Blut, Kleiderfetzen, zerschlissenem Menschenfleisch. Ich will diesen interessanten Frauenkopf mit dem wirren Haar endlich selbständig den Hang hinunterrollen sehen!
 
Nein! Diese Lokomotive rührt sich nicht vom Fleck. Ich werde vielleicht sterben, und dieses Frauenzimmer wird immer noch über den Schienen liegen und sich anglotzen lassen von der stupiden Lokomotive.
 
Es ist anders gekommen. Heute früh kam ein Mann mit Leiter, Kleistertopf und Pinsel. Die Nacht mit Lokomotive und Schienensträngen und Frauenkörper ist verschwunden. Ah! endlich.
 
In der Bar ist Musik. Ein Kapellmeister schießt weiße Strahlenbündel von seiner Hemdbrust in das Lokal. Alle Damen haben die Waden des Wäschermädels. Es kommt immer logischer: Bar und Erotik, das hat denn doch vernünftige Beziehungen!
 
Ich will krank bleiben. Diese lustige, bunte Welt vor den Augen haben.
Ich lese keine Zeitungen. Es geht uns ja so gut, oh, so gut!
 
Josephus
Der Neue Tag, 1.2. 1920


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Der Schleier

So. Jetzt wissen wir, wieviel es geschlagen hat: Die Stephansturmuhr ist verpackt. Ein Zeitungspapier, offenbar ein Leitartikel, verhüllt jenes Uhrblatt, auf dem die Ziffern so lustig zu springen pflegten. Schrups! war eine Minute vorbei: Die Zeit hüpft wie ein Eichhörnchen.
 
Jetzt kann man nur noch den langweiligen Zeiger sehen, wie er unermüdlich immer wieder den gleichen Kreislauf zurücklegt. Es ist eine Qual. Die Zeit hüpft nicht mehr lustig wie ein Eichhörnchen, sondern schleicht wie eine Schnecke. Ja, ja, es ist vorbei!

Ein Zeitungspapier, offenbar ein Leitartikel, zeigt an, wieviel es geschlagen hat. Er klebt zu hoch, man kann ihn nicht lesen. Aber ich stelle mir vor, was drin steht: Es ist ein Leitartikel aus den kürzlich verflossenen Tagen, an denen die Elektrische eingestellt war. Da wußten wir, wieviel es geschlagen hat. Die folgende Zeit brauchen wir nicht mehr zu sehen.
 
Was brauchen wir auch noch die Zeit, wenn wir Zeitung haben. Es muß auch nicht täglich ein neues Blatt sein. Es genügt immer derselbe Leitartikel, aus dem man ersieht, wieviel es geschlagen hat.
 
Das Antlitz der Zeitung ist verschleiert. Maskiert. Die Faschingsmaske unserer Zeit ist ein Zeitungsblatt mit erfreulichen Nachrichten, die man nicht einmal mehr zu lesen braucht, um sie zu kennen.
 
Der Neue Tag, 8.2. 1920 

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