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Literatur


04.3


Joseph Roth - Werke 1

Das journalistische Werk
1920






Der Onkel aus Österreich
(Aus dem Tagebuch eines Mitglieds
der Friedenskommission der Mittelmächte)

 
New York, den 25. Jänner 1920. Nun weiß sich das arme Amerika nicht mehr zu helfen. In New York wächst die Hungersnot ins Riesengroße. Täglich sterben anderthalb Millionen Menschen. Grippe und Flecktyphus wüten in den armen Stadtteilen. Wenn ich nur wüßte, wie man dem armen Lande helfen könnte!
 
28. Jänner. Hurrah! Der Lebensmitteldiktator für die Vereinigten Staaten, Herr Franz Huber, bürgerlicher Gemischtwarenverschleißer aus Reutitschein, hat einen prachtvollen Einfall: Den Amerikanern werden sogenannte »Kronenpakete« aus Österreich zugeschickt. Die New Yorker werden a Freud haben. An allen Straßenecken kleben Plakate:
 
Wollen Sie Lebensmittel aus Österreich? Schreiben Sie eine Postkarte nach Wien. In der Broadway 115 bekommen Sie die gewünschten Postkarten!
 
5. Februar. Die Hubersche Aktion entwickelt sich großartig. Die Amerikaner können sich vor Freude nicht fassen. Vor dem Amtslokal in der Broadway 115 sind Zehntausende angestellt. Wir mußten dreihundert Wiener Wachleute nach New York kommen lassen zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Die New Yorker haben nicht die geringste Übung im »Anstellen«. Es ist eine Schmach.
 
6. Februar. Zweihundertdreiundsechzig Wiener Magistratsbeamte sitzen in der Broadway 115, um die armen New Yorker abzufertigen. Die Amtsstunden sind von neun bis zwei. Um Mitternacht warten die New Yorker schon. Jetzt können sie sich schon famos anstellen. Dabei segnet jeder New Yorker ununterbrochen seinen Onkel aus Österreich.
 
8. Februar. Heute habe ich mir die Huberische Aktion näher angesehen. Unsere Magistratsbeamten funktionieren ausgezeichnet. Nur kann man diesen New Yorkern keine Ordnung beibringen. Sie sind hungrig, gewiß. Aber bei der Mißwirtschaft hört sich jedes Mitleid auf.
 
Da kann man halt nix machen! Unsere Magistratsbeamten verlangen von jedem New Yorker, der sich um ein »Kronenpaket« bewirbt, nur die unbedingt unerläßlichen Dokumente und Personaldaten; also z.B. Heimatschein, Meldezettel, Taufschein, Trauschein, Alter, Kragenweite, Hosenlänge (nur bei Männern), seit wann in New York ansässig (vor oder nach dem ersten August 1914) und ähnliches. Diejenigen, die Kinder haben, müssen entweder die Kinder selbst mitbringen oder amtlich beglaubigte Lichtbilder. Jedes Kind muß seine Identität durch einen am Bauch angebrachten Kautschukstempel von der hiesigen Polizei nachweisen. Aber diese Amerikaner! Kein Mensch hat hier seine Papiere in Ordnung. Von einem Meldezettel keine Spur. Ihre Kinder lassen sich nicht bestempeIn. Natürlich kann man ihnen da keine Anweisungen auf »Kronenpakete« geben. Da kann man halt nix machen! . . .
 
15. Februar. Wir haben weitere zweihundertdreiundsiebzig Magistratsbeamte und Amtsdiener nach New York kommen lassen und die ganze Broadway gemietet. Wir statten die Amerikaner mit allen nötigen Dokumenten aus: Meldezetteln, Trauscheinen, Taufscheinen. Wir bestempeln die Bäuchlein ihrer Kinder, photographieren sie, messen ihre Halsweite und Hosenlänge. Natürlich sterben unterdessen täglich ein paar tausend New Yorker. Dieses Volk kann die »Kronenpakete« gar nicht mehr erwarten. Nun, da kann man halt nix machen!
 
25. Februar. Gott sei Dank! Nun haben alle Amerikaner ihre Dokumente in Ordnung. Jetzt geht es an die Überprüfung. Daß sie ihre Papiere nur nicht wieder verlieren! Seit dem Einsetzen der Huberaktion sind zirka drei Millionen Menschen gestorben. Nun, da kann man halt nix machen!
 
10. März. Die Huberaktion ist leider mit sehr vielen »Kronenpaketen« ins Wasser gefallen. Das kam so: Der Indianer Buffalo hat um zwei »Kronenpakete« eingereicht. Die Christlichsozialen im Wiener Gemeinderat verlangten den Taufschein des Indianers Buffalo zu sehen.
 
Dabei stellte es sich heraus - unsere Wiener Polizei bewährt sich auch in New York sehr, daß Buffalo noch der Sonnenanbetersekte angehört. Die Christlichsozialen verließen den Gemeinderat. Sie erklärten, nicht mehr kommen zu wollen, solange die Huberische Aktion dauern würde. Inzwischen wurden zwei schon abgesandte Transportdampfer mit »Kronenpaketen« von der Besatzung gestohlen und dann versenkt.
 
Ganz New York stirbt. Wir werden schon wieder Totenscheine ausstellen müssen. Nun, da kann man halt nix machen!. . .
 
Dieses Tagebuch habe ich vorgestern geträumt. Gestern war ich im Hause Wilhelms-Ring Nr. 8, wo die Scheine für die Hooverschen »Dollarpakete« ausgehändigt werden. Ein sehr liebenswürdiger Herr steht hinter einem Berg von Postkarten. Jeder Bewerber erhält drei Stück, füllt sie aus und übergibt sie dem Portier. Im Laufe einer halben Stunde sind zweihundert Personen erledigt. Ohne Meldezettel. Da kann man halt nix machen!
 
Josephus
Der Neue Tag, 8.2. 1920


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Pöbel


Das ist »Sünde wider den Geist«: der gemeine Drang unserer Zeit, die Kampfmethoden des Strolches bei der Austragung jeglicher Art Kämpfe anzuwenden. Galt die Ellenbogentaktik ehemals für verrufen, heute ist es die Stiefelabsatztaktik nicht einmal mehr. Der Sieg der Materie ist vollständig. Der Sieg des Fleischhauerknechtes über das Denkerhirn, des Wasenmeisters über den Geistigen. Die schwierige Faust eines Wegelagerers wühlt in den Schatzkammern geistiger Paläste. Der stinkende Atem des Heurigenläufers bläst Grobheitsbazillen in das zierliche Räderwerk des Genius. Krämer, die es sich leisten, und Gassenbuben, die es sich stehlen können, sitzen über dem Werk zu Gericht.

Ein Tribunal des Pöbels, der keine andere Arbeitsfähigkeit mitbringt als die Eintrittskarte zu erhöhten Preisen.
 
In Berlin, der Heimat des weinreisenden Schwadroneurs, der leider auf der Auslieferungsliste fehlt, trotzdem er der eigentliche Bazillenträger des Deutschenhasses war; in dem Berlin des Jahres 1920, in dem jener Weinreisende, nunmehr zum Aktien- und Bauchbesitzer aufgedunsen, es nicht mehr nötig hat, alle Winkel der Welt mit seinem Posel zu verpesten, und im eigenen Lande eine Mischung von modernem Räuberhauptmann und vorsintflutlichem Spießer bildet; in diesem Berlin wurde bei der Aufführung von Heinrich Lautensacks "Pfarrhauskomödie" so randaliert, daß selbst die schwärzesten Kannibalen rot geworden wären vor Scham und ihrer Sitte, Menschen zu fressen, für immer abgesagt hätten aus Angst, einen Berliner Kunstrichter vom Parkett einmal bei einem heimischen Festessen vorgesetzt zu erhalten.

In München wurde Wedekinds »Schloß Wetterstein« mit Knallerbsen demoliert. In Immschbruck, der Hauptstadt des heiligen Landes Tirrol, erhoben die freiheitskämpfenden Philisterbarden ein Geheul gegen Karl Kraus, daß selbst die germanischen Berserker des Arminius vor ihren eigenen Nachkommen sich in die nordischen Urwälder verkrochen hätten. In Wien aber, der Stadt der Hetz und der Hausse, wurde Richard Strauß am Sonntag durch eine organisierte Zischbande von jenem Dirigentenpult verjagt, an das ihn eine sterbende Stadt, die nur noch von ihrer Vergangenheit zehrt, mit vieler Not berufen hatte.
 
Ob sie nun Schleichhändler in Logen oder Kunschtenthusiasten auf der Galerie waren, die Zischer - sie hatten kein Recht dazu. Die Eintrittskarte gibt keinem - weder dem einen, der sie stiehlt, noch dem anderen, der sie kauft oder erhält - die Berechtigung, sein Barbarentum zu manifestieren. Tut er es im Namen des (unredlich) erworbenen Geldes, so ist es eine freche Überhebung. Tut er es im Namen der Kunst, seiner Kunscht, so ist es eine Lausbüberei. Im ersten Fall müßte man ihm klarmachen, daß er nur dank einer Verlegenheitssituation der menschlichen Gesellschaft die Erlaubnis erhält, einen Gottesdienst durch seinen Besuch zu entweihen. Im letzteren, daß zwischen künstlerischem und gesellschaftlichem Taktgefühl innige Beziehungen bestehen und daß er durch den Mangel an dem zweiten sich durchaus nicht als Besitzer des ersten erweist. Es hat noch gerade gefehlt, daß dieses Publikum von heute, das die sichtbare Widerwärtigkeit seiner Anwesenheit durch Stuhlrücken, Zuspätkommen, »Schlüsse«-machen, Pralines-Schlecken hörbar macht, daß dieses Publikum auch noch seine Kritik durch Naturlaute kundgibt, wie sie beim Boxmatch längst nicht mehr üblich sind. Niemand hat ein Recht, Geistigkeit, die ihren Wert erwiesen, zu bespeien, auch die ehrlichen Enthusiasten nicht, die ihre künstlerischen und kritischen Fähigkeiten durch Gassenbüberei selbst der Nichtexistenz verdächtigen.
 
Es handelt sich gar nicht um Strauß oder einen anderen, Schmedes oder Ziegler. Wir müssen uns bestreben, den Triumph der Gosse ein wenig zu dämmen. Es sind überall dieselben: ob sie nun bei der Ankunft eines Autobusses und der Elektrischen schwangere Frauen vom Trittbrett stoßen oder die Torschlüssel ihrer durch Kriegsgewinn und Plünderung erbeuteten Häuser im Theater konzertieren lassen - es sind immer dieselben: aus den Kloaken des Jahrhunderts hervorgekrochene Reptilien, Absud einer hartgesottenen Menschheit - Pöbel.
 
Der Neue Tag, 11. 2. 1920



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Baisse
 
»Baisse«, das ist, wenn etwas wider Erwarten passiert. Die Spekulanten nämlich haben nicht just das erwartet, und deshalb kommt es. Es kommt immer, wenn die Spekulanten es nicht erwartet haben. So sind sie Spekulanten, denn »spekulieren« heißt: das Verkehrte von dem erwarten, was kommt.
 
Wider Erwarten stieg die Krone. Die Spekulanten verloren eine Menge Geld. Wenn sie keine Glatze hatten, so rauften sie sich so lange die Haare, bis sie eine bekamen. Es gab Spekulanten, die innerhalb vierundzwanzig Stunden kahlköpfig geworden waren. Es war ein Jammer in den Wechselstuben. Vor der Börse am Schottenring sah man am Vormittag lauter schlenkernde Arme. Die Körper waren ganz verschwunden. Die Menschen waren nur Gliedmaßen.
 
Nur er hatte sich in Sicherheit gebracht. Ich brauche ihn nicht zu nennen. Wer kennt ihn nicht, ihn, der sich stets in Sicherheit bringt? Bei einer Eisenbahnkatastrophe bleibt er in einem Gepäcknetz hängen, als wäre er ein Reisenecessaire. Bei Schiffbruch schwimmt er auf der Oberfläche des Meeres wie ein Fettauge in der Suppenterrine. Bei Theaterbrand und dergleichen hat er einen Ecksitz, knapp vor der Tür, über der die Aufschrift: Notausgang dunkelrötlich »Leben!« lächelt.
 
So sieht er aus: Das Bezeichnendste vor allem, daß er sitzt. Auf dem bequemsten Ledersofa in der Wechselstube sitzt er. Man sieht, wie stramm seine Schenkel sind, da sein gestreiftes Beinkleid die Fleisch- und Muskelfülle kaum zu bändigen vermag und prall um die strotzenden Massen schließt wie eine nasse Schwimmhose. Freilich fällt die Gestreifte tiefer unten locker wie ein kleiner Glockenschoß um den gamaschen bekleideten Stiefel.
 
In der Bauchgegend wölbt sich die gelbe Weste wie ein ausgestopftes Kalbfell, und der drittletzte Perlmutterknopf ringt nach Atem. Die steifgebügelte Hemdbrust hebt und senkt sich regelmäßig. Sie atmet selbständig und nimmt bei jeder Hebung, so aus Gefälligkeit, die Krawatte mit. Währenddessen trägt der kurze Hals in stolzer Ergebenheit einen Kopf, auf dem die Haare, mühsam von einer Drogeladung Brillantine gebändigt, stirnwärts streben.
 
Während er, ein Bein über das andere geschlungen, im Lederfauteuil sitzt und in der »Bombe« liest, kommt jener Unglücksmensch.
 
»Kaufen Sie Lire?«
 
Schweigen
 
»Brauchen Sie keine Lire?«
 
Irgendwo lächelt hinter einem Schreibpult ein eleganter junger Mensch. Der Mann mit den Liren ist natürlich ein Spekulant; verspekuliert hat er sich halt. Jetzt hat er Lire. Man fühlt, sie beschweren ihn. Sie hängen ihm um den Hals wie ein Pflasterstein um den Hals eines Selbstmörders, der justament ertrinken will. Sein Kopf ist zu Boden geneigt. Von dem Gewicht der Lire.
 
Der Gerettete im Lederfauteuil liest teilnahmslos in der »Bombe«. Ein feines Dekollete! Er tastet nach dem goldumrahmten Monokel, das an einem breiten schwarzen Seidenbändchen baumelt. Er klemmt das Glas zwischen Nasenwand und rechten Backenknochen und reißt dabei das Auge weit auf. Das linke Auge ist etwas kleiner. Der Augapfel birgt sich schlau zwinkernd zwischen den runzligen Lidern.
 
Ein feines Dekollete!
 
»Sie kaufen also keine Lire?«
 
Der Gerettete hebt sein Monokel: »Oho! Lire!
Lire haben keinen Wert. Die Krone steigt.«
 
»Ich geb' Ihnen die Lire um fünfzehnhundert.«
 
»Ich habe sie um siebzehnhundertvierzig verkauft.«
 
»Wann?«
 
»Gestern!«
 
»Mich haben sie tüchtig rasiert!«
 
»Womit hat man Sie eingeseift?«
 
»Mit Juli-Süd.«
 
»Ein Unglück! Pech! Ich habe gehört, daß der Horowitz sich erschossen hat. Hunderttausend Dollar hat er verloren.«
 
»Wer hat sich erschossen?«
 
»Der Horowitz!«
 
»Der Horowitz bin ich!«
 
»So?« Der Gerettete läßt sein Monokel fallen. Sein nacktes Auge badet in Wollust.
 
Dann geht der Horowitz. Mit den Liren, die ihn beschweren, um den Hals. Er sagt nicht: »Guten Tag!« Er denkt nur: »Keiner kauft! Kein Mensch kauft! Der Schlag soll ihn treffen!«
 
Der Gerettete nimmt »Bombe« und Monokel wieder auf. Ein feines Dekolleté.
 
Während er umblättert, sagt er schmatzend, so nebenhin, als verlöre er die Worte wie alte Tramwaykarten: »Glauben Sie, daß ich nicht weiß, es war der Horowitz?«
 
Der elegante Mensch hinter dem Schreibtisch lächelt Bewunderung. Er nimmt sich vor, stets zu den Geretteten zu gehören.
 
Er hat Talent.
 
Der Neue Tag, 22.2. 1920

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Tiere

Im Schönbrunner Park kann man wieder die Tiere sehen.
 
In den Käfigen sind nur noch sehr wenige. Der Wolf läuft rasend das Gitter entlang, auf und ab, verzweifelt, daß er kein Stückchen Brot hat, um es den hungrigen Leuten zuzuwerfen, die ihn besichtigen.
 
Der Bär, ein sehr gemütlicher Mensch mit schwarzpolierten Fingernägeln, trägt trotz Sonnenschein und Himmelbläue noch seinen Pelz und macht sich nichts daraus. Er sitzt mit Pose und Bitte-recht-freundlich-Miene. Er hält den Käfig für ein photographisches Atelier. Augenblicklich beschäftigt er sich damit, einen Leckerbissen, der außerhalb des Käfigs liegt, in sein Bereich zu kriegen. Plötzlich senkt er rasch entschlossen den Kopf und zieht den Brocken mit der langen, schlüpfrigen, sehr beweglichen Zunge herein.
 
Ein räudiges Kamel sieht aus, als hätte es seine Garderobe zum Hofschneider gegeben und liefe vorderhand in sehr blamablem Neglige herum. Ein anderes trägt seine Buckel mit hochwichtigem Ernst und ist krampfhaft bemüht, seinen Kopf recht hoch zu behalten. Manchmal bleibt es stehen, denkt ein wenig nach und sagt: langweiliges Leben.
 
Der Bison ist gutmütig, hat eine Schnauze wie ein preußischer Wachtmeister, fühlt sich aber sehr wohl in der Republik und macht einen durchaus demokratischen Eindruck. Nur manchmal rollt er ein blutunterlaufenes Auge nach rechts, wo ein weiß gekleideter Knabe steht. Der Bison möchte ein bißchen Kinder zerfleischen.
 
Das Affenhaus ist geschlossen. »Kein Eintritt« steht darauf. Parlamentsferien . . .
 
Die meisten Käfige sind leer. Die Herrschaften haben die Monarchie nicht überleben wollen und mit einer aristokratischen Geste ihre Behausungen Staatssekretären freigegeben. Ihre hochvornehmen lateinischen Visitenkarten haben sie mitgenommen.
 
Die Beuteltiere wissen noch immer nichts von dem Systemwechsel. Sie haben immer noch Beutel für eventuelle Nachkommenschaft bereit, obwohl sie eigentlich wissen müßten, daß eine Republik etwas auf Kinderheime und dergleichen gibt.
 
Die Beuteltiere sind sehr lustig. Sie hüpfen auf den Hinterbeinen und gebrauchen den Schwanz wie einen Spazierstock, der an ihrer rückwärtigen Hosennaht befestigt ist. Ihre Vorderpfötchen führen sie von Zeit zu Zeit zum Munde, um sich die Nägel mit den Zähnen zu maniküren.
 
Der Strauß hat lange nicht so schöne Federn wie jene Dame, der ich beim Eingang begegnet bin. Ich bin enttäuscht, Herr Strauß!
 
Der Schwan sieht aus, als ob er soeben aus der »Lohengrin«-Vorstellung käme, und schwimmt leicht im Teich umher, glücklich, daß er den Schmedes losgeworden ist.
 
Der Oberlehrer hat ein Geiergesicht. Er geht hier studienhalber herum. Sein Fach ist Naturlehre.
 
Ein Menschenpaar in mittlerem Lebensalter hat sich auf einer Bank niedergelassen. Es trägt seine Jungen nicht in Beuteln, sondern läßt sie mit Kieselsteinen nach den Schwänen werfen.
 
Gouvernantenpapageien führen kleine Säugetiere mit Spitzenhäubchen in grünlackierten Kinderwagerln spazieren.
 
Eine Ameisenbärfamilie mit Uhrketten, Spazierstöcken, Regenschirmen begibt sich ins Kaffeehaus im Vollgefühl ihrer durch den zoologischen Besuch erheblich gesteigerten Menschenwürde.
 
Ein herabgekommener Habicht mit grünem Plüschhütchen, kariertem Kragen und sonstigem Polizeiagentenzivilfell späht nach Beutemenschen. Sonst sind keine Tiere in Schönbrunn zu sehen.
 
Der Neue Tag, 7- 3. 1920 

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Stadtfrühling

In den Auslagen der inneren Stadtteile erblühen im März plötzlich wunderbare kostbar-durchsichtige, weiche Blusenstoffe, die Preise schießen in die Höhe, und die Kaufleute schlagen aus. Am Vormittag sind die Kaufläden halb geöffnet, und ein Auslagearrangeur setzt Frühlingswaren in die Schaufensterbeete. Der Herr Direktor steht in der Tür, leutselig neben dem goldknöpfeknospenden Portier, wie ein hold erblühter Blumenstock. Die Sonne, die seinen Scheitel trifft, löst einen warmen Dunststrom duftender Brillantine aus. Seine Lackschuhspitzen schießen Strahlenbündel in die Höhe, leuchten in flüssiger Weißglut. Er könnte sich an seinen Stiefeln eine Zigarette anzünden.
 
An den Straßenecken sind die Blumenfrauen über Nacht aufgegangen mit hängenden Frühlingsgärten von Primeln, Veilchen, Leberblumen, Schneeglöckchen. Schieber in frühjahrsmäßigen Gürteltierüberzieherfellen lassen blaue Papierfetzen für ein Veilchensträußchen in die Körbe der Frauen flattern. Die Maronimänner lassen immer noch Maroni-Anachronismen braten, deren Duft wie eine aufgewärmte Winterreminiszenz in die Luft steigt. Auf den Köpfen der Damen erblühen schüchterne Stohhüte in blassen Farben, und den kurzen Rockschößen entsprießen schlanke Seidenstrümpfe. An blonden und braunen Zöpfen baumeln Schulmädchen mit Notenmappen durch die Straßen. Aus einem plötzlich gähnenden Schultor strömt eine Wolke kleiner Kinder wie loser Dampf aus einem geöffneten Maschinenventil.
 
Die Bettler wachsen an besonnten Mauern und nützen für ihr Gebrechen die sonnige Konjunktur aus, als hätten sie eigens zu diesem Zweck einen Vertrag mit dem Himmel geschlossen. Die Spritzwagen fahren mit breiten Wasserstrahlkämmen über das Pflaster, und ein Mann mit einer Uniformkappe stäubt Wasser aus einem Gummischlauch auf die Köpfe der Passanten. Es ist wie im Kino. In den Gärten und Parks knospen Kinder im Gummiwägelchen und Blätter an dünnen Zweigen. Es ist Frühling.
 
Es ist noch ein Frühling da. Er beginnt am Gürtel.
 
Die Straßen sind aufgerissen, mit Geschwür und häßlichen Wunden bedeckt. In der Sonne sind die Fenster mit scheibengroßen Pappendeckelpflastern und schmutzigen Fetzenverbänden doppelt, dreifach, tausendfach traurig.
 
Es sind die Straßen der hohen Löhne und der weiten Armut. Die Häuser sind so unerhört groß, übermächtig, wie Schicksale, erdrückend mit ihrer steinernen Wucht; sie lasten auf der Welt wie ein unabwendbares Unglück. Sie haben unzählige Fensteraugen, wie böse Gottheiten; man fühlt ihren schmerzenden Blick im Rücken, wenn man auf der Straße steht.
 
Alle Menschen kommen aus diesen Häusern. Hier sind keine anderen Menschen als solche, die aus diesen Häusern kommen. Sie tragen den dumpf-feuchten Mauergeruch auf den Schultern.
 
In einem Misthaufen stochern fünf, sechs Kinder herum. Staub hüllt sie ein. Sie klauben alles auf: Tramwayfahrscheine und alte Postbüchel und Knochen und Blechdosen. Die Kinder sind selbständige Sammelbüchsen mit Gliedmaßen.
 
Es ist Frühling.
 
Am Abend traben berittene Holzbündel durch die Straßen. Sie reiten auf Menschenrücken.
 
Und ein Mädchen in der Straßenecke wartet auf eine Gelegenheit zu einem neuen Kostüm. Es ist Frühling.
 
Die Bäume in den kleinen Gartenanlagen haben tabes dorsalis. Ihre Knospen sind nur symbolisch gemeint. Diese kleinen Spielgärten sehen aus wie Versorgungshäuser für kranke Sträucher.
 
Der Frühling ist ein ganz, ganz anderer . . .
 
Der Neue Tag, 21. 3. 1920

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