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04.3
Joseph Roth - Werke 1
Das
journalistische Werk
1920
Der Onkel
aus Österreich
(Aus
dem Tagebuch eines Mitglieds
der
Friedenskommission der
Mittelmächte)
New York, den 25. Jänner 1920. Nun
weiß sich das arme Amerika nicht mehr zu
helfen. In New York wächst die Hungersnot ins Riesengroße. Täglich
sterben
anderthalb Millionen Menschen. Grippe und Flecktyphus wüten in den
armen
Stadtteilen. Wenn ich nur wüßte, wie man dem armen Lande helfen könnte!
28. Jänner. Hurrah! Der
Lebensmitteldiktator für die Vereinigten Staaten, Herr Franz Huber,
bürgerlicher Gemischtwarenverschleißer aus Reutitschein, hat einen
prachtvollen
Einfall: Den Amerikanern werden sogenannte »Kronenpakete« aus
Österreich
zugeschickt. Die New Yorker werden a Freud haben. An allen Straßenecken
kleben
Plakate:
Wollen
Sie Lebensmittel aus
Österreich? Schreiben Sie eine Postkarte nach Wien. In der Broadway 115
bekommen Sie die gewünschten Postkarten!
5. Februar. Die Hubersche Aktion
entwickelt sich großartig. Die Amerikaner können sich vor Freude nicht
fassen.
Vor dem Amtslokal in der Broadway 115 sind Zehntausende angestellt. Wir
mußten
dreihundert Wiener Wachleute nach New York kommen lassen zur
Aufrechterhaltung der
Ordnung. Die New Yorker haben nicht die geringste Übung im »Anstellen«.
Es ist
eine Schmach.
6. Februar.
Zweihundertdreiundsechzig Wiener Magistratsbeamte sitzen in der
Broadway 115,
um die armen New Yorker abzufertigen. Die Amtsstunden sind von neun bis
zwei.
Um Mitternacht warten die New Yorker schon. Jetzt können sie sich schon
famos
anstellen. Dabei segnet jeder New Yorker ununterbrochen seinen Onkel
aus
Österreich.
8. Februar. Heute habe ich mir
die Huberische Aktion näher angesehen. Unsere Magistratsbeamten
funktionieren
ausgezeichnet. Nur kann man diesen New Yorkern keine Ordnung
beibringen. Sie
sind hungrig, gewiß. Aber bei der Mißwirtschaft hört sich jedes Mitleid
auf.
Da
kann man halt nix machen!
Unsere Magistratsbeamten verlangen von jedem New Yorker, der sich um
ein
»Kronenpaket« bewirbt, nur die unbedingt unerläßlichen Dokumente und
Personaldaten; also z.B. Heimatschein, Meldezettel, Taufschein,
Trauschein,
Alter, Kragenweite, Hosenlänge (nur bei Männern), seit wann in New York
ansässig (vor oder nach dem ersten August 1914) und ähnliches.
Diejenigen, die Kinder
haben, müssen entweder die
Kinder selbst mitbringen oder amtlich beglaubigte Lichtbilder. Jedes
Kind muß
seine Identität durch einen am Bauch angebrachten Kautschukstempel von
der
hiesigen Polizei nachweisen. Aber diese Amerikaner! Kein Mensch hat
hier seine
Papiere in Ordnung. Von einem Meldezettel keine Spur. Ihre Kinder
lassen sich
nicht bestempeIn. Natürlich kann man ihnen da keine
Anweisungen auf
»Kronenpakete« geben. Da kann man halt nix machen! . . .
15. Februar. Wir haben weitere
zweihundertdreiundsiebzig Magistratsbeamte und Amtsdiener nach New York
kommen
lassen und die ganze Broadway gemietet. Wir statten die Amerikaner mit
allen
nötigen Dokumenten aus: Meldezetteln, Trauscheinen, Taufscheinen. Wir
bestempeln
die Bäuchlein ihrer Kinder, photographieren sie, messen ihre Halsweite
und
Hosenlänge. Natürlich sterben unterdessen täglich ein paar tausend New
Yorker.
Dieses Volk kann die »Kronenpakete« gar nicht mehr erwarten. Nun, da
kann man
halt nix machen!
25. Februar. Gott sei Dank! Nun
haben alle Amerikaner ihre Dokumente in Ordnung. Jetzt geht es an die
Überprüfung. Daß sie ihre Papiere nur nicht wieder verlieren! Seit dem
Einsetzen der Huberaktion sind zirka drei Millionen Menschen gestorben.
Nun, da
kann man halt nix machen!
10. März. Die
Huberaktion ist leider mit sehr vielen »Kronenpaketen« ins Wasser
gefallen. Das
kam so: Der Indianer Buffalo hat um zwei »Kronenpakete« eingereicht.
Die
Christlichsozialen im Wiener Gemeinderat verlangten den Taufschein des
Indianers Buffalo zu sehen.
Dabei
stellte es sich heraus -
unsere Wiener Polizei bewährt sich auch in New York sehr, daß Buffalo
noch der
Sonnenanbetersekte angehört. Die Christlichsozialen verließen den
Gemeinderat.
Sie erklärten, nicht mehr kommen zu wollen, solange die Huberische
Aktion
dauern würde. Inzwischen wurden zwei schon abgesandte Transportdampfer
mit
»Kronenpaketen« von der Besatzung gestohlen und dann versenkt.
Ganz
New York stirbt. Wir werden
schon wieder Totenscheine ausstellen müssen. Nun, da kann man halt nix
machen!. . .
Dieses
Tagebuch habe ich
vorgestern geträumt. Gestern war ich im Hause Wilhelms-Ring Nr. 8, wo
die
Scheine für die Hooverschen »Dollarpakete« ausgehändigt werden. Ein
sehr
liebenswürdiger Herr steht hinter einem Berg von Postkarten. Jeder
Bewerber
erhält drei Stück, füllt sie aus und übergibt sie dem Portier. Im Laufe
einer
halben Stunde sind zweihundert Personen erledigt. Ohne Meldezettel. Da
kann man
halt nix machen!
Josephus
Der
Neue Tag, 8.2. 1920
zurück
Pöbel
Das
ist »Sünde wider den Geist«:
der gemeine Drang unserer Zeit, die Kampfmethoden des Strolches bei der
Austragung jeglicher Art Kämpfe anzuwenden. Galt die Ellenbogentaktik
ehemals
für verrufen, heute ist es die Stiefelabsatztaktik nicht einmal mehr.
Der Sieg
der Materie ist vollständig. Der Sieg des Fleischhauerknechtes über das
Denkerhirn, des
Wasenmeisters über den
Geistigen. Die schwierige Faust eines
Wegelagerers wühlt in den
Schatzkammern geistiger Paläste. Der stinkende
Atem des
Heurigenläufers bläst Grobheitsbazillen in das zierliche
Räderwerk des Genius.
Krämer, die es sich leisten, und Gassenbuben,
die es sich stehlen
können, sitzen über dem Werk zu Gericht.
Ein
Tribunal des Pöbels, der
keine andere Arbeitsfähigkeit mitbringt als
die Eintrittskarte zu erhöhten
Preisen.
In
Berlin, der Heimat des
weinreisenden Schwadroneurs, der leider auf der
Auslieferungsliste fehlt,
trotzdem er der eigentliche Bazillenträger des
Deutschenhasses war; in dem
Berlin des Jahres 1920, in dem jener Weinreisende,
nunmehr zum Aktien-
und Bauchbesitzer aufgedunsen, es
nicht mehr nötig hat, alle
Winkel der Welt mit seinem Posel zu verpesten,
und im eigenen Lande
eine Mischung von modernem Räuberhauptmann und vorsintflutlichem
Spießer
bildet; in diesem Berlin wurde
bei der Aufführung von
Heinrich Lautensacks "Pfarrhauskomödie" so
randaliert, daß selbst die
schwärzesten Kannibalen rot geworden wären
vor Scham und ihrer Sitte,
Menschen zu fressen, für immer
abgesagt hätten aus Angst,
einen Berliner Kunstrichter vom Parkett
einmal bei einem
heimischen Festessen vorgesetzt zu erhalten.
In
München wurde Wedekinds »Schloß Wetterstein« mit Knallerbsen demoliert.
In Immschbruck,
der Hauptstadt des heiligen Landes Tirrol, erhoben
die freiheitskämpfenden
Philisterbarden ein Geheul gegen Karl
Kraus, daß selbst die
germanischen Berserker des Arminius vor ihren
eigenen Nachkommen sich in
die nordischen Urwälder verkrochen hätten.
In Wien aber, der
Stadt der Hetz und der Hausse, wurde Richard
Strauß am Sonntag durch
eine organisierte Zischbande von jenem
Dirigentenpult verjagt, an
das ihn eine sterbende Stadt, die nur noch
von ihrer Vergangenheit
zehrt, mit vieler Not berufen hatte.
Ob
sie nun Schleichhändler in
Logen oder Kunschtenthusiasten auf der
Galerie waren, die Zischer -
sie hatten kein Recht dazu. Die Eintrittskarte gibt
keinem - weder dem einen,
der sie stiehlt, noch dem anderen,
der sie kauft oder
erhält - die Berechtigung, sein Barbarentum zu
manifestieren. Tut er es im
Namen des (unredlich) erworbenen Geldes,
so ist es eine freche Überhebung.
Tut er es im Namen der Kunst,
seiner Kunscht, so ist es
eine Lausbüberei. Im ersten Fall müßte man
ihm klarmachen, daß er nur
dank einer Verlegenheitssituation der menschlichen
Gesellschaft die
Erlaubnis erhält, einen Gottesdienst durch
seinen Besuch zu entweihen.
Im letzteren, daß zwischen künstlerischem und
gesellschaftlichem Taktgefühl
innige Beziehungen bestehen und
daß er durch den Mangel an
dem zweiten sich durchaus nicht
als Besitzer des ersten
erweist. Es hat noch gerade gefehlt, daß dieses
Publikum von heute, das
die sichtbare Widerwärtigkeit seiner Anwesenheit
durch Stuhlrücken,
Zuspätkommen, »Schlüsse«-machen, Pralines-Schlecken
hörbar macht,
daß dieses Publikum auch noch seine
Kritik durch Naturlaute
kundgibt, wie sie beim Boxmatch längst nicht
mehr üblich sind. Niemand
hat ein Recht, Geistigkeit, die ihren Wert
erwiesen, zu bespeien, auch
die ehrlichen Enthusiasten nicht, die ihre
künstlerischen und
kritischen Fähigkeiten durch Gassenbüberei selbst
der Nichtexistenz
verdächtigen.
Es
handelt sich gar nicht um
Strauß oder einen anderen, Schmedes oder
Ziegler. Wir müssen uns
bestreben, den Triumph der Gosse ein wenig
zu dämmen. Es sind überall dieselben: ob sie nun bei der Ankunft eines
Autobusses und der
Elektrischen schwangere Frauen vom Trittbrett
stoßen oder die
Torschlüssel ihrer durch Kriegsgewinn und Plünderung
erbeuteten Häuser im
Theater konzertieren lassen - es sind
immer dieselben: aus den
Kloaken des Jahrhunderts hervorgekrochene Reptilien,
Absud einer
hartgesottenen Menschheit - Pöbel.
Der
Neue Tag, 11. 2. 1920
zurück
Baisse
»Baisse«,
das ist, wenn etwas
wider Erwarten passiert. Die Spekulanten nämlich haben nicht just das
erwartet,
und deshalb kommt es. Es kommt immer, wenn die Spekulanten es nicht
erwartet
haben. So sind sie Spekulanten, denn »spekulieren« heißt: das Verkehrte
von dem
erwarten, was kommt.
Wider
Erwarten stieg die Krone.
Die Spekulanten verloren eine Menge Geld. Wenn sie keine Glatze hatten,
so
rauften sie sich so lange die Haare, bis sie eine bekamen. Es gab
Spekulanten, die
innerhalb vierundzwanzig Stunden kahlköpfig geworden waren. Es war ein
Jammer
in den Wechselstuben. Vor der Börse am Schottenring sah
man am Vormittag lauter
schlenkernde Arme. Die Körper waren ganz verschwunden. Die Menschen
waren nur
Gliedmaßen.
Nur
er hatte sich in Sicherheit
gebracht. Ich brauche ihn nicht zu nennen. Wer kennt ihn nicht, ihn,
der sich
stets in Sicherheit bringt? Bei einer Eisenbahnkatastrophe bleibt er in
einem
Gepäcknetz hängen, als wäre er ein Reisenecessaire. Bei Schiffbruch
schwimmt er
auf der Oberfläche des Meeres wie ein Fettauge in der Suppenterrine.
Bei
Theaterbrand und dergleichen hat er einen Ecksitz, knapp vor der Tür,
über der
die Aufschrift: Notausgang dunkelrötlich »Leben!« lächelt.
So
sieht er aus: Das Bezeichnendste
vor allem, daß er sitzt. Auf dem bequemsten Ledersofa in der
Wechselstube sitzt
er. Man sieht, wie stramm seine Schenkel sind, da sein gestreiftes
Beinkleid
die Fleisch- und Muskelfülle kaum zu bändigen vermag und prall um die
strotzenden Massen schließt wie eine nasse Schwimmhose. Freilich fällt
die Gestreifte tiefer unten
locker wie ein kleiner Glockenschoß um den gamaschen bekleideten
Stiefel.
In
der Bauchgegend wölbt sich die
gelbe Weste wie ein ausgestopftes Kalbfell, und der drittletzte
Perlmutterknopf
ringt nach Atem. Die steifgebügelte Hemdbrust hebt und senkt sich
regelmäßig.
Sie atmet selbständig und nimmt bei jeder Hebung, so aus Gefälligkeit,
die
Krawatte mit. Währenddessen trägt der kurze Hals in stolzer Ergebenheit
einen
Kopf, auf dem die Haare, mühsam von einer Drogeladung Brillantine
gebändigt,
stirnwärts streben.
Während
er, ein Bein über
das andere geschlungen, im Lederfauteuil sitzt und in der »Bombe«
liest, kommt
jener Unglücksmensch.
»Kaufen
Sie Lire?«
Schweigen
»Brauchen
Sie keine Lire?«
Irgendwo
lächelt hinter einem
Schreibpult ein eleganter junger Mensch. Der Mann mit den Liren ist
natürlich
ein Spekulant; verspekuliert hat er sich halt. Jetzt hat er Lire. Man
fühlt,
sie beschweren ihn. Sie hängen ihm um den Hals wie ein Pflasterstein um
den Hals eines Selbstmörders, der justament ertrinken will. Sein Kopf
ist zu
Boden geneigt. Von dem Gewicht der Lire.
Der
Gerettete im Lederfauteuil liest
teilnahmslos in der »Bombe«. Ein feines Dekollete! Er tastet nach dem
goldumrahmten Monokel, das an einem breiten schwarzen Seidenbändchen
baumelt.
Er klemmt das Glas zwischen Nasenwand und rechten Backenknochen und
reißt dabei
das Auge weit auf. Das linke Auge ist etwas kleiner. Der Augapfel birgt
sich
schlau zwinkernd zwischen den runzligen Lidern.
Ein
feines Dekollete!
»Sie
kaufen also keine Lire?«
Der
Gerettete hebt sein Monokel:
»Oho! Lire!
Lire
haben keinen Wert. Die Krone
steigt.«
»Ich
geb' Ihnen die Lire um
fünfzehnhundert.«
»Ich
habe sie um
siebzehnhundertvierzig verkauft.«
»Wann?«
»Gestern!«
»Mich
haben sie tüchtig rasiert!«
»Womit
hat man Sie eingeseift?«
»Mit
Juli-Süd.«
»Ein
Unglück! Pech! Ich habe
gehört, daß der Horowitz sich erschossen hat. Hunderttausend Dollar hat
er
verloren.«
»Wer
hat sich erschossen?«
»Der
Horowitz!«
»Der
Horowitz bin ich!«
»So?«
Der Gerettete läßt sein
Monokel fallen. Sein nacktes Auge badet in Wollust.
Dann
geht der Horowitz. Mit den
Liren, die ihn beschweren, um den Hals. Er sagt nicht: »Guten Tag!« Er
denkt
nur: »Keiner kauft! Kein Mensch kauft! Der Schlag soll ihn treffen!«
Der
Gerettete nimmt »Bombe« und
Monokel wieder auf. Ein feines Dekolleté.
Während
er umblättert, sagt er
schmatzend, so nebenhin, als verlöre er die Worte wie alte
Tramwaykarten:
»Glauben Sie, daß ich nicht weiß, es war der Horowitz?«
Der
elegante Mensch hinter dem
Schreibtisch lächelt Bewunderung. Er nimmt sich vor, stets zu den
Geretteten zu
gehören.
Er
hat Talent.
Der
Neue Tag, 22.2. 1920
zurück
Tiere
Im
Schönbrunner Park kann man
wieder die Tiere sehen.
In
den Käfigen sind nur noch sehr
wenige. Der Wolf läuft rasend das Gitter entlang, auf und ab,
verzweifelt, daß
er kein Stückchen Brot hat, um es den hungrigen Leuten zuzuwerfen, die
ihn
besichtigen.
Der
Bär, ein sehr gemütlicher
Mensch mit schwarzpolierten Fingernägeln, trägt trotz Sonnenschein und
Himmelbläue noch seinen Pelz und macht sich nichts daraus. Er sitzt mit
Pose
und Bitte-recht-freundlich-Miene. Er hält den Käfig für ein
photographisches
Atelier. Augenblicklich beschäftigt er sich damit, einen Leckerbissen,
der
außerhalb des Käfigs liegt, in sein Bereich zu kriegen. Plötzlich senkt
er
rasch entschlossen den Kopf und zieht den Brocken mit der langen,
schlüpfrigen,
sehr beweglichen Zunge herein.
Ein
räudiges Kamel sieht aus, als
hätte es seine Garderobe zum Hofschneider gegeben und liefe vorderhand
in sehr
blamablem Neglige herum. Ein anderes trägt seine Buckel mit
hochwichtigem Ernst
und ist krampfhaft bemüht, seinen Kopf recht hoch zu behalten. Manchmal
bleibt
es stehen, denkt ein wenig nach und sagt: langweiliges Leben.
Der
Bison ist gutmütig, hat eine
Schnauze wie ein preußischer Wachtmeister, fühlt sich aber sehr wohl in
der
Republik und macht einen durchaus demokratischen Eindruck. Nur manchmal
rollt
er ein blutunterlaufenes Auge nach rechts, wo ein weiß gekleideter
Knabe steht.
Der Bison möchte ein bißchen Kinder zerfleischen.
Das
Affenhaus ist geschlossen.
»Kein Eintritt« steht darauf. Parlamentsferien . . .
Die
meisten Käfige sind leer. Die
Herrschaften haben die Monarchie nicht überleben wollen und mit einer
aristokratischen Geste ihre Behausungen Staatssekretären freigegeben.
Ihre
hochvornehmen lateinischen Visitenkarten haben sie mitgenommen.
Die
Beuteltiere wissen noch immer
nichts von dem Systemwechsel. Sie haben immer noch Beutel für
eventuelle
Nachkommenschaft bereit, obwohl sie eigentlich wissen müßten, daß eine
Republik
etwas auf Kinderheime und dergleichen gibt.
Die
Beuteltiere sind sehr lustig.
Sie hüpfen auf den Hinterbeinen und gebrauchen den Schwanz wie einen
Spazierstock, der an ihrer rückwärtigen Hosennaht befestigt ist. Ihre
Vorderpfötchen führen sie von Zeit zu Zeit zum Munde, um sich die Nägel
mit den
Zähnen zu maniküren.
Der
Strauß hat lange nicht so
schöne Federn wie jene Dame, der ich beim Eingang begegnet bin. Ich bin
enttäuscht, Herr Strauß!
Der
Schwan sieht aus, als ob er
soeben aus der »Lohengrin«-Vorstellung käme, und schwimmt leicht im
Teich
umher, glücklich, daß er den Schmedes losgeworden ist.
Der
Oberlehrer hat ein Geiergesicht.
Er geht hier studienhalber herum. Sein Fach ist Naturlehre.
Ein
Menschenpaar in mittlerem
Lebensalter hat sich auf einer Bank niedergelassen. Es trägt seine
Jungen nicht
in Beuteln, sondern läßt sie mit Kieselsteinen nach den Schwänen
werfen.
Gouvernantenpapageien
führen
kleine Säugetiere mit Spitzenhäubchen in grünlackierten Kinderwagerln
spazieren.
Eine
Ameisenbärfamilie mit
Uhrketten, Spazierstöcken, Regenschirmen begibt sich ins Kaffeehaus im
Vollgefühl ihrer durch den zoologischen Besuch erheblich gesteigerten
Menschenwürde.
Ein
herabgekommener Habicht mit
grünem Plüschhütchen, kariertem Kragen und sonstigem
Polizeiagentenzivilfell
späht nach Beutemenschen. Sonst sind keine Tiere in Schönbrunn zu
sehen.
Der
Neue Tag, 7-
3. 1920
zurück
Stadtfrühling
In
den Auslagen der inneren
Stadtteile erblühen im März plötzlich wunderbare kostbar-durchsichtige,
weiche
Blusenstoffe, die Preise schießen in die Höhe, und die Kaufleute
schlagen aus.
Am Vormittag sind die Kaufläden halb geöffnet, und ein Auslagearrangeur
setzt Frühlingswaren
in die Schaufensterbeete. Der Herr Direktor steht in der Tür, leutselig
neben
dem goldknöpfeknospenden Portier, wie ein hold erblühter Blumenstock.
Die
Sonne, die seinen Scheitel trifft, löst einen warmen Dunststrom
duftender
Brillantine aus. Seine Lackschuhspitzen schießen Strahlenbündel in die
Höhe,
leuchten in flüssiger Weißglut. Er könnte sich an seinen Stiefeln eine
Zigarette anzünden.
An
den Straßenecken sind die
Blumenfrauen über Nacht aufgegangen mit hängenden Frühlingsgärten von
Primeln,
Veilchen, Leberblumen, Schneeglöckchen. Schieber in frühjahrsmäßigen
Gürteltierüberzieherfellen lassen blaue Papierfetzen für ein
Veilchensträußchen
in die Körbe der Frauen flattern. Die Maronimänner lassen immer noch
Maroni-Anachronismen
braten, deren Duft wie eine aufgewärmte Winterreminiszenz in die Luft
steigt.
Auf den Köpfen der Damen erblühen schüchterne Stohhüte in blassen
Farben, und
den kurzen Rockschößen entsprießen schlanke Seidenstrümpfe. An blonden
und
braunen Zöpfen baumeln Schulmädchen mit Notenmappen durch die Straßen.
Aus einem
plötzlich gähnenden Schultor strömt eine Wolke kleiner Kinder wie loser
Dampf
aus einem geöffneten Maschinenventil.
Die
Bettler wachsen an besonnten
Mauern und nützen für ihr Gebrechen die sonnige Konjunktur aus, als
hätten sie
eigens zu diesem Zweck einen Vertrag mit dem Himmel geschlossen. Die
Spritzwagen fahren mit breiten Wasserstrahlkämmen über das Pflaster,
und ein Mann
mit einer Uniformkappe stäubt Wasser aus einem Gummischlauch auf die
Köpfe der
Passanten. Es ist wie im Kino. In den Gärten und Parks knospen Kinder
im
Gummiwägelchen und Blätter an dünnen Zweigen. Es ist Frühling.
Es
ist noch ein Frühling da. Er
beginnt am Gürtel.
Die
Straßen sind aufgerissen, mit
Geschwür und häßlichen Wunden bedeckt. In der Sonne sind die Fenster
mit
scheibengroßen Pappendeckelpflastern und schmutzigen Fetzenverbänden
doppelt,
dreifach, tausendfach traurig.
Es
sind die Straßen der hohen
Löhne und der weiten Armut. Die Häuser sind so unerhört groß,
übermächtig, wie
Schicksale, erdrückend mit ihrer steinernen Wucht; sie lasten auf der
Welt wie
ein unabwendbares Unglück. Sie haben unzählige Fensteraugen, wie böse
Gottheiten; man fühlt ihren schmerzenden Blick im Rücken, wenn man auf
der
Straße steht.
Alle
Menschen kommen aus diesen
Häusern. Hier sind keine anderen Menschen als solche, die aus diesen
Häusern
kommen. Sie tragen den dumpf-feuchten Mauergeruch auf den Schultern.
In
einem Misthaufen stochern
fünf, sechs Kinder herum. Staub hüllt sie ein. Sie klauben alles auf:
Tramwayfahrscheine und alte Postbüchel und Knochen und Blechdosen. Die
Kinder
sind selbständige Sammelbüchsen mit Gliedmaßen.
Es
ist Frühling.
Am
Abend traben berittene
Holzbündel durch die Straßen. Sie reiten auf Menschenrücken.
Und
ein Mädchen in der
Straßenecke wartet auf eine Gelegenheit zu einem
neuen Kostüm. Es ist
Frühling.
Die
Bäume in den kleinen
Gartenanlagen haben tabes dorsalis. Ihre Knospen sind nur symbolisch
gemeint. Diese kleinen Spielgärten sehen aus wie Versorgungshäuser für
kranke
Sträucher.
Der
Frühling ist ein ganz, ganz
anderer . . .
Der
Neue Tag, 21. 3. 1920
zurück
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