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04.3
Joseph Roth - Werke 1
Das
journalistische Werk
1920
Ringelspiel
Im
März lockt eine
vielversprechende Sonne hier und dort ein» Ringelspiel «aus dem
Vorstadtboden.
Man fährt eine endlose Straße entlang, an grauen Zinshäusern vorbei,
die
Kaufläden werden immer spärlicher, die Kinder schmutziger. Knapp vor
dem
Viadukt gähnt die Straße plötzlich, ihre Kinnbacken sind sperrangelweit
offen
und lassen einen freien Platz sehen, eine Wiese oder so. Man weiß nicht
recht,
was das sein mag. Die Stadt hat sich noch nicht entschieden, ob sie
sich hier fortsetzen
oder enden soll, es ist überhaupt soviel Zaghaft-Ungewisses in dem
Bretterzaun,
der am liebsten schon ganz auf dem Boden liegen möchte und nur noch aus
Repräsentationspflichten sich mühsam-gebeugt hält; in dem Gras, das
zwischen
dem Grau der Straße und dem Grün des Frühlings unentschlossen aus dem
Boden
sprießt; in den Menschen, die am Hals eine städtische Krawatte haben
und
ländliche Stiefel an den Füßen.
Hier
beginnen die Ringelspiele.
Der
Platz badet, schwimmt im
Frühlingslicht. Als hätte man aus Kübeln Sonne auf den Boden
geschüttet. Kinder
buddeln in aufgewühlten Erdhaufen. Ein philosophischer Pudel wundert
sich über
den Mangel an Fliegen bei dem Sonnenwetter. Ein paar Eisenbahner,
Pfeifen im Mund,
stehen wie blaue Pinselstriche in der Landschaft. Sie duften nach
Steinkohle
und Sehnsucht. An der Wiesenböschung rastet ein Rudel junger Menschen.
Und
in der Mitte, von einem Draht
abgesperrt, ist das Karussell.
Ein
dicker Stamm verzweigt sich
an seinem oberen Ende. Er sieht aus wie ein tausendfach vergrößertes
Skelett
eines Regenschirms. An langen Ketten schwanken Sitzbretter. Und zehn
Burschen
stehen oben auf einer Art Karussell-Dachboden und zerren an den Ketten,
immer rundherum,
rundherum. Wer einen halben Tag gezogen hat, darf zehnmal
hintereinander
umsonst Ringelspiel fahren.
Herr
Rambousek,
Ringelspieldirektor, ist imposant. An seiner silbernen Uhrkette baumelt
ein
Elefantenzahn. Herr Rambousek hat einen Anzug aus blauem geripptem
Samt. Eine
Reitpeitsche schwingt er - schwups! Knall! Hast du nicht gesehn? - in
der
Rechten. Und nach jeder Runde läßt er einen schrillen kleinen Schrei
seiner
Pfeife entfahren.
Die
Buben auf dem Dachboden hören
auf, sich zu drehen. Die Kreisbewegungen der Sitzbretter verebben auf
Befehl
der Pfeife. Dann geht Herr Rambousek - schwups! Knall! Reitpeitsche in
der
Rechten, Sportkappe in der Linken - von seinen Passagieren das
Reisegeld
absammeln. Zwanzig Heller für die Runde.
Drüben
poltert ein Spielkasten,
Polonaisen im Galopp. Rasende Baßtöne stürzen sich schnaubend auf junge
Quetschlaute. Balgerei unter den Klängen. Im Bauch des Kastens muß
Fürchterliches vorgehen. Die Molltöne unterliegen. Natürlich. War
vorauszusehen. Wenn Herr Rambousek pfeift, liegt alles, Dur und Moll,
tiefes G
und hohes Cis, durcheinander auf dem Boden.
Herr
Rambousek hat Familie. Alle
wohnen in einem Waggon auf Rädern. Herr Rambousek kommt weit herum und
ist
jederzeit reisefertig. Er braucht nur zwei Pferde vorzuspannen. Und
dann sitzt
er auf dem Kutschbock - schwups! Knall! Hast du nicht gesehn? - Fort
ist er! Ich
wüßte gern, wie Herr Rambousek das mit seinem Paß macht und mit den
Grenzen.
Aus
dem Waggonhaus hörst du einen Säugling jammern. Frau Rambousek ist im
Neglige - es ist erst vier Uhr nachmittags.
Sie
gießt mit theatralischem
Schwung schmutziges Spülwasser aus einer Schüssel über den Platz. Der
Pudel ist
aufgeschreckt aus seinen Grübeleien.
Seine Gedankenkette
ist patschnaß geworden. Er zittert, triefend vor Nervosität und Nässe.
Auf
weitgespannten Schnüren hängt
Wäsche. Der Wind bläht die Intimitäten der Familie Rambousek. Der Platz
sieht
aus wie ein Segelschiff.
Über
dem Ganzen leiser Hauch
einer halbvergessenen Romantik. Landstreicherluft. Drei Zigeuner sah
ich
einmal, lieblich war die Maiennacht . . .
Vom
Boden steigt warmer Märzduft
empor, man riecht Blühen irgendwo. Der Säugling jammert noch immer, der
Spielkasten tobt.
Und
Herr Rambousek, immer
obenauf, leichtbeschwingter Tänzer über der Beschwer des Alltags -
schwups!
Knall! Hast du nicht gesehn? - ruft: Eine Runde! Eine Runde!
Josephus
Der
Neue Tag, 25.3. 1920
zurück
Sommerzeit
Der
Magistrat verfügt, daß am
fünften April der Sommer zu beginnenhabe. Er beginnt wirklich.
Seit
dem Krieg haben die Behörden
die administrative Leitung der Naturgeschäfte inne.
Zuerst bestimmte die
Oberste Heeresleitung, wann Offensive, d. h. Frühling, und
strategischer
Rückzug, d. h. Herbst, zu beginnen hätten. Befahl sie den
Stellungskrieg, so
war Winter. Punktum.
Dann
machte sich der Magistrat
die Zeit untertan. Der Gemeinderat kontrollierte den Sonnenlauf. Er
beschließt,
daß die Haustore um acht Uhr
abends gesperrt sein müssen.
Dann kann man Gift drauf nehmen, daß die Sonne anfängt, drei Stunden
früher
unterzugehen. Der Straßenbahnverkehr wird eingestellt. Und richtig
schneit es.
Denn
wir sind, müßt ihr wissen,
sehr weit fortgeschritten. Wir wissen schon, wie man die Jahreszeiten
kommandiert: Quod erat demonstrandum.
Man
könnte ein ganzes Laienbuch
schreiben von der Weisheit der Europäer. Ganz Mitteleuropa ist Schilda.
Um zu
beweisen, daß sie stärker als die Natur seien, taten die Laienbürger
folgendes:
Sie verpesteten die Luft mit Gasbomben, zerschnitten die Erde mit
Schützengräben, kamen der Allmacht des Todes durch gegenseitiges
Erschießen zuvor
und machten es der Natur unmöglich, Kohle, Licht, Holz, Wärme, Schätze
zu
spenden. Sie verhängten sozusagen über die Natur die Segenssperre.
Dann
sahen sie, daß sie ohne die
Segnungen der Natur nicht auszukommen vermochten.
So drehten sie
einfach den Zeiger zurück, da hatten sie Licht, sie froren sich tot und
brauchten keine Kohle. Sie blieben zu Haus, legten sich schlafen,
kümmerten
sich nicht um ihre Geschäfte und pfiffen auf die Elektrizität. Sie
waren fixer
als die Natur. Im September beschloß der Gemeinderat schon den Winter.
Im
März schon den Sommer. So offenbart sich der Fortschritt.
Als
ich die »Erleichterungen der
Sparmaßnahmen« im Abendblatt las, entdeckte ich junge Knospen im
Stadtpark.
Wenn ich daran denke, daß die Theater erst um halb zwölf aus sind, wird
mir
heiß. Oh, Sommerzeit!
Ich
stelle mir die entscheidende
Stadtratssitzung über die Aufhebung der Winterzeit so schön vor: Herber
Schollenduft steigt aus den Akten auf. An den schwarzen Federstielen
und
Hardtumthe-Bleistiften (Sorte »mittel«) sproßt es knospentoll. Veilchen
sprießen aus den Tintenfässern. Der grüne Tisch ist grasüberwuchert. Am
Plafond
nisten Schwalben. Und die Bärte der ehrwürdigen Stadtväter sind aus
Flieder. Die
Welt ist voll blühender Verordnungen. Paragraphen knospen an den
Wänden, in den
Zeitungsspalten. Durch die offenen Haustore surren Maikäfer und zahlen
kein
Sperrgeld.
Der
Herr Landeshauptmann macht
die Sonne auf- und untergehend. Ganz, wann es ihm beliebt.
Wenn
erst die Kaffeehäuser bis
halb zwölf offen sind, werden die ersten Störche übers Meer ziehen. Und
pünktlich halb sechs morgens, nach der Sommerzeit, haben die Lerchen,
laut
behördlicher Verordnung, zu trillern.
Oh,
Sommerzeit! . . .
Der
Neue Tag, 25.3. 1920
zurück
Kriegsgefangenenlager
Als
der Krieg Hals über Kopf aus
dem Land mußte, ließ er aus Vergeßlichkeit ein
Barackenlager mit Russen am
Zipfel der Ausstellungstraße im Prater liegen. Dort liegt es noch.
Drahtgitter,
Brettersteige, Rote Kreuze, Orientierungstafeln, sogar ein Posten.
Nicht mehr
kaiser-königliches Bajonett aufgepflanzt, sondern Dienstrevolver,
leger,
volkswehrmäßig umgeschnallt.
Eingerosteter
Schimmer verflogener
Kriegsromantik. Man geht am Posten vorbei, nennt irgendeinen beliebigen
Namen
von russischem Klang, passiert. Eine große Baracke in der Mitte, in
deren
dunklen Gang man hineinsteigt wie in den hohlen Magenschlund eines
Riesentierleichnams.
Es
riecht nach Moder und
Speiseresten, dumpfe Kühle schlägt über dir zusammen, Fremdes kriecht
schwarz
und ungeheuerlich aus Bretterwinkeln, durch eine viereckige Zahnlücke
des
Daches bleckt grauweißes Gewölk blassen Schauer. Alle Blechtafeln über
den Türen.
»Eintritt verboten« - natürlich, mag ein Offiziersclosett gewesen sein,
oder
eine Adjutantur. Immer war irgendein Eintritt verboten.
Eine
Holztür geht auf mit leisem
Wimmern eines verhungernden Kindes; ein Russe, jung, blond, groß, in
Hemd und
Militärhose, schwarzen russischen Brustlatz vorgehängt. Er hat die
bedächtig-unbekümmerte Art eines Menschen, der vieles erlebt und dem
alles
gleichgültig, was nicht unmittelbar mit seiner Person zusammenhängt. Er
ist
nicht erstaunt, einen Fremden hier zu sehen. Was geht er mich an?
Meinetwegen können
zehn Fremde kommen! Oh, Brüderchen, ich hab' schon
Fremde gesehen!
Ich
weiß den Namen eines, der
hier lebt, eines russischen Technikers. Ich frage. Der Russe sagt
nichts. Er
winkt nur.
Da
ist ein Zimmer.
Kasernenzimmer. Eisenmarterbetten mit schwarzen Pferdedecken, Stellagen
an den
Wänden, schmutzige Dielen in ärarischem Stadium. Immer noch leben
Menschen so.
Systemgewordenes Zigeunertum, Provisorium, das ein halbes Leben währen
mag.
Russenlager: Magazin für menschliche Beutestücke. Ist nicht immer noch
Krieg?
Draußen an den Wänden kleben noch Musterungskundmachungen, und Jungen
rufen:
Extraausgabe. Generalstabsbericht: Mißlungener Gegenangriff -
sechshundert
Stück Feinde . . .
Dieses
Barackenlager und dieses
Zimmer hier sind außerhalb, irgendwo am seitlichen Wegrand der Zeit.
Seit drei
Jahren, seit vier Jahren mögen hier auf den Betten die drei Russen
kauern. Und
sprechen: der eine von der Krim, der zweite von Odessa, der dritte von
Moskau. Wenn
der erste von der Krim spricht, sehen die beiden anderen Odessa und
Moskau. Die
Krim sieht genauso aus wie Moskau, und Moskau und Odessa sind eins. Ich
glaube,
die drei verwechseln manchmal untereinander ihre Heimat, und wenn sie
erst
einmal in Rußland sind, geht der Moskauer in die Krim seine Heimat
suchen.
Das
kommt davon, wenn man so
lange in Gefangenschaft ist. Sie sind etwas stumpf, sie haben die
natürliche
Gleichgültigkeit russischer Landmenschen gegen Fremde, nach einer
Viertelstunde
bietet einer Platz an. Er hat Zeit, oh, er hat Zeit, als wäre er in
Rußland. Er
hat erst sämtliche Annoncen aus dem »Rußkoje Slovo« lesen müssen, ehe
er mir Platz bietet.
Das
»Rußkoje Slovo« erscheint
zwar in Prag, aber es ist russisch geschrieben. Genau das Russisch, das
man in
der Krim spricht, in Moskau, in Petersburg. Bei Gott! das »Rußkoje
Slovo«
könnte in Moskau gedruckt sein.
Aber
es ist leider in Prag
gedruckt. Und enthält einen Artikel über Th. G. Masaryk. Was kümmert
dich
Masaryk, Brüderchen?
»Z
Rosiji nitschowó!« Aus
Rußland kommt nichts! sagte einer und steht auf.
Er hat langsame,
bedächtige Bauernbewegungen. Er geht über die Dielenbretter, als ginge
er in
feuchter Ackererde, zwischen aufgeworfenen Schollen. Er bleibt immer
ein Bauer. Er
ist schon fünf Jahre fort,
aber ich glaube, ich rieche an ihm Herbheit des Märzbodens und ein
bißchen
beizenden Kuhmist. Er macht drei schwere, stapfende Schritte,
und man steht mitten im
Feld.
Die
drei Russen sprechen: Es ist
schad' um die Kleider, also geht man nicht in die Arbeit. Und wenn man
ein
klein bißchen krank ist, geht man zum Doktor, der verschreibt dir ein
»Rezepiß«, und die Schwester bringt die Arznei. Die Schwester, sestra,
ist
eine »ruska«, aber der Teufel hole sie! Sie ist vornehm und reicht die
Arznei nur mit zwei Fingerspitzen, durch die Schürze. Bei Gott! Solche
Schwestern!
Und
dann reden sie wieder: von
der Krim, von Odessa und von Moskau.
Es
wird Abend, einer zieht aus
einem Stiefelschaft ein Kerzenstümpfchen heraus für den Fall, daß das
elektrische Licht versagen sollte. Es versagt manchmal. Man kann nicht
wissen.
Ich
langweile sie. Sie wollen
allein sein. Und reden: von Moskau, Odessa und der Krim. Sie geben mir
zögernde, schwerfällige Hände. Sie legen ihre Hände in die meine, wie
man
Gegenstände, schwere, aber gebrechliche Gegenstände reicht. Vorsichtig
und
plump.
Draußen
herübergewehter
Schallfetzen einer blechernen Karussellmusik. Letztes Verrauschen eines
Tages
drüben im Lagerhaus. In der Baracke ist Licht. Ich wette, die drei
Russen lesen
noch einmal Prager Annoncen in russischer Sprache. Und dann reden sie:
von
Moskau, Odessa, der Krim. Und alle drei haben die gleichen Gesichter.
Der
Neue Tag, 4.4. 1920
zurück
Die
Auferstehung des Geistes
Da
er
scheintot nur, aber
begraben ist, dünkt es notwendig, über seine Auferstehung zu sprechen,
zu einer
Zeit, in der die Auferstehung der animalischen Welt aus zart erahntem
Wunder
erfüllte Wirklichkeit wird. Gewaltig ist die Sehnsucht nach dem Geist,
seitdem
er uns verlassen, seitdem wir ihn gekreuzigt. Groß war unsere Schuld,
aber auch
drückend unsere Buße. Wir verdienen das Wunder und erwarten es. Denn
alles:
Ungemach und Wirrsal, Grausamkeit und Wahnwitz, Übermut und Verzagtheit
unserer
Zeit sind aus der Vergeblichkeit dieses Wartens heraus zu verstehen und
die
Folge des völligen Verlassenseins vom Geiste. Der Mensch der Gegenwart
trägt
das Kainszeichen der Gottlosigkeit auf der Stirn. Er glaubt nicht mehr.
Aber er
wartet dennoch:
auf eine neue Religion;
auf die Auferstehung des Geistes.
Wartet
mit der rührenden
Unwissenheit eines winterlichen Baumes auf die Erfüllung dunkel
gefühlter
Wünsche, auf Sonne und Blühen.
Nennt
»Hunger« seine Qual und
"Brot« sein einziges Bedürfnis und ahnt nicht, daß er auf Erlösung
durch
den Geist wartet. Denn so verstrickt ist er in der Materialität der
Gegenwart,
so sehr Bettler und Kämpfer um »nacktes Dasein«, so sehr Kind des
Jahrhunderts,
in dem die Maschine den Geist unterjochte, das Schießpulver seinen
Erfinder, das
Objekt den Mächtigen, der Götze seinen Schöpfer, daß ihm die
Widernatürlichkeit
und Verkehrtheit der Machtverhältnisse gar nicht zum Bewußtsein kommen,
daß er
die Ursache seiner Leiden ausschließlich in der plötzlichen, aber
dauernden
Stagnation seiner Gottheit Maschine sucht und findet und sein Heil nur
von
einer reichlichen Mehlbelieferung abhängig macht. Indessen herrschen
Ungemach und
Wirrsal, Grausamkeit und Wahnwitz, Übermut und Verzagtheit selbst in
den
Ländern guter Ernten und dampfender Betriebe. Denn nichts anderes ist
die
Ursache guter Ernten als der fette Dünger und der Grund für die
dampfenden
Betriebe die größere Kohlenmenge. Es ist nur besser geölte Mechanik,
die aber
den satanischen Strömungen der Zeit keineswegs beizukommen vermag. Man
bäckt
Brot, den Blick auf das nächstliegende Ziel: Befriedigung des Magens
gerichtet –
und nichts weiter. Man heizt Dampfkessel, um Mordinstrumente, und im
besten
Fall, um Dreschmaschinen zu erzeugen, bei deren Verwendung man
wieder an nichts anderes mehr
denkt als an die Sättigung. Der Mensch unserer Zeit ist trotz Hunger
und
Unterernährung - und zum Teil auch deswegen - der Unterleibsmensch.
Eine
physische Weiterentwicklung, die eine Verkümmerung der oberen Partien
zustande brächte,
dürfte gar nicht verwunderlich sein . . .
Seit
Jahrzehnten schon geht die
menschliche Entwicklung in dieser Richtung fort, das heißt: rückwärts.
Den von
den Vätern überlieferten Geist spannte man in das Joch der »materiellen
Kultur«
(lies: Zivilisation).
Die
Lokomotive des technischen
Fortschritts zermalmte das humanistische Ideal von der »edlen Kraft und
Güte«.
Der »ritterliche Held« ward abgelöst von dem rücksichtslosen
Ellenbogenmenschen, vom Unterleibsmenschen. So ist es zu verstehen,
warum die
Folgen des letzten Krieges fürchterlicher und tiefer sind als die
vergangener.
Hier
gab es keine »Kämpfer«,
sondern Maschinen. Man »focht« nicht, sondern funktionierte. Und es
maßen sich
nicht »Kräfte«, sondern »Mächte«. »Kraft« ist göttliche Auswirkung,
»Macht«
teuflische. Ihr zu entgehen ist fast unmöglich.
Man
entgeht ihr nicht. Immer noch
ist »Macht« das Treibende im gegenwärtigen Geschehen.
Kapp und Lüttwitz »bemächtigten
sich«, die Franzosen »besetzten«, die Spartakisten »bemächtigten sich«,
die Neunkirchner
Arbeiter »bemächtigten sich«, die Bolschewikenarmee »marschiert« und
»erobert«.
Jede geistige Strömung mündet in »Politik«. (Politik ist - angewandte -
Wissenschaft
von der Konstellation der »Mächte«.) Die »Macht« hat, wer Waffen zur
Verteidigung seines Raubes besitzt und Brot genug, um Unzufriedenheit
zu
verhindern.
Denn
nichts mehr will der
Unterleibsmensch als: geschützt sein und essen. Wer diese Bedingungen
erfüllt,
ist »mächtig«. Ihm ist man »untertan«, wenn auch nicht ergeben. Der
»politische« Mensch beherrscht also den Unterleibsmenschen. Es gibt
keine
anderen Menschen. Der »höhere« Mensch ist ausgestorben . . .
Also
muß jede Bewegung, deren
Endziel Höherentwicklung, Aufzucht ist, dieses Ziel vorderhand
aufgeben, wenn
sie zur »Macht« gelangen will. So kleidet sich Sozialismus in die
Uniform des
Spartakismus.
Jener
versprach letzten Endes
Erfüllung geistiger Ideale. Aber der Unterleibsmensch braucht sie
nicht. Er
will nicht Freiheit, sondern Brot. Dieses erwartet er sich vom
»Mächtigen«. Und
»mächtig« gebärdet sich der Spartakismus, indem er die gepanzerte Geste
des
Kapitalismus übernimmt, den er abzulösen bemüht ist; indem er »den
Spieß umkehrt« . . .
Vielleicht
fehlt dem neuen
Menschen und der neuen Zeit nicht mehr als ein neues Symbol. Vielleicht
sind es
nur die alten Zeichen der Macht, die zur Macht verleiten. Denn immer
noch ist
es der längst zerschlissene Purpurmantel, den sich der jeweilige
Eroberer um die
Schultern wirft; immer noch ein Fahnenfetzen von jeweils anderer Farbe,
den die Hand des
»Mächtigen« im Winde flattern läßt; immer noch ein Kampfruf von jeweils
anderem
Ton, der die »Truppen« zum »Sieg« führt.
»Truppen«,
»Sieg«, »Fahnen«,
»Purpurmantel« - am Ende sind nur diese Erfindungen des Teufels daran
schuld,
daß wir ihm noch immer unterliegen . . .
Daß
er mit uns spielt und allen,
die sich ihm verschrieben haben. Daß er ihnen heute die »Macht« schenkt
und sie
ihnen morgen nimmt. So schnurrt das Zeitrad in jähem Wechsel »Macht«
auf
»Macht« ab. Keine hat Bestand. Denn es fehlt der sittliche Schwung, der
ethische Wille. Der Geist fehlt, der allein Bestand verleiht, und
Gottes Atem,
der den Erscheinungen ein Stückchen Ewigkeit einhaucht.
Nackte
Brutalität »kämpft« und
»siegt«, aber behauptet sich nicht auf die Dauer. Nicht »eine starke
Faust«
fehlt der Welt, sondern ein starker Geist. Denn es ist wohl wahr, daß
der
»Unterleibsmensch« nicht mehr will als Brot und Sicherheit. Aber Brot
und
Sicherheit reichen nicht aus, um ihn zu befriedigen, wenn er schon
einmal satt und sicher ist. Er trägt das Kainszeichen der Gottlosigkeit
auf der
Stirn. Er glaubt nicht
mehr. Er nennt »Hunger«
seine Qual und »Brot« sein einziges Bedürfnis. Und ahnt doch selbst
nicht, daß
er wartet: auf eine neue Religion; auf die Auferstehung des Geistes . .
.
Und
obwohl er nicht weiß, daß er
auf ihn wartet, nur, weil er auf ihn wartet, muß der Geist auferstehen.
Nicht eher wird Ruhe und Entwicklung sein.
Unter
den Nachwirkungen der
überwundenen Mächte und unter der Anwendung ihrer Symbole leiden wir.
Damit der
Geist auferstehe - schaffen wir sie aus der Welt! Befreien wir uns vom
Panzer
des Gewaltbegriffes, hören wir auf, uns »zu bemächtigen«. Wohl büßten
wir lange
genug, um des Wunders wert zu sein. Aber bereit sind wir noch nicht, es
zu empfangen.
Der
Neue Tag, 11.4. 1920
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