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04.3
Joseph Roth - Werke 1
Das
journalistische Werk
1920
Fenster
Mir
gegenüber ist die Wand mit den
vielen Fenstern. Oh, ich wußte nicht, was Fenster sind, den ganzen
Winter über,
da sie kaum bemerktes,nebensächliches Zubehör der Wand waren und,
mattgehaucht
vomFrost, winterschlafende Existenzen lebten.
Nun
aber weiß ich, was Fenster
sind: Offenbarungen fremder Leben und Tode, geschwätzige Nachbarschaft,
Plaudertanten. Ich unterhalte mich sehr gern mit den Fenstern. Der
Frühling ist
die Jahreszeit derFenster.
Am
Nachmittag sind sie alle weit
offen. Es ist ein altes Haus drüben, und die Fenster öffnen sich nicht
vornehm-reserviert nach innen, sondern auswärts. Es sieht aus, als ob
die Wand
ein Dutzend gläserner Flügel ausgespannt hätte, um plötzlich - hast du
nicht
gesehn! – auf und davon zu flattern.
Manchmal,
wenn ein Wind sich in
dem Lichthof verfängt, dreht sich ein Fensterflügel, oder eine Scheibe
zerschmettert mit mächtigem Geklirr in der Tiefe. Dann dreht sich eine
Frauenstimme kreischend in rostigen Angeln.
Manchmal
kommt ein Leierkasten in
den Hof. Dann öffnen sich die Fensterflügel weit und sagen: Bitte,
bitte sehr!
Im
ersten Stock ist die Wohnung
entschieden am schönsten. In der Fensternische starrt Rhododendron, ein
silbernes Vogelhaus überschattend, und ein Kanarienvogel wetzt seinen
Schnabel
an den Käfigstäbchen. Es ist ein zahmer Kanarienvogel, mit einem
kleinen
Häubchen auf dem Kopf. Am Morgen bekommt er Vogelfutter, und dann
zwitschert er
wohlerzogen ein Morgenlied aus dem Lesebuch. Etwa: Die liebe Sonne ist
erwacht;
oder so.
Quer
über dem Tisch prunkt ein
weiß gestickter Tischläufer aus rotem Peluche. Er hat immer ein paar
Falten,
denn die Kinder haben die üble Gewohnheit, die Ellenbogen aufzustützen,
während
sie den Kanari Gedichte aufsagen hören. Die Mutter trägt einen
geblumten
Schlafrock und Pantoffeln und streicht den ganzen Tag besänftigend über
den Tischläufer.
Dann plättet er sich. Einmal schickte ich ihr zwei Reißnägel mit einer
Gebrauchsanweisung für den Tischläufer. Aber sie glättet ihn immer
noch.
Der
Vater kommt abends nach Haus
und spielt mit seiner Frau Domino in Hemdsärmeln. Wenn sie so am Tisch
einander
gegenübersitzen, jeder die Steine vor sich, ängstlich vor dem Blick des
andern,
haben sie sehr viel Haß und Feindschaft gegeneinander. Und die
Bitterkeit einer
zehnjährigen Ehe glotzt mit schwarzen Augen aus weißglatten
»Doppelfünfern«.
Im
dritten Stock wohnt ein
Grammophon. Es ist nur ein Zimmer mit zwei Fenstern. Und das einzig
Lebendige
ist das Grammophon. Ich habe noch nie einen menschlichen Laut aus dem
zweiten
Stock gehört. Das Grammophon steht auf einer Konsole, sein weißer
Trichter mit rundem,
unerhört großem Mund schreit Jubel und Wehmut in den Hof hinaus.
Vielleicht
wohnen auch noch Menschen in dem Zimmer.
Vielleicht.
Der Herr ist sicher
das Grammophon. Das einzige Organ, mit dem die Menschen leben, die
vielleicht
dort wohnen.
Im
vierten Stock, just mir
gegenüber, wohnt eine graußweiß getigerte Katze, die sich ein ältliches
Mädchen
hält. Die Katze sitzt den ganzen Tag am Fensterbrett. Wenn das Mädchen
nicht
pünktlich nach Hause kommt, wird sie ungehalten. Sie sieht jedesmal
nach der
Wanduhr. Und wenn es sechs geschlagen hat und das Mädchen noch nicht zu
Hause
ist, stellt sich die Katze auf alle viere und fuchtelt mit dem Schwanz.
»Ich werde sie am Ersten
entlassen«, denkt die Katze. Den ganzen Tag über sehe ich durch die
offenen
Fenster.
Geheimstes
wird mir offenbar. Ich
unterhalte mich sehr gern mit den Fenstern.
Der
Neue Tag, 25.4. 1920
zurück
Fahrt in den
Krieg
Der
Krieg tobt (nicht wahr: »tobt?«) hart an des Reiches Gemarkung. (Das
ist ein Satz!!)
Durch Ostpreußen gelangt man in den Krieg.
Einmal
schon war ich im Krieg. Damals aber zog ich, Zugtier der Zeit, in ihn.
Letzthin
fuhr ich nur.
Bahnhöfe
kleiner Städte kauern, gelbbraun und träge wie große Katzen im
Mittagssonnenschein.
Unbrave
Chausseen versuchen zeitweilig, Schritt zu halten auf gleicher Höhe mit
dem
Zug. Erlahmen aber, bleiben zurück, schmachvoll überholt.
Wälder
klaffen unvermutet vor der Eisenbahn auseinander.
Schaffner
tauchen überraschend in Türfüllungen auf, mit gähnenden Zangen in
rußüberhauchten Händen. Reisende haben schreiend karierte Sportkappen
schief
aufgesetzt und lassen sorglos ihre Beine wie lockere Eisenbahnschienen
in die
Unendlichkeit baumeln.
Aus
Perronuhrgehäusen stürzen metallene Glockenschläge dröhnend aufs
Pflaster.
Große tönende Vögel, die aus dem Nest fallen.
Vierschrötige
Rohrplattenkoffer schleppen zappelnde Eigentümer mit sich. An einer
überdimensionalen Hutschachtel baumelt, runzlig, ein Frauchen.
Städte
zu beiden Seiten stellen sich auf die Zehenspitzen. Lugen durch die
Coupéfenster.
Kirchtürme und Hutfabrikanten offerieren sich bestens.
Das
Land ist platt und die Menschen groß, blond und langsam. Die
Landstraßen sind
sumpfig. Die Sprache breit und breiig. Worte stapfen in großen
Röhrenstiefeln
schwerfällig daher. Konsonanten rutschen in die Tiefebene der E- und
I-Vokale.
Aus
den Abenden steigt Bierdunst empor. Politische Brocken, in Krügeln
»Hell«
aufgeweicht, zerkaut man bedächtig. Wau-wau-Bolschewik dräut rötlich
hinter Grenzen.
Diese
sind patrouillierendes Militär. Forschen nach Unkulturdokumenten. In
fruchtbaren Randgefilden sprießen üppig Paragraphen-Schießgewehralleen,
spenden
Schatten und Schutz.
Drüben.
Der Krieg spielt gemächlich Kegel. In weiche Fernen gehüllter
Kanonenschuß
gurgelt ein bißchen.
Trainzüge
ratlos mitten im Weg. Wie Provinzler am Potsdamer Platz.
Patrouillen
wachsen plötzlich aus dunklem Wald hervor. Kommandopfropfen knallen.
Die
Erde krümmt sich schmerzlich in klaffenden Schützengrabenwunden.
Heimkehr.
Berlin: Kultur des Westens. Litfaßsäulen.
Im
Lunapark stattfinden immer noch Boxmatches. Berlin ist gerade beim
fünften Teil
der Vampire angelangt.
Vom
roten Joseph
Freie
Deutsche Bühne, 5. 5. 1920
zurück
Im
Klub der Hunde
Wie
»vornehme« Hunde leben
Neulich
ging ich in den Klub der Hunde. Wenn ich jetzt »Hund« sage, so verstehe
ich darunter
weder die übliche Behörde noch irgendwelche militärischen Vorgesetzten
aus
meiner Kriegszeit, noch meinen gegenwärtigen Chef. Denn es liegt nicht
in
meiner Absicht, Menschen oder gar Hunde zu beleidigen. Nein! Ich war
bei ordentlichen
Hunden. (Siehe Loebells »Naturlehre für die unteren Klassen«, Seite 24,
oben links, 3. Kapitel »Der Hund« [lateinische Bez. »canis«].)
Der
Klub der Hunde liegt in einer sehr schönen, etwas melancholischen
Gegend, in
der Nähe des Westend-Bahnhofes und einer anderen Haltestelle,
der Endstation des Lebens nämlich, eines Friedhofes. Hier hat die Natur
ein
Loch in die Straße gebissen. Ganz unvermutet beginnt ein Feld sich zu
dehnen,
und der Weg nimmt ländliche Manieren an. Und ein verwitterter, grauer
Bretterzaun kündet der Welt mit weißen Buchstaben:
Fehse.
»Fehse«
ist weder die Abkürzung für eine Lebensmittelzentralwirtschaftsstelle
noch
eine Hundekrankheit, sondern im Gegenteil: der Hundedoktor. Er hat ein
kleines
Sanatorium eingerichtet mit entzückenden Hundevillen aus Holzlatten,
mit
Ehe-Doppel-Strohgelegenheiten und Junggesellenlagerstätten; Klinik,
Medikamente, zahnärztliches Ambulatorium, lockere Erde für den
beliebten
Buddelsport - alles ist vorhanden. Es ist ein vornehmes Sanatorium.
Hart
an der Tür winseln zwei kleine gelbbraune Boxer herzzerreißend vor
Heimweh. Sie
sind noch jung, stecken sozusagen noch in den Kinderpfotenfellen und
sind erst
gestern hierhergebracht worden. Sie wollen unbedingt zurück, sie würden
auf
alle Bequemlichkeiten der Hundepension pfeifen, wenn sie pfeifen
könnten. Sie zerkratzen
die Tür, sie beginnen langsam zu zweifeln, an den Hunden, an der Welt,
an Gott.
Oh, es ist traurig! . . .
Dort
- was seh' ich? - Auf dem grünen Rasen tummelt sich meine Tante aus
Meseritz.
Oh, ich erinnere mich ihrer noch ganz genau. Ich weiß noch, wie sie mir
immer
Kuchen auf den Tisch stellte, wenn ich kam und mir zugleich befahl,
Gedichte
aufzusagen. Während ich deklamierte, aß sie nach einer eigenen Methode
meinen
Kuchen, immer eine Schnitte während einer Strophe und, wenn die Strophe
mehr
als acht
Verse hatte, sogar zwei Schnitten. Daran mußte ich jetzt denken.
Als
ich aber näher trat, sah ich, daß ich mich geirrt hatte: Es war gar
nicht meine
Tante, sondern ein Boston-Bullterrier, den ich sofort begrüßte. Ich
ließ mir
natürlich nichts anmerken; kein Hund der Welt konnte mir ansehen, daß
ich
überhaupt eine Tante in Meseritz habe. Der Bullterrier ist wirklich ein
anständiger Mensch, er heißt Bully und ist erheblich länger als meine
Tante.
Auch läßt Bully mich nicht deklamieren, sondern beschäftigt sich
inbrünstig mit
dem Klingeldraht.
Bully,
müßt Ihr wissen, war noch sehr jung und schwerkrank an Räude, als er
herkam, er
schwebte sozusagen zwischen der Pension und dem Jenseits der Hunde.
Endlich
entschied er sich mit Hilfe des Herrn Sadtlers, des Hundeerziehers und
Räudesachverständigen, für die Pension, weil ihm der Klingeldraht so
gut
gefiel. Er macht seitdem gewaltige Luftsprünge, um den Draht zu
erwischen, aber
es gelingt nicht.
Bully macht es wie ein gewisser Politiker - ich nenne seinen Namen
nicht-, der
seit Jahren Luftsprünge nach einem Ministerportefeuille machte, ohne es
je zu
erreichen.
In
einem Liegestuhl räkelt sich mein Hauslehrer und blinzelt mich gutmütig
aus
halbgeöffneten Augen an, ganz wie damals, als er satt und suppengefüllt
um drei Uhr nachmittags kam, um mir im Rechnen nachzuhelfen, und um
halb vier
schon schnarchte. Nur ist das hier natürlich ein satter Teckel.
Mein
Klassenlehrer dagegen geht unaufhörlich im Käfig auf und ab, knurrt und
schreit
mich an, wenn ich mich nähere. Hergeth hieß mein Klassenlehrer - Gott
habe ihn
selig! -, er bellte immer fürchterlich, wenn er mich sah, als wäre ich
der
Mond. Der Wolfshund hier im Käfig macht es genauso. Ich fange langsam
an, an
Seelenwanderung zu glauben.
Vor
dem Tor des Parlaments lustwandeln ein paar Männer der Öffentlichkeit.
Abgeordnete
und so. Gelegentlich hebt einer ein Bein, indes ein Kollege seine
politische
Ansicht beschnuppert. Ich vermute, es ist die Fraktion einer Partei,
die sich
vor Regierungsgeschäften fürchtet, denn die Herren bellen von
»Fusionen« und
»Koalitionen« und »Eventualitäten«. Es ist eine Gruppe feierlich
schwarzer Rehpinscher.
Ihre Zylinderhüte haben sie wahrscheinlich in der Hütte gelassen.
Es
ist, wie gesagt, eine hochfeine Pension. Auf Schritt und Tritt wird man
an
Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft erinnert. So wurde z. B.
der kleine
Bully mit Wein, Schnitzel und Beefsteak aufgepäppelt, seine Kur kostete
an die
tausend Mark, ein Zahn wurde ihm gezogen. Ich glaube, er wartet jetzt
noch auf
eine Goldplombe.
Im
März und im September, wenn bei den Hundedamen die Liebe erwacht,
werden die
Pensionsgäste nach Geschlechter gesondert. Denn Herr Sadtler gibt viel
auf
Moral. Diese Pension kann nicht etwa als Stundenhotel für leichtsinnig
veranlagte Herren in Betracht kommen!
Ehe
ich fortging, erwies mir ein Teckel die Ehre, meine Hose mit einer
Litfaßsäule
zu verwechseln. Diese Art, Abschied zu nehmen, ist bei vornehmen Hunden
Sitte.
Bully dagegen, der problematische Bully, hüpfte immer noch nach dem
Klingeldraht und beachtete mich nicht. Sollte er doch gemerkt haben,
mit wem
ich ihn vorhin verwechselt hatte?! . . .
»Bully«,
rief ich beleidigt, »Bully, du bist ein Hund!« Aber Bully machte sich
nichts
daraus.
Neue
Berliner Zeitung
- 12-Uhr-Blatt, 6.7. 1920
zurück
"Die Tragödie
eines Großen"
wird
jetzt im »Marmorhaus« aufgeführt. Es sind »sechs schicksalsschwere Akte
nach
einer Idee von Paul Gruner«. »Sechs Akte« hätte genügt. Man muß sich
nicht von
vornherein schicksalsschwer diskreditieren. Man muß nicht mit der Tür
ins
Marmorhaus fallen. »Tragödie eines Großen« sagt genug. Sagt sogar
zuviel.
Der
Große ist Rembrandt. Warum gerade Rembrandt, erklärt das Programm:
»Während bei
den meisten derartigen Filmen das private Leben des Helden wenig
bietet, das
für die Allgemeinheit wirklich interessant ist, verlockt die tiefe
Tragik des
Menschen Rembrandt geradezu zu einer dramatischen Gestaltung.«
Es
genügt nicht, daß etwas »geradezu verlockt«. Besonders dann nicht, wenn
die
Tiefe der Tragik eines Großen auf die Fläche einer Kinoleinwand
projiziert
werden soll. Viel zu innig sind die Beziehungen zwischen technischem
Darstellungsobjekt und dem Darzustellenden. Kein Film der Welt wird
»die tiefe
Tragik Rembrandts« dramatisch
gestalten können. Vielleicht die äußere Tragödie eines Menschen, der
außerdem
noch Rembrandt war. Aber muß es deshalb Rembrandt sein?
In
den sechs Akten ist Rembrandt der Mann zwischen zwei Frauen. Zwischen
Tochter
und Nichte des reichen Kunsthändlers. Rembrandt heiratet die Nichte.
Und findet
nach fünf schicksalsschweren Akten zurück zu Nisly, der Tochter. In
ihrem Schoß
stirbt er.
Rembrandt
ist in diesem Film zuerst »Künstler«, Schlapphutmensch sozusagen,
leichtsinnig,
vom Leben beschwipst. Dann zum Schluß »gebrochen«, verloren, betrunken.
So muß
Rembrandt im Film aussehen. Nicht anders.
Er
malt beneidenswert schnell, wie ein tüchtiger Schildermaler. Flugs,
fällt ihm
was ein, greift er zu Pinsel und Palette. Als wollte er sagen: Momang,
wern det
Ding gleich haben! Bitte recht freundlich! So muß Rembrandt im Film
malen.
Also,
warum Rembrandt? Warum das Genie in der Vorstellung Zehntausender von
Philistern neben den Kaffeehausbohemien stellen, warum den Begriff
»Genie«
profanieren helfen? Warum aus Rembrandt einen Schildermaler machen? Nur
weil er
das Pech hatte, zwischen zwei Frauen zu stehen? Mit der »Tragödie«
war's genug
gewesen für »sechs schicksalsschwere Akte«. Es mußte nicht die
»Tragödie eines
Großen« sein.
Schon
gar nicht, wenn man direkt aus der Komödie einer Größe kommt, die vor
der
»Tragödie eines Großen« gezeigt wird: nämlich Slezaks, des
Kammersängers, Leben
auf seinem Gut. Slezak, wie er ißt, betet, lacht, Witze erzählt.
Parallelität
der Erscheinungen. Man könnte beide Filmwerke verbinden. Ihnen einen
gemeinsamen Titel geben. Etwa: die Unterwäsche zweier Lieblinge des
Publikums:
Rembrandt und Slezak.
Regisseur
Günsburg tat manches, hätte mehr tun können. Holländische Häuser haben
keine
römischen Aulen. Glatte Fensterscheiben gab es nicht im sechzehnten
Jahrhundert. Aufreizend stillos wird die Regie nirgends.
Freie
Deutsche Bühne,11. 7. 1920
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