Arthur Schnitzler
Er
wartet auf den
vazierenden Gott
Erzählende
Geschichten
Er
wartet auf den
vazierenden Gott
Nämlich mein Freund Albin
wartet auf ihn. Er ist ein Poet, Albin, und zwar ist er
das Genie des Fragments; er hat noch nie etwas bis zu Ende geschrieben.
Die
Ideen strömen ihm zu, das erzählt er mir oft, und ich war dabei, wie er
in
seiner Kaffeehausecke saß, auf die Marmorplatte des Tisches starrte und
plötzlich aufsprang – weil die Ideen ihn nicht in Ruhe ließen. Ich
faßte es
sofort auf: er flüchtete vor den hunderterlei Gestalten, die da im
Qualm des
Kaffeehausdunstes um ihn tanzten, und ich, der ihm gegenübersaß,
schaute ihm
bewundernd nach. Ich wußte schon, daß er morgen mit der Mitteilung vor
mich
hintreten würde: Gestern nacht um ein Uhr hab' ich eine Novelle zu
schreiben
angefangen ... Oder gar ein Drama! Oder er würde auch sagen: Höre
einmal ... dann
pflegte er Reflexionen vorzulesen, abgerissene Sätze oder nur einzelne
Worte
mit irgendeinem überraschenden Epitheton.
Seine Reflexionen enden
gewöhnlich mit einem Gedankenstrich, so ein Gedankenstrich, der zu
einem
spricht: Bitte sehr, setzen Sie jetzt diesen Gedanken fort, wenn Sie
können! Ich weiß, daß ich einmal über einen solchen Gedankenstrich sehr
pikiert war, weil ich nicht fortsetzen konnte, und zwar insbesondere,
weil ich
das Aphorisma nicht verstand. Albin aber würdigt mich seiner
Freundschaft nach
wie vor; denn ich bin nichtsdestoweniger der einzige, welcher ihn
versteht. Man
wird jetzt begreifen, warum ich manchmal stolz erscheine.
Ganz seltsam wird mir, wenn
er mir gestattet, seine Papiere zu durchblättern. Abgerissene Szenen,
Brouillons zu Komödien, erste Kapitel die schwere
Menge, Skizzen, Pläne flattern in losen Blättern vor mir auf, und es
überkommt
mich wie ein ehrfürchtiger Schauer. Ich weiß, warum Albin eigentlich
nichts
arbeitet: es fällt ihm zuviel ein.
Neulich erst brachte er
seine Papiere mit ins Kaffeehaus. Er las mir an diesem Tage nichts vor
als
kurze Sätze, Worte oder, wie es in der Überschrift geschmackvoll hieß:
»Plötzliches.« Im Anfang mußte ich ihn manchmal unterbrechen und
fragen:
Was bedeutet das? Da empfing ich meist eine Antwort in
folgender Art: Das wird im Zusammenhange klar, oder: ich weiß es selber
nicht
mehr, oder: das gehört in irgend etwas hinein, was mir noch nicht
eingefallen
ist, oder: wie? das begreifst du nicht? ... Und dann las er unbeirrt
weiter.
Zum Beispiel: Er spielte eine Tangente am Kreise ... Wer? fragte ich.
Er warf
mir einen vernichtenden Blick zu und las weiter: Was ist Treue? Zufall,
Mangel
an Gelegenheit zur Untreue – eine Art Krankheit. (Pause.) Toter Orkan.
(Pause.)
Als ich sie das erstemal sah, gähnte sie just. (Pause.) Er ging daher
wie ein
vazierender Gott.
Wer? rief ich dazwischen.
Das weiß ich ja noch nicht, erwiderte er
beinah erregt; ich warte auf den vazierenden Gott.
Ah! Du wartest auf ihn ... Was ist das
eigentlich, ein vazierender Gott?
Das läßt sich nicht erklären, das muß
man empfinden ...
Ich empfinde es bereits, versetzte ich –
jedenfalls etwas voreilig. Ein Gott, hm – ein Gott, der vaziert ...
der, auf
den der Vergleich paßt, muß entschieden ein gewaltiger Kerl sein!
Stelle dir vor, sagte Albin
...
Ich stelle mir bereits vor,
erwiderte ich. Er geht daher ... im vollen Bewußtsein
seiner Göttlichkeit, aber er hat keine Verwendung für diese
Göttlichkeit ...
Jupiter ohne Anstellung ...
Du bist nah daran, eine
Ahnung zu haben, meinte Freund Albin.
Selbst dieses bescheidene Lob
regte mich mächtig an. Also wer? fragte
ich mich selber eifrig. Ein entthronter Fürst zum Beispiel – ich kann
mir das
sehr gut denken –, er hat den Purpurmantel über den Arm geworfen, wie
gewöhnliche Menschen den Überzieher; die Krone hat er schief aufgesetzt
und
strabanzt durch die Welt ...
Der Blick Albins schien mich fragen zu
wollen, ob ich scherzte. Und mir war es so heiliger Ernst! Immer hin
hielt ich
inne.
Hier – – hier, rief
plötzlich Albin, indem er zum Fenster des Kaffeehauses hinausdeutete.
Ich sah ein junges Mädchen stolz mit
einer Musikmappe vorüberwandeln und betrachtete sie aufmerksam, bis sie
dem
Auge entschwunden war. Mit einem gewissen kühnen Lächeln, welches ich
nur
furchtsam zu erwidern mich getraute, blickte Albin mich an. Dann machte
er eine fragende Gebärde, die im Laufe
einiger Sekunden sich so entschieden, beinahe drohend gestaltete, daß
ich
unbedingt etwas auf diese Gebärde antworten mußte. Ich rief daher: Ah!
Ja – sie ist's! –
Die vazierende Göttin, sagte er mit
sonorer Stimme, und ich hatte das Gefühl der Beschämung und Erlösung
zugleich.
Ja, ja, bestätigte ich, die
Göttin ohne Engagement ...
Da geht sie hin, sagte
Albin, den Stempel des Genius auf der Stirn, aber wer weiß es außer den
Sehenden? Das Erkennen ist eine schwere Kunst, und
die Welt ist blind!
Blind, blind! – rief ich erschüttert
aus.
Vazierender Gott –
phantasierte er fort –, mancher vaziert freilich so lange in tiefen
Sphären
umher, bis die letzte Spur seines herrlichen Wesens verlorengeht ...
Ja, sagte ich, und die wallenden
Gewänder schleppen im Kote nach.
Weißt du, wandte er sich
jetzt lebhaft an mich, daß auch der Gott der Bibel einmal nichts zu tun
hatte.
Diese Bemerkung setzte mich in
Erstaunen.
Er aber fuhr fort: Jetzt
freilich hat er genug zu tun; aber was tat er denn, bevor er die Welt
erschuf;
vor den gewissen sechs Tagen, an deren letztem er den Vater unseres
unglückseligen Geschlechts erschuf?
Bei diesen Worten nahm er
Notizbuch und Bleistift, um dieses Aperçu rasch aufzunotieren. Es wird
der Nachwelt erhalten bleiben.
Ich schaute durch das große
Spiegelfenster auf die Straße, und meine Phantasie suchte in jedem
harmlosen
Bummler den vazierenden Gott zu entdecken. Die Leute sahen aber so
gewöhnlich aus ... Vazierend erschien mir wohl
der eine oder andere; aber nach dem Stempel der Göttlichkeit spähte ich
vergebens.
Mit einem Male nahm Albin
das Wort: Die Genies, denen die letzte Inspiration fehlt, sind es!
Verstehe mich wohl! Die letzte Inspiration; denn wie diese käme, so
könnten sie das Wunderbare, Vollendete schaffen, das sie zum Himmel
emporträgt
– als Götter, die ihre Heimat gefunden. Aber die Genies, an denen die
Natur
sozusagen die letzte Feile vergessen, die sie als Torso mitten auf den
Markt
der großen Geister warf und die nun mit dem Funken aus einer anderen
Welt im
Busen unter den Menschen umherwandeln – sie sind es! Das sind die
vazierenden
Götter!
Ich nickte beifällig mit
dem Kopfe. Der Vergleich paßt im allgemeinen, sagte
ich. Aber, setzte ich zögernd
hinzu, sind es doch nicht eher diejenigen, welche eigentlich alles
vollbringen könnten und denen nicht die letzte Inspiration fehlt,
sondern,
welche diese Inspiration vorübergehen lassen und mit allen ihren
großartigen
Plänen gemütlich weiterbummeln, ohne was Rechtes anzufangen, und sich
genügen
lassen im Bewußtsein ihrer himmlischen Würde? Sie mischen sich unter
die Sterblichen und lassen sozusagen die
Unsterblichkeit verfallen, auf die sie eine Anweisung in der Tasche
tragen.
Albin hatte mir aufmerksam
zugehört und lächelte. Ja, ja, sagte er
ganz still vor sich hin; recht, recht ... wir sind es!
Wir ... Wir sind es?
Ein Blick von ihm belehrte
mich, daß ich nicht im geringsten gemeint sei. Wir? ... Er! – Ich
schaute
Freund Albin an, und er mochte etwas wie Ehrfurcht in meinen Augen
lesen.
Er stand auf, durchmaß mit
großen Schritten den Saal des Kaffeehauses, nahm Hut und Rock vom
Nagel. Ich verstand ihn.
Mit
diesem Gefühl mischte
er sich jetzt unter die Gewöhnlichen, unter die Tausende. Wortlos
reichte er mir die Hand und ging dahin – wie ein vazierender
Gott.
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