Der
fürchterliche Winter war vorbei. Als er das erste
Mal wieder in seinem Zimmer das Fenster offen lassen konnte, die ersten
Lüfte
des Frühlings hereindrangen, der dumpfe Lärm der Straße herauftönte,
begann er
zu fühlen, daß das Leben für ihn noch nicht zu Ende war. Von jetzt an
verbrachte er nachmittags, wenn er aus dem Büro nach Hause kam, ganze
Stunden
am offenen Fenster. Er rückte sich einen Sessel hin, nahm ein Buch zur
Hand und
versuchte zu lesen. Aber immer ließ er das Buch bald auf den Schoß
sinken und
sah ins Freie. Seine Wohnung lag im höchsten Stockwerk; wenn er so saß,
war nur
der blasse Himmel ihm gegenüber. In diesen letzten Märztagen wehte oft
ein
leiser Wind, der ihm vom Stadtpark den kühlen Duft der ersten Blüten
herauftrug.
Am
letzten Oktobertag des vergangenen Jahrs war seine
Frau gestorben. Seitdem hatte er hingelebt wie ein Betäubter. Daß seine
Frau
jung dahingehen, daß sie ihn als noch jungen Mann allein auf der Erde
zurücklassen
könnte, war ihm nie in den Sinn gekommen. In den ersten Wochen nach
ihrem Tod
war ihr Vater noch manchmal aus der Vorstadt, wo er ein kleines
Geschäft besaß,
zu ihm hereingefahren, aber die Beziehungen zwischen ihm und dem alten
Mann,
die immer ganz lose gewesen, hörten bald ganz auf. Seine eigenen Eltern
waren
früh gestorben. Sie hatten in einem kleinen Ort fern der Hauptstadt
gewohnt,
den er noch als Knabe verlassen, um das Gymnasium in Wien zu besuchen.
So kam
es, daß er beinah seine ganze Jugend unter fremden Leuten verbringen
mußte.
Nach dem Tode seines Vaters, der Notar gewesen war, gab Gustav seine
Gymnasialstudien auf, die er mit Fleiß, aber ohne Begabung bis zu
seinem
siebzehnten Jahre betrieben hatte. Er trat in ein Eisenbahnamt ein, das
ihm von
Anbeginn ein bescheideneres Einkommen und die Hoffnung auf ein
langsames, aber
sicheres Fortschreiten bot. Seine Jünglingszeit ging still dahin. Im
Büro tat
er seine Pflicht, und seine Vergnügungen waren spärlich. Er ging in
jedem Monat
einmal ins Theater, und jeden Samstag wohnte er einem geselligen
Abend im
Kreise der Bürokollegen bei. In seinem dreiundzwanzigsten Jahre
verwirrte sich
die Ruhe seines Lebens auf kurze Zeit. Eine junge Frau, die er auf
einem
Vergnügungsabend des Gesangvereins kennengelernt, wurde seine Geliebte.
Er
durchlebte manche Leiden der Eifersucht und einen heftigen Schmerz, als
sie mit
ihrem Gatten Wien verließ. Bald aber war er froh, daß jene Zeit der
Aufregung
vorüber war, und aufatmend kehrte er zu seiner früheren Lebensweise
zurück.
Nach
vier weiteren Jahren lernte er ein Mädchen
kennen, das zuweilen die Familie besuchte, bei der er damals wohnte. Er
wußte
bald, daß er nie einem Wesen begegnen würde, das besser zu seiner
Gattin taugte
als dieses. Von seinen Hausleuten erfuhr er so viel über sie, als er
wissen
wollte. Sie war durch ein ganzes Jahr verlobt gewesen, ihr Bräutigam
war
gestorben, und seither schien eine stille Trauer über ihr ganzes Wesen
gebreitet. Sie hatte die schlichte Bildung junger Mädchen aus den
mittleren
Bürgerkreisen und überdies ein ausgesprochenes musikalisches Talent.
Man
erzählte ihm, daß sie schöner singe als manche berühmte Sängerin.
Es
wurde ein
Ehrgeiz für Gustav, die Lippen dieses jungen Mädchens wieder lächeln zu
machen,
und er dachte jetzt gern an jenes Abenteuer aus seiner ersten Jugend,
um in
dieser Erinnerung zu fühlen, daß er doch auch die Fähigkeit besäße,
edlen
Frauen etwas zu bedeuten.
Er
war sehr glücklich, als Therese das erstemal
lächelte, während sie zu ihm sprach; an jenem Abend empfand er eine Art
von
Rausch, der ihn stolz machte, ohne daß er wußte, warum. Wenige Monate
darauf
wurde sie seine Frau, und ihm war, als begänne erst jetzt das Dasein
für ihn.
Das Bewußtsein, ein junges Wesen in den Armen zu halten, das noch
keinem vor
ihm gehört, erfüllte ihn mit Wonne. Anfangs fürchtete er, dieses reine
Geschöpf
durch die Glut seiner Zärtlichkeiten zu entweihen, aber als sie sich
ihm bald
mit der gleichen Rückhaltlosigkeit entgegenbrachte, gab er sich seinem
Glücke
völlig hin. Da ihre Ehe kinderlos blieb, änderten sich die Beziehungen
zwischen
ihnen durch viele Jahre gar nicht. Sein Haus war für ihn zugleich die
Stätte
des Friedens und der Freude. Von seinen früheren Bekannten zog er sich
zurück.
Nur wenige Leute besuchten das junge Paar, und diese nur selten:
Theresens
Vater und eine ihrer Freundinnen, ein verblühendes Mädchen, das für
Gustav nur
dadurch eine gewisse Bedeutung hatte, daß sie Therese zuweilen zum
Singen
begleitete. Häufig aber sang Therese ganz allein, und das war ihm das
liebste.
In ihrer Stimme erklang ihm ihre ganze aus Reinheit und
Leidenschaftlichkeit
wunderbar gemischte Seele. Manchmal bat er sie des Nachts, ganz leise
ein
Schubertsches Lied zu singen. Das tat sie dann, indem sie ihn an sich
heranzog,
ihre Lippen ganz nah an sein Ohr brachte, und nun war die Dunkelheit
des
Zimmers von Schauern des Entzückens und der Bewunderung ganz erfüllt.
Therese
hatte ein kleines Vermögen in die Ehe
gebracht, das eben dazu ausreichte, eine einfache Wohnung behaglich
auszustatten; leben mußten sie von dem Gehalt des Mannes. Aber die
Wirtschaftlichkeit der jungen Frau ließ nirgends das Gefühl einer
Entbehrung
aufkommen, ja im Sommer durften sie sich sogar während der Urlaubszeit
von drei
Wochen einen Aufenthalt in irgendeinem kleinen Walddorf
Niederösterreichs
gönnen. Die Zukunft stellte sich ihnen bei den als ein ungestörtes
Miteinanderleben dar, die Schwermut des Alters lag noch in weiter
Ferne, und an
ein Ende dachte keines von ihnen. Sie waren nach siebenjähriger Ehe ein
Paar
von Liebenden.
Im
September, kurz nachdem sie von dem Landaufenthalt
heimgekehrt, wurde Therese krank. Der Arzt gab von Anfang an keine
Hoffnung,
aber Gustav glaubte ihm nicht. Es schien ihm vollkommen unmöglich, daß
Therese
sterben könnte. Sie klagte wenig, sie schwand dahin. Er begriff es gar
nicht
recht. Erst in den letzten Tagen begann er es zu verstehen, was ihm
bevorstand;
da blieb er zu Hause und rührte sich von ihrem Bett nicht mehr weg.
Eine
ungeheure Angst kam über ihn. Er ließ zwei berühmte Professoren rufen;
sie
konnten nichts tun, als ihn vorbereiten, daß es bald zu Ende sein
werde. Erst in
der letzten Nacht fühlte Therese selbst, daß sie verloren sei, und nahm
Abschied von ihm. Diese Nacht verging, dann kam noch ein endloser Tag,
an dem
es regnete. Gustav saß an Theresens Bett und sah sie sterben. Es war um
die
Stunde, da die Nacht hereinbrach.
Dann
war der fürchterliche Winter gekommen, der ihm
jetzt beim Wehen der ersten Frühlings winde erschien wie eine lange
schwere,
dumpfe Nacht. Auch seine Berufspflichten hatte er wie in einem
Halbschlaf
erfüllt, aus dem er nun allmählich erwachte. Aber mit jedem dieser
Frühlingstage schien er sich selbst mehr zur Besinnung zu kommen. Sein
Schmerz,
der ihn wie ein grimmiger Feind umfangen gehalten, ließ ihn allmählich
los.
Gustav atmete auf; er fühlte, daß er wieder am Leben war. Abends
ging er
spazieren. Er machte lange Wege, wie er sie vor Jahren gern
zurückzulegen
pflegte, anfangs nur in den Straßen der Stadt, dann, als die Tage
länger
wurden, weiter hinaus ins Freie, zu den Wiesen, Wäldern und Hügeln. Er
liebte
es, sich müde zu gehen. Vor dem Nachhausekommen hatte er eine gewisse
Angst:
nachts umgaben ihn die Wände seiner Wohnung mit quälender Enge, und
wenn er
aufwachte, weinte er nicht nur aus Schmerz, sondern auch aus Furcht. Er
nahm
den Verkehr mit seinen alten Bekannten wieder auf und kam abends
zuweilen in
das Gasthaus, wo einige Bürokollegen zu nachtmahlen pflegten. Als er
einmal
erzählte, daß er schlecht schliefe, riet man ihm, etwas mehr Wein als
gewöhnlich
zu trinken. Wie er diesem Rate folgte, bemerkte er verwundert, daß er
an den
Gesprächen lebhaft Anteil nahm und sich beinah froh erregt fühlte.
Nachher, als
er allein nach Hause ging, kam ihm vor, als hätten ihn seine Freunde in
einer
sonderbaren, gewissermaßen mißbilligenden Art betrachtet, und er
schämte sich
ein wenig.
Die
Tage wurden wärmer, und die Abende waren sehr
lind. Seine Sehnsucht nach der Toten wurde wieder heftiger, und es gab
Stunden,
da jenes entsetzliche Bewußtsein des unwiderruflich Verlorenen mit der
ganzen
Kraft eines neuen Unglücks über ihn hereinbrach. Als er einmal an einem
Sonntagnachmittag allein im Dornbacher Park spazierenging – der
Frühling war in
seiner ganzen Pracht über ihm, die Bäume waren gründicht belaubt, die
Wiesen
glänzten in hellen Farben, alle Wege waren von Spaziergängern belebt,
Kinder
spielten und liefen, junge Leute lagerten am Waldesrand –, da verstand
er das
erste Mal ganz, wie einsam er war, und wußte nicht, wie er sein Leid
weiter
tragen sollte. Er hatte das Bedürfnis, laut aufzuschreien, fühlte
selbst, wie
er mit weitaufgerissenen Augen und einem absonderlich raschen Gang
unter allen
den Menschen seinen Weg fortsetzte, und merkte auch, daß ihn manche mit
Verwunderung betrachteten. Er wollte den Leuten entfliehen, suchte
stillere
Wege auf, stieg zwischen den hohen Birken und Tannen die Sofienalpe
hinan und
kam oben an, als die Sonne unterging. Er sah die Täler und Hügel in
rötlich-weißem Glänze liegen, und als er sich umwandte, sah er die
Stadt wie in
blaß-silbernen Dunst versinken. Er stand lange da und wurde ruhiger.
Über der
Landstraße, die er bis tief ins Tal hinunter verfolgen konnte, flogen
leichte,
niedere Staubwölkchen hin, dumpf hörte er das Rollen von Wagen, und
laute
Menschenstimmen, helles Lachen klang herauf. Langsam schlug er den
Rückweg
ein, nicht durch den Wald, wie er gekommen, sondern auf der breiten
Fahrstraße.
Er blieb manchmal stehen und atmete auf, als wäre ihm von irgendwoher
ein Trost
gekommen. Die Dämmerung brach rasch herein. An hübschen Landhäusern
vorbei, vom
Strom der Leute mitgerissen, kam er bald zu einem großen Wirtsgarten,
der sehr
besucht war. Die Gartenlaternen waren angezündet, an einem Tisch in der
Tiefe
des Gartens saßen Musikanten, die auf Ziehharmonika, Geige und Flöte
Wiener
Lieder spielten, während einer mit einer hohen und süßlichen Stimme
dazu sang.
Ziemlich weit von diesen, gleich neben dem Eingang, nahm Gustav Platz.
Er
betrachtete die Leute in seiner Nähe; am Tisch neben ihm saßen zwei
junge
Mädchen, die ihm sehr hübsch erschienen, die er sehr lange ansah. Er
erinnerte
sich seiner Junggesellenzeit, denn seitdem hatte er Frauen nie wieder
mit
solchem Blick betrachtet.
Frauengestalten
kamen ihm ins Gedächtnis, die er im
Laufe der letzten Zeit auf seinen regelmäßigen Wegen vom Hause ins Büro
begegnet, die ihm aber nichts bedeutet hatten. Heute, diesen blonden
jungen
Mädeln gegenüber, fühlte er zum ersten Male wieder, daß er noch ein
junger Mann
war. Jetzt fiel ihm auch ein, wie ihn manchmal die Frauen zuweilen auf
der
Straße anschauten, und mit Schrecken und Freude zugleich wurde ihm
bewußt, daß
das Leben doch noch nicht für ihn vorbei sein konnte und daß es schöne
Frauen
oder Mädchen gab, die er vielleicht umarmen würde. Wie ein Schauer ging
es ihm
über Hals und Lippen, wenn er an die Küsse dachte, die ihm noch
bestimmt waren.
Ein eigentümlicher Drang ergriff ihn, sich eines der Mädchen gegenüber
am
Tische in seinen Armen vorzustellen, und er schloß die Augen. Aber kaum
waren
ihm die Lider gesunken, so hatte er das Antlitz seiner toten Frau vor
sich und
sah ihren Mund langsam, mit einer leisen zuckenden Bewegung, die ihr
eigen
gewesen, sich dem seinen nähern.
Entsetzt
riß er die Augen wieder auf. Dieses Mädchen
war nichts mehr für ihn. Er fühlte, daß keine Frau der Welt je mehr
etwas für
ihn bedeuten könnte. Mit der gleichen Gewalt wie heute während des
Spazierganges brach sein Schmerz wieder hervor, und er wußte, daß er
für die
Welt und ihre Freuden verloren war. Er schämte sich der
vorausgegangenen
Augenblicke, und der Gedanke, je wieder ein Weib in seinem Arm zu
halten,
erfüllte ihn mit Ekel und Scham.
Ganz
vernichtet machte er sich auf den Heimweg. Es war
ihm, als müßte er sich kasteien; er ging den langen Weg bis in seine
Wohnung zu
Fuß und kam in einer so tiefen Müdigkeit an, wie er sie nie
verspürt zu
haben glaubte, Leib und Seele schienen ihm wie zerschlagen; ein
unruhiger,
schwerer Schlaf kam über ihn, und er wachte mit der dunklen Ahnung auf,
als
stünde ihm etwas Gräßliches bevor.
In
den nächsten Tagen quälte er sich damit, eine neue
Ordnung und einen neuen Inhalt für seine Existenz zu finden. Er sah
ein, daß er
sich dem wütenden Schmerz nicht weiter hingeben durfte, wenn er nicht
zum
Weiterleben unfähig werden wollte. Er wunderte sich jetzt im
Zurückdenken, wie
er eigentlich sein Dasein verbracht, bevor er seine Frau kennengelernt
hatte;
es schien ihm, als wäre es eine Art von Traumleben gewesen. Abgesehen
von
Büroarbeiten, die er stets mit einer gewissen Freude an seiner eigenen
Verläßlichkeit besorgt hatte, waren seine geistigen Bedürfnisse gering
gewesen.
Er hatte gern Musik gehört und zuweilen Reisebeschreibungen gelesen,
die ihn
aber weniger durch einen abenteuerlichen Inhalt als durch Natur
Schilderungen
zu fesseln pflegten.
Und
wenn er
sich jetzt fragte, was er am liebsten anfangen möchte, so mußte er sich
sagen:
reisen. Es war ihm aber unmöglich, seinen Beruf aufzugeben, und ein
kurzer
Urlaub, den er hätte erlangen können, wäre wertlos für ihn gewesen; ja
bei
näherer Überlegung überfiel ihn sogar eine gewisse Angst davor, in
fremden
Gegenden allein und ganz seinen Erinnerungen verfallen umherzuirren. So
schwand
die leichte Beruhigung, die der Anfang des Frühlings gebracht, wieder
dahin.
Auch
die Gesellschaft seiner Kollegen im Wirtshaus
wurde ihm unangenehm, er kam seltener und ging früher fort. Einmal
geschah es
ihm, daß ihm nachts beim Nachhausegehen auf der Stiege sein Licht
verlöschte,
da überfiel ihn eine solche Furcht, daß er sich auf den Stufen
hinsetzte,
zusammenkauerte und wimmerte. Er suchte zitternd nach seinen
Streichhölzern.
Als er eines fand und Licht machte und eine flackernde Helle um ihn
sich
verbreitete, versuchte er über sich zu lächeln. Absichtlich behielt er
das
Lächeln auf den Lippen, bis er in seinem Zimmer war. Da erblickte er
sich im
Spiegel und erkannte sich nicht. Er trat näher hin – so nah, daß sein
Hauch den
Spiegel trübte. In der einen Hand hielt er den Leuchter mit der Kerze,
er
stellte ihn auf die Kommode, über der der Spiegel hig, dann wich er
zurück,
setzte sich aufs Bett und entkleidete sich rasch mit dem Gefühl, daß er
sich
ins Bett flüchten müßte. Als er ausgestreckt dalag, zog er die Decke
übers
Gesicht. Da fiel ihm ein, daß das Licht noch brannte, aber er wagte es
nicht
aufzustehen. Er nahm sich vor, so lang wach zu bleiben, bis die Kerze
gänzlich
heruntergebrannt war. Langsam entfernte er die Decke von den Augen, da
stand
das Licht, und im Spiegel sah er es noch einmal. Er starrte hin und war
nach
wenigen Sekunden eingeschlafen.
Am
nächsten Morgen beim Aufwachen fiel ihm aber nicht
vor allem seine Angst von gestern Abend ein, sondern jener Spaziergang
auf die
Sofienalpe vor wenigen Tagen. In der Erinnerung erschien ihm der als
ein
angenehmes Abenteuer, und wie etwas Erlösendes tauchte der Gedanke in
ihm auf,
daß er ja jeden Nachmittag aufs Land gehen, sich abends immer in einen
Wirtshausgarten setzen und junge Mädchen und Frauen betrachten konnte.
Selbst
im Büro während der Arbeit konnte er heute an nichts anderes denken als
an
Wälder und Wiesen, wo junge Weiber, Frauen und Mädchen, in leichten
Sommerkleidern und mit hellen Sonnenschirmen herumgingen. Aber als er
nachmittags ernstlich daran dachte, aufs Land zu fahren, war er so
müde, daß
ihm die Ausführung einfach unmöglich vorkam. Er legte sich angekleidet
auf sein
Bett und hatte das Gefühl eines Menschen, der langsam von schwerer
Krankheit
genest.
Abends
ging er
sehr langsam über den Ring spazieren und hatte eine Art von stiller
Freude,
wenn die Blicke vorübergehender Mädchen dem seinen begegneten. Manche
sah ihn
auch länger an, wandte selbst leicht den Kopf nach ihm um, und ihm
schien in
allen diesen Blicken eine Wärme, die er lange nicht gefühlt und nach
der er
eine große Sehnsucht gehabt hatte. Weiter gingen seine Wünsche nicht.
Er dachte
nicht daran, eine Bekanntschaft anzuknüpfen oder eines dieser Wesen in
die Arme
zu schließen; er freute sich nur ihres Daseins und ihrer Blicke.
Noch
mehrere Tage vergingen in dieser beinah
traumhaften Weise, daß er vormittags im Büro von Wäldern und Wiesen und
hübschen Frauen träumte, nachmittags halb schlummernd auf seinem Bett
lag,
abends spazierenging und ziemlich früh in einem Wirtshaus, meist im
Freien, an
einem Tisch hinter dem Staket zu Abend aß.
Als
er wieder einmal von seinem Nachmittagsschlummer
erwachte und mitten im Zimmer stand, erschien mit einem Mal das ganze
Leben
dieser letzten Tage unverständlich. Am seltsamsten von allem erschien
ihm, daß
er nun ganze Tage seiner Frau nicht mehr gedacht, gewiß nicht mit
wahrem
Schmerz sich ihrer erinnert, und er bekam plötzlich eine große
Sehnsucht zu
weinen, als könnte er damit sein Unrecht wieder gutmachen. Aber
er hatte
keine Tränen.
Dann
auf der Straße, als der Zug der Frauen an ihm
vorüberschwebte, flossen ihm langsam, als schämten sie sich ihrer
Spärlichkeit
und ihrer Verspätung, die Tränen über die Wangen. Gleich nachher war es
ihm,
als hätte er eine Schuld getilgt; er ging rascher und spürte etwas von
Fröhlichkeit, da er so dahinschritt.
Mit
einer plötzlichen Klarheit wußte er heute, daß er
wieder glücklich sein wollte und daß er es sein durfte. Ja, es überfloß
ihn mit
einer leisen Wonne, daß ihm so viel zur Verfügung stehe; er dachte an
die
Hunderte von schönen Weibern, die sich ihm nicht verweigern würden,
wenn er
wollte; jedes Lächeln, das ihm zu gelten schien, jede zufällige
Berührung trieb
ihm fliegende Schauer durch den ganzen Leib. Er freute sich auf irgend
etwas,
das ihm in der nächsten Zeit bevorstand, das er haben konnte, wenn er
wollte –
in einer Woche, oder morgen, oder heut, in einer Viertelstunde, wenn es
ihm
beliebte, und das Ungewisse innerhalb dieser Gewißheit war ein Reiz
mehr. Er
setzte sich auf eine Bank in der Nähe des Volksgartens. Aus dem Garten
tönte
Musik, und in ihrem Klang schienen die Leute, die an Gustav
vorübergingen, sich
zu wiegen. Er nahm den Hut ab, legte ihn auf die Knie, und ihm war, als
wenn er
damit einen schweren Eisenring von seiner Stirn entfernt hätte. Jetzt
schien
ihm, als dürfte er darangehen, Pläne zu fassen. Er hatte die
Empfindung, als
wäre heut nachmittag um sechs Uhr seine Trauerzeit zu Ende gewesen, und
er
hatte nun auch andere Pflichten, andere Rechte als ein paar Stunden
vorher.
Dabei war er ganz ruhig, er hatte kaum einen Wunsch, nur das Gefühl der
Beruhigung, daß sein Wunsch kein Verbrechen mehr und die Erfüllung
leicht sei.
Er
saß schon lange Zeit auf der Bank, als er ein
junges Paar neben sich erblickte, das eben erst gekommen sein mußte.
Die beiden
sprachen leise, aber er konnte doch mancherlei verstehen; es schien
sich um ein
Wiedersehen für den nächsten Tag zu handeln.
Jetzt
besann er sich, daß es auch notwendig sein
werde, an das Wesen, dem er sich nähern wollte, Worte zu richten, und
das
schien ihm in diesem Augenblick so schwer, daß ihm eine Röte der Angst
ins
Gesicht stieg. Er überlegte, wie er mit irgendeiner Frau ein Gespräch
beginnen
sollte, und dachte sich aus, was er zu jeder einzelnen sagen würde. Es
kam ein
junges Mädchen vorbei mit einem kleinen Jungen. Da würde er sagen:
»Guten
Abend, Fräulein. Das ist aber ein reizender Bub! Gewiß der Herr
Bruder?« Dabei
mußte er selbst lachen, denn das war zweifellos ein guter Witz, einen
kleinen
Buben den »Herrn Bruder« zu nennen, und das junge Mädchen hätte sicher
auch
gelacht. Da war sie ja noch – zehn Schritt weit; aber er wagte es doch
nicht.
Jetzt
kam eine
ziemlich dicke Frau, die Noten in der Hand hielt. Die hätte er fragen
können,
ob er die Noten tragen dürfte. Dann kamen zwei ganz jungen Dinger, die
eine
hatte eine Schachtel in der Hand, die andere mit einem Sonnenschirm
redete sehr
geschwind und wichtig.
Der
hätte er sagen können: »Erzählen Sie mir doch auch
etwas, Fräulein!« Aber das war doch zu frech.
Nun
kam eine junge Person, die sehr langsam ging und
den Kopf hin und her wiegte, ganz für sich, als interessiere sie die
übrige
Welt nicht im geringsten. Wie sie an Gustav vorüberging, schaute sie
ihn an und
lächelte, als käme er ihr bekannt vor. Er stand auf, aber nicht, weil
sie
gelächelt – sondern weil sie in der Gestalt und insbesondere jetzt, wie
er sie
von rückwärts sah, eine so außerordentliche Ähnlichkeit mit seiner
verstorbenen
Frau hatte, daß er beinahe erschrocken war. Ja, selbst die Frisur war
die
gleiche – auch solch einen Hut mußte seine Frau irgendeinmal getragen
haben.
Und je weiter sie sich von ihm entfernte, um so eher hätte er sich
einbilden
können, daß es die Gestorbene war. Er fürchtete sich davor, daß sie
sich wieder
umwenden könnte, denn die Züge selbst hatten keine Spur von
Ähnlichkeit; nur
der Gang, die Gestalt, die Haartracht, der Hut.
Er
folgte ihr nach. Was konnte sie sein? Er hatte
nicht genug Erfahrung, um das genau abzuschätzen. In ihrem Lächeln war
nichts
Gemeines gelegen, kaum daß es sehr ermutigend gewesen wäre. Sie war
etwa zehn
Schritte vor ihm; er hielt sich immer in der gleichen Entfernung. Immer
wenn
sie an einer Laterne vorüberging, konnte er die Umrisse ihrer Gestalt
am
deutlichsten wahrnehmen, immer wieder von neuem glaubte er den Gang
seiner
verstorbenen Frau vor sich hinschweben zu sehen, und wie mit einer Lust
am
Wahnsinn versuchte er sich zu überreden, daß sie es wirklich wäre. Er
sagte
sich: Jetzt, in dieser Entfernung, wenn ich diese Gestalt . . . diesen
Gang . .
. diese Haartracht sehe – ist sie es. Wenn es Wunder gäbe und ich
bekäme irgend
etwas von ihr wieder, nur ihre Gestalt, nur ihren Gang – wäre ich da
nicht
glücklich? . . . Sie schien nicht zu ahnen, daß ihr irgendwer folgte,
schritt
unbekümmert weiter.
Der
Weg führte sie am Stadtpark vorbei, sie hielt sich
ganz nah am Gitter und glitt mit ihren Fingern über die Stäbe hin.
Gustav
zuckte zusammen. Er erinnerte sich, daß es eine Gewohnheit seiner
Frau
gewesen war, im Vorübergehen mit den Fingern über Wände, Mauern, Gitter
zu
gleiten. Es war ihm, als täte das Weib, das zehn Schritte vor ihm ging,
mit
Absicht dasselbe, und er wußte doch zugleich, daß diese Empfindung
vollkommen
sinnlos war. Und doch schien ihm von diesem Augenblicke an in jeder
Bewegung
dieses Weibes etwas Gewolltes, etwas in Beziehung auf ihn Gewolltes zu
liegen –
ja, ihm war, als dächte diese Person, die da vor ihm einherging: Alles
das tu'
ich, wie es seine Frau getan.
Ein
Unwille wachte in seiner Seele auf; er hatte einen
Augenblick Lust, umzuwenden und seines Wegs zu gehen, als könnte er
diesen
Spott sich nicht gefallen lassen. Aber es war, als zöge sie ihn nach
sich, und
er folgte ihr immer weiter. Sie bog in die Wollzeile ein, dann in eine
Seitengasse, deren Namen er nicht wußte; hier verschwand sie in einem
der
ersten Häuser, ohne sich noch einmal umgewandt zu haben.
Er
blieb eine Weile vor dem Tor stehen; vielleicht
käme sie wieder herunter. Er betrachtete die Fenster. Bald wurde im
dritten
Stock eines geöffnet. Es war die Frau, der er gefolgt war; er konnte
ihr
Gesicht in der Dunkelheit nicht sehen, auch nicht die Richtung ihres
Blicks,
doch die Bewegung ihres Kopfes verriet ihm, daß sie nach oben schaute;
dann
stützte sie die Ellbogen auf das Fensterbrett und wandte den Kopf nach
unten.
Er eilte davon, er wollte nicht von ihr bemerkt sein. Aber wie er sich,
durch
die Straßen eilend, ihrer erinnerte, war es nicht irgendeine Fremde,
die er
heut zum ersten Male gesehen – nein, es war seine Frau, seine tote
Frau, die in
jener Straße, die Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt,
herunterschaute.
Er
vermochte es gar nicht, sich dort eine andere zu
denken, und wieder war ihm, als wüßte diese Fremde selbst davon, was in
ihm
vorginge. Er verwandte große Mühe darauf, das alles aus seinen Sinnen
zu jagen,
aber es war ganz vergeblich. Endlich setzte er sich in ein Wirtshaus,
aß und
trank. Die Schwüle war außerordentlich. Nachdem Gustav mehr getrunken
hatte,
verloren jene Vorstellungen ihr Quälendes, ja sie traten beinahe
tröstend
hervor. Es war plötzlich ein Wesen da, ein ganz bestimmtes Wesen, das
für ihn
irgend etwas bedeutete – es war eine Frau, es war beinah seine Frau,
und sie
dachte an ihn, oder ihm war, als dächte sie an ihn.