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Literatur


04.3


Arthur Schnitzler

Die Nächste
Erzählende Geschichten


Die Nächste

Der fürchterliche Winter war vorbei. Als er das erste Mal wieder in seinem Zimmer das Fenster offen lassen konnte, die ersten Lüfte des Frühlings hereindrangen, der dumpfe Lärm der Straße herauftönte, begann er zu fühlen, daß das Leben für ihn noch nicht zu Ende war. Von jetzt an verbrachte er nachmittags, wenn er aus dem Büro nach Hause kam, ganze Stunden am offenen Fenster. Er rückte sich einen Sessel hin, nahm ein Buch zur Hand und versuchte zu lesen. Aber immer ließ er das Buch bald auf den Schoß sinken und sah ins Freie. Seine Wohnung lag im höchsten Stockwerk; wenn er so saß, war nur der blasse Himmel ihm gegenüber. In diesen letzten Märztagen wehte oft ein leiser Wind, der ihm vom Stadtpark den kühlen Duft der ersten Blüten herauftrug.
 
Am letzten Oktobertag des vergangenen Jahrs war seine Frau gestorben. Seitdem hatte er hingelebt wie ein Betäubter. Daß seine Frau jung dahingehen, daß sie ihn als noch jungen Mann allein auf der Erde zurücklassen könnte, war ihm nie in den Sinn gekommen. In den ersten Wochen nach ihrem Tod war ihr Vater noch manchmal aus der Vorstadt, wo er ein kleines Geschäft besaß, zu ihm hereingefahren, aber die Beziehungen zwischen ihm und dem alten Mann, die immer ganz lose gewesen, hörten bald ganz auf. Seine eigenen Eltern waren früh gestorben. Sie hatten in einem kleinen Ort fern der Hauptstadt gewohnt, den er noch als Knabe verlassen, um das Gymnasium in Wien zu besuchen. So kam es, daß er beinah seine ganze Jugend unter fremden Leuten verbringen mußte. Nach dem Tode seines Vaters, der Notar gewesen war, gab Gustav seine Gymnasialstudien auf, die er mit Fleiß, aber ohne Begabung bis zu seinem siebzehnten Jahre betrieben hatte. Er trat in ein Eisenbahnamt ein, das ihm von Anbeginn ein bescheideneres Einkommen und die Hoffnung auf ein langsames, aber sicheres Fortschreiten bot. Seine Jünglingszeit ging still dahin. Im Büro tat er seine Pflicht, und seine Vergnügungen waren spärlich. Er ging in jedem Monat einmal ins Theater, und jeden Samstag wohnte er einem geselligen Abend im Kreise der Bürokollegen bei. In seinem dreiundzwanzigsten Jahre verwirrte sich die Ruhe seines Lebens auf kurze Zeit. Eine junge Frau, die er auf einem Vergnügungsabend des Gesangvereins kennengelernt, wurde seine Geliebte. Er durchlebte manche Leiden der Eifersucht und einen heftigen Schmerz, als sie mit ihrem Gatten Wien verließ. Bald aber war er froh, daß jene Zeit der Aufregung vorüber war, und aufatmend kehrte er zu seiner früheren Lebensweise zurück.
 
Nach vier weiteren Jahren lernte er ein Mädchen kennen, das zuweilen die Familie besuchte, bei der er damals wohnte. Er wußte bald, daß er nie einem Wesen begegnen würde, das besser zu seiner Gattin taugte als dieses. Von seinen Hausleuten erfuhr er so viel über sie, als er wissen wollte. Sie war durch ein ganzes Jahr verlobt gewesen, ihr Bräutigam war gestorben, und seither schien eine stille Trauer über ihr ganzes Wesen gebreitet. Sie hatte die schlichte Bildung junger Mädchen aus den mittleren Bürgerkreisen und überdies ein ausgesprochenes musikalisches Talent. Man erzählte ihm, daß sie schöner singe als manche berühmte Sängerin.
 
 Es wurde ein Ehrgeiz für Gustav, die Lippen dieses jungen Mädchens wieder lächeln zu machen, und er dachte jetzt gern an jenes Abenteuer aus seiner ersten Jugend, um in dieser Erinnerung zu fühlen, daß er doch auch die Fähigkeit besäße, edlen Frauen etwas zu bedeuten.
 
Er war sehr glücklich, als Therese das erstemal lächelte, während sie zu ihm sprach; an jenem Abend empfand er eine Art von Rausch, der ihn stolz machte, ohne daß er wußte, warum. Wenige Monate darauf wurde sie seine Frau, und ihm war, als begänne erst jetzt das Dasein für ihn. Das Bewußtsein, ein junges Wesen in den Armen zu halten, das noch keinem vor ihm gehört, erfüllte ihn mit Wonne. Anfangs fürchtete er, dieses reine Geschöpf durch die Glut seiner Zärtlichkeiten zu entweihen, aber als sie sich ihm bald mit der gleichen Rückhaltlosigkeit entgegenbrachte, gab er sich seinem Glücke völlig hin. Da ihre Ehe kinderlos blieb, änderten sich die Beziehungen zwischen ihnen durch viele Jahre gar nicht. Sein Haus war für ihn zugleich die Stätte des Friedens und der Freude. Von seinen früheren Bekannten zog er sich zurück. Nur wenige Leute besuchten das junge Paar, und diese nur selten: Theresens Vater und eine ihrer Freundinnen, ein verblühendes Mädchen, das für Gustav nur dadurch eine gewisse Bedeutung hatte, daß sie Therese zuweilen zum Singen begleitete. Häufig aber sang Therese ganz allein, und das war ihm das liebste. In ihrer Stimme erklang ihm ihre ganze aus Reinheit und Leidenschaftlichkeit wunderbar gemischte Seele. Manchmal bat er sie des Nachts, ganz leise ein Schubertsches Lied zu singen. Das tat sie dann, indem sie ihn an sich heranzog, ihre Lippen ganz nah an sein Ohr brachte, und nun war die Dunkelheit des Zimmers von Schauern des Entzückens und der Bewunderung ganz erfüllt.
 
Therese hatte ein kleines Vermögen in die Ehe gebracht, das eben dazu ausreichte, eine einfache Wohnung behaglich auszustatten; leben mußten sie von dem Gehalt des Mannes. Aber die Wirtschaftlichkeit der jungen Frau ließ nirgends das Gefühl einer Entbehrung aufkommen, ja im Sommer durften sie sich sogar während der Urlaubszeit von drei Wochen einen Aufenthalt in irgendeinem kleinen Walddorf Niederösterreichs gönnen. Die Zukunft stellte sich ihnen bei den als ein ungestörtes Miteinanderleben dar, die Schwermut des Alters lag noch in weiter Ferne, und an ein Ende dachte keines von ihnen. Sie waren nach siebenjähriger Ehe ein Paar von Liebenden.
 
Im September, kurz nachdem sie von dem Landaufenthalt heimgekehrt, wurde Therese krank. Der Arzt gab von Anfang an keine Hoffnung, aber Gustav glaubte ihm nicht. Es schien ihm vollkommen unmöglich, daß Therese sterben könnte. Sie klagte wenig, sie schwand dahin. Er begriff es gar nicht recht. Erst in den letzten Tagen begann er es zu verstehen, was ihm bevorstand; da blieb er zu Hause und rührte sich von ihrem Bett nicht mehr weg. Eine ungeheure Angst kam über ihn. Er ließ zwei berühmte Professoren rufen; sie konnten nichts tun, als ihn vorbereiten, daß es bald zu Ende sein werde. Erst in der letzten Nacht fühlte Therese selbst, daß sie verloren sei, und nahm Abschied von ihm. Diese Nacht verging, dann kam noch ein endloser Tag, an dem es regnete. Gustav saß an Theresens Bett und sah sie sterben. Es war um die Stunde, da die Nacht hereinbrach.
 
Dann war der fürchterliche Winter gekommen, der ihm jetzt beim Wehen der ersten Frühlings winde erschien wie eine lange schwere, dumpfe Nacht. Auch seine Berufspflichten hatte er wie in einem Halbschlaf erfüllt, aus dem er nun allmählich erwachte. Aber mit jedem dieser Frühlingstage schien er sich selbst mehr zur Besinnung zu kommen. Sein Schmerz, der ihn wie ein grimmiger Feind umfangen gehalten, ließ ihn allmählich los. Gustav atmete auf; er fühlte, daß er wieder am Leben war. Abends ging er spazieren. Er machte lange Wege, wie er sie vor Jahren gern zurückzulegen pflegte, anfangs nur in den Straßen der Stadt, dann, als die Tage länger wurden, weiter hinaus ins Freie, zu den Wiesen, Wäldern und Hügeln. Er liebte es, sich müde zu gehen. Vor dem Nachhausekommen hatte er eine gewisse Angst: nachts umgaben ihn die Wände seiner Wohnung mit quälender Enge, und wenn er aufwachte, weinte er nicht nur aus Schmerz, sondern auch aus Furcht. Er nahm den Verkehr mit seinen alten Bekannten wieder auf und kam abends zuweilen in das Gasthaus, wo einige Bürokollegen zu nachtmahlen pflegten. Als er einmal erzählte, daß er schlecht schliefe, riet man ihm, etwas mehr Wein als gewöhnlich zu trinken. Wie er diesem Rate folgte, bemerkte er verwundert, daß er an den Gesprächen lebhaft Anteil nahm und sich beinah froh erregt fühlte. Nachher, als er allein nach Hause ging, kam ihm vor, als hätten ihn seine Freunde in einer sonderbaren, gewissermaßen mißbilligenden Art betrachtet, und er schämte sich ein wenig.
 
Die Tage wurden wärmer, und die Abende waren sehr lind. Seine Sehnsucht nach der Toten wurde wieder heftiger, und es gab Stunden, da jenes entsetzliche Bewußtsein des unwiderruflich Verlorenen mit der ganzen Kraft eines neuen Unglücks über ihn hereinbrach. Als er einmal an einem Sonntagnachmittag allein im Dornbacher Park spazierenging – der Frühling war in seiner ganzen Pracht über ihm, die Bäume waren gründicht belaubt, die Wiesen glänzten in hellen Farben, alle Wege waren von Spaziergängern belebt, Kinder spielten und liefen, junge Leute lagerten am Waldesrand –, da verstand er das erste Mal ganz, wie einsam er war, und wußte nicht, wie er sein Leid weiter tragen sollte. Er hatte das Bedürfnis, laut aufzuschreien, fühlte selbst, wie er mit weitaufgerissenen Augen und einem absonderlich raschen Gang unter allen den Menschen seinen Weg fortsetzte, und merkte auch, daß ihn manche mit Verwunderung betrachteten. Er wollte den Leuten entfliehen, suchte stillere Wege auf, stieg zwischen den hohen Birken und Tannen die Sofienalpe hinan und kam oben an, als die Sonne unterging. Er sah die Täler und Hügel in rötlich-weißem Glänze liegen, und als er sich umwandte, sah er die Stadt wie in blaß-silbernen Dunst versinken. Er stand lange da und wurde ruhiger. Über der Landstraße, die er bis tief ins Tal hinunter verfolgen konnte, flogen leichte, niedere Staubwölkchen hin, dumpf hörte er das Rollen von Wagen, und laute Menschenstimmen, helles Lachen klang herauf. Langsam schlug er den Rückweg ein, nicht durch den Wald, wie er gekommen, sondern auf der breiten Fahrstraße. Er blieb manchmal stehen und atmete auf, als wäre ihm von irgendwoher ein Trost gekommen. Die Dämmerung brach rasch herein. An hübschen Landhäusern vorbei, vom Strom der Leute mitgerissen, kam er bald zu einem großen Wirtsgarten, der sehr besucht war. Die Gartenlaternen waren angezündet, an einem Tisch in der Tiefe des Gartens saßen Musikanten, die auf Ziehharmonika, Geige und Flöte Wiener Lieder spielten, während einer mit einer hohen und süßlichen Stimme dazu sang. Ziemlich weit von diesen, gleich neben dem Eingang, nahm Gustav Platz. Er betrachtete die Leute in seiner Nähe; am Tisch neben ihm saßen zwei junge Mädchen, die ihm sehr hübsch erschienen, die er sehr lange ansah. Er erinnerte sich seiner Junggesellenzeit, denn seitdem hatte er Frauen nie wieder mit solchem Blick betrachtet.
 
Frauengestalten kamen ihm ins Gedächtnis, die er im Laufe der letzten Zeit auf seinen regelmäßigen Wegen vom Hause ins Büro begegnet, die ihm aber nichts bedeutet hatten. Heute, diesen blonden jungen Mädeln gegenüber, fühlte er zum ersten Male wieder, daß er noch ein junger Mann war. Jetzt fiel ihm auch ein, wie ihn manchmal die Frauen zuweilen auf der Straße anschauten, und mit Schrecken und Freude zugleich wurde ihm bewußt, daß das Leben doch noch nicht für ihn vorbei sein konnte und daß es schöne Frauen oder Mädchen gab, die er vielleicht umarmen würde. Wie ein Schauer ging es ihm über Hals und Lippen, wenn er an die Küsse dachte, die ihm noch bestimmt waren. Ein eigentümlicher Drang ergriff ihn, sich eines der Mädchen gegenüber am Tische in seinen Armen vorzustellen, und er schloß die Augen. Aber kaum waren ihm die Lider gesunken, so hatte er das Antlitz seiner toten Frau vor sich und sah ihren Mund langsam, mit einer leisen zuckenden Bewegung, die ihr eigen gewesen, sich dem seinen nähern.
 
Entsetzt riß er die Augen wieder auf. Dieses Mädchen war nichts mehr für ihn. Er fühlte, daß keine Frau der Welt je mehr etwas für ihn bedeuten könnte. Mit der gleichen Gewalt wie heute während des Spazierganges brach sein Schmerz wieder hervor, und er wußte, daß er für die Welt und ihre Freuden verloren war. Er schämte sich der vorausgegangenen Augenblicke, und der Gedanke, je wieder ein Weib in seinem Arm zu halten, erfüllte ihn mit Ekel und Scham.
 
Ganz vernichtet machte er sich auf den Heimweg. Es war ihm, als müßte er sich kasteien; er ging den langen Weg bis in seine Wohnung zu Fuß und kam in einer so tiefen Müdigkeit an, wie er sie nie verspürt zu haben glaubte, Leib und Seele schienen ihm wie zerschlagen; ein unruhiger, schwerer Schlaf kam über ihn, und er wachte mit der dunklen Ahnung auf, als stünde ihm etwas Gräßliches bevor.
 
In den nächsten Tagen quälte er sich damit, eine neue Ordnung und einen neuen Inhalt für seine Existenz zu finden. Er sah ein, daß er sich dem wütenden Schmerz nicht weiter hingeben durfte, wenn er nicht zum Weiterleben unfähig werden wollte. Er wunderte sich jetzt im Zurückdenken, wie er eigentlich sein Dasein verbracht, bevor er seine Frau kennengelernt hatte; es schien ihm, als wäre es eine Art von Traumleben gewesen. Abgesehen von Büroarbeiten, die er stets mit einer gewissen Freude an seiner eigenen Verläßlichkeit besorgt hatte, waren seine geistigen Bedürfnisse gering gewesen. Er hatte gern Musik gehört und zuweilen Reisebeschreibungen gelesen, die ihn aber weniger durch einen abenteuerlichen Inhalt als durch Natur Schilderungen zu fesseln pflegten.

 Und wenn er sich jetzt fragte, was er am liebsten anfangen möchte, so mußte er sich sagen: reisen. Es war ihm aber unmöglich, seinen Beruf aufzugeben, und ein kurzer Urlaub, den er hätte erlangen können, wäre wertlos für ihn gewesen; ja bei näherer Überlegung überfiel ihn sogar eine gewisse Angst davor, in fremden Gegenden allein und ganz seinen Erinnerungen verfallen umherzuirren. So schwand die leichte Beruhigung, die der Anfang des Frühlings gebracht, wieder dahin.
 
Auch die Gesellschaft seiner Kollegen im Wirtshaus wurde ihm unangenehm, er kam seltener und ging früher fort. Einmal geschah es ihm, daß ihm nachts beim Nachhausegehen auf der Stiege sein Licht verlöschte, da überfiel ihn eine solche Furcht, daß er sich auf den Stufen hinsetzte, zusammenkauerte und wimmerte. Er suchte zitternd nach seinen Streichhölzern. Als er eines fand und Licht machte und eine flackernde Helle um ihn sich verbreitete, versuchte er über sich zu lächeln. Absichtlich behielt er das Lächeln auf den Lippen, bis er in seinem Zimmer war. Da erblickte er sich im Spiegel und erkannte sich nicht. Er trat näher hin – so nah, daß sein Hauch den Spiegel trübte. In der einen Hand hielt er den Leuchter mit der Kerze, er stellte ihn auf die Kommode, über der der Spiegel hig, dann wich er zurück, setzte sich aufs Bett und entkleidete sich rasch mit dem Gefühl, daß er sich ins Bett flüchten müßte. Als er ausgestreckt dalag, zog er die Decke übers Gesicht. Da fiel ihm ein, daß das Licht noch brannte, aber er wagte es nicht aufzustehen. Er nahm sich vor, so lang wach zu bleiben, bis die Kerze gänzlich heruntergebrannt war. Langsam entfernte er die Decke von den Augen, da stand das Licht, und im Spiegel sah er es noch einmal. Er starrte hin und war nach wenigen Sekunden eingeschlafen.
 
Am nächsten Morgen beim Aufwachen fiel ihm aber nicht vor allem seine Angst von gestern Abend ein, sondern jener Spaziergang auf die Sofienalpe vor wenigen Tagen. In der Erinnerung erschien ihm der als ein angenehmes Abenteuer, und wie etwas Erlösendes tauchte der Gedanke in ihm auf, daß er ja jeden Nachmittag aufs Land gehen, sich abends immer in einen Wirtshausgarten setzen und junge Mädchen und Frauen betrachten konnte. Selbst im Büro während der Arbeit konnte er heute an nichts anderes denken als an Wälder und Wiesen, wo junge Weiber, Frauen und Mädchen, in leichten Sommerkleidern und mit hellen Sonnenschirmen herumgingen. Aber als er nachmittags ernstlich daran dachte, aufs Land zu fahren, war er so müde, daß ihm die Ausführung einfach unmöglich vorkam. Er legte sich angekleidet auf sein Bett und hatte das Gefühl eines Menschen, der langsam von schwerer Krankheit genest.
 
 Abends ging er sehr langsam über den Ring spazieren und hatte eine Art von stiller Freude, wenn die Blicke vorübergehender Mädchen dem seinen begegneten. Manche sah ihn auch länger an, wandte selbst leicht den Kopf nach ihm um, und ihm schien in allen diesen Blicken eine Wärme, die er lange nicht gefühlt und nach der er eine große Sehnsucht gehabt hatte. Weiter gingen seine Wünsche nicht. Er dachte nicht daran, eine Bekanntschaft anzuknüpfen oder eines dieser Wesen in die Arme zu schließen; er freute sich nur ihres Daseins und ihrer Blicke.
 
Noch mehrere Tage vergingen in dieser beinah traumhaften Weise, daß er vormittags im Büro von Wäldern und Wiesen und hübschen Frauen träumte, nachmittags halb schlummernd auf seinem Bett lag, abends spazierenging und ziemlich früh in einem Wirtshaus, meist im Freien, an einem Tisch hinter dem Staket zu Abend aß.
 
Als er wieder einmal von seinem Nachmittagsschlummer erwachte und mitten im Zimmer stand, erschien mit einem Mal das ganze Leben dieser letzten Tage unverständlich. Am seltsamsten von allem erschien ihm, daß er nun ganze Tage seiner Frau nicht mehr gedacht, gewiß nicht mit wahrem Schmerz sich ihrer erinnert, und er bekam plötzlich eine große Sehnsucht zu weinen, als könnte er damit sein Unrecht wieder gutmachen.  Aber er hatte keine Tränen.
 
Dann auf der Straße, als der Zug der Frauen an ihm vorüberschwebte, flossen ihm langsam, als schämten sie sich ihrer Spärlichkeit und ihrer Verspätung, die Tränen über die Wangen. Gleich nachher war es ihm, als hätte er eine Schuld getilgt; er ging rascher und spürte etwas von Fröhlichkeit, da er so dahinschritt.
 
Mit einer plötzlichen Klarheit wußte er heute, daß er wieder glücklich sein wollte und daß er es sein durfte. Ja, es überfloß ihn mit einer leisen Wonne, daß ihm so viel zur Verfügung stehe; er dachte an die Hunderte von schönen Weibern, die sich ihm nicht verweigern würden, wenn er wollte; jedes Lächeln, das ihm zu gelten schien, jede zufällige Berührung trieb ihm fliegende Schauer durch den ganzen Leib. Er freute sich auf irgend etwas, das ihm in der nächsten Zeit bevorstand, das er haben konnte, wenn er wollte – in einer Woche, oder morgen, oder heut, in einer Viertelstunde, wenn es ihm beliebte, und das Ungewisse innerhalb dieser Gewißheit war ein Reiz mehr. Er setzte sich auf eine Bank in der Nähe des Volksgartens. Aus dem Garten tönte Musik, und in ihrem Klang schienen die Leute, die an Gustav vorübergingen, sich zu wiegen. Er nahm den Hut ab, legte ihn auf die Knie, und ihm war, als wenn er damit einen schweren Eisenring von seiner Stirn entfernt hätte. Jetzt schien ihm, als dürfte er darangehen, Pläne zu fassen. Er hatte die Empfindung, als wäre heut nachmittag um sechs Uhr seine Trauerzeit zu Ende gewesen, und er hatte nun auch andere Pflichten, andere Rechte als ein paar Stunden vorher. Dabei war er ganz ruhig, er hatte kaum einen Wunsch, nur das Gefühl der Beruhigung, daß sein Wunsch kein Verbrechen mehr und die Erfüllung leicht sei.
 
Er saß schon lange Zeit auf der Bank, als er ein junges Paar neben sich erblickte, das eben erst gekommen sein mußte. Die beiden sprachen leise, aber er konnte doch mancherlei verstehen; es schien sich um ein Wiedersehen für den nächsten Tag zu handeln.
 
Jetzt besann er sich, daß es auch notwendig sein werde, an das Wesen, dem er sich nähern wollte, Worte zu richten, und das schien ihm in diesem Augenblick so schwer, daß ihm eine Röte der Angst ins Gesicht stieg. Er überlegte, wie er mit irgendeiner Frau ein Gespräch beginnen sollte, und dachte sich aus, was er zu jeder einzelnen sagen würde. Es kam ein junges Mädchen vorbei mit einem kleinen Jungen. Da würde er sagen: »Guten Abend, Fräulein. Das ist aber ein reizender Bub! Gewiß der Herr Bruder?« Dabei mußte er selbst lachen, denn das war zweifellos ein guter Witz, einen kleinen Buben den »Herrn Bruder« zu nennen, und das junge Mädchen hätte sicher auch gelacht. Da war sie ja noch – zehn Schritt weit; aber er wagte es doch nicht.
 
 Jetzt kam eine ziemlich dicke Frau, die Noten in der Hand hielt. Die hätte er fragen können, ob er die Noten tragen dürfte. Dann kamen zwei ganz jungen Dinger, die eine hatte eine Schachtel in der Hand, die andere mit einem Sonnenschirm redete sehr geschwind und wichtig.
 
Der hätte er sagen können: »Erzählen Sie mir doch auch etwas, Fräulein!« Aber das war doch zu frech.
 
Nun kam eine junge Person, die sehr langsam ging und den Kopf hin und her wiegte, ganz für sich, als interessiere sie die übrige Welt nicht im geringsten. Wie sie an Gustav vorüberging, schaute sie ihn an und lächelte, als käme er ihr bekannt vor. Er stand auf, aber nicht, weil sie gelächelt – sondern weil sie in der Gestalt und insbesondere jetzt, wie er sie von rückwärts sah, eine so außerordentliche Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau hatte, daß er beinahe erschrocken war. Ja, selbst die Frisur war die gleiche – auch solch einen Hut mußte seine Frau irgendeinmal getragen haben. Und je weiter sie sich von ihm entfernte, um so eher hätte er sich einbilden können, daß es die Gestorbene war. Er fürchtete sich davor, daß sie sich wieder umwenden könnte, denn die Züge selbst hatten keine Spur von Ähnlichkeit; nur der Gang, die Gestalt, die Haartracht, der Hut.
 
Er folgte ihr nach. Was konnte sie sein? Er hatte nicht genug Erfahrung, um das genau abzuschätzen. In ihrem Lächeln war nichts Gemeines gelegen, kaum daß es sehr ermutigend gewesen wäre. Sie war etwa zehn Schritte vor ihm; er hielt sich immer in der gleichen Entfernung. Immer wenn sie an einer Laterne vorüberging, konnte er die Umrisse ihrer Gestalt am deutlichsten wahrnehmen, immer wieder von neuem glaubte er den Gang seiner verstorbenen Frau vor sich hinschweben zu sehen, und wie mit einer Lust am Wahnsinn versuchte er sich zu überreden, daß sie es wirklich wäre. Er sagte sich: Jetzt, in dieser Entfernung, wenn ich diese Gestalt . . . diesen Gang . . . diese Haartracht sehe – ist sie es. Wenn es Wunder gäbe und ich bekäme irgend etwas von ihr wieder, nur ihre Gestalt, nur ihren Gang – wäre ich da nicht glücklich? . . . Sie schien nicht zu ahnen, daß ihr irgendwer folgte, schritt unbekümmert weiter.
 
Der Weg führte sie am Stadtpark vorbei, sie hielt sich ganz nah am Gitter und glitt mit ihren Fingern über die Stäbe hin. Gustav zuckte zusammen. Er erinnerte sich, daß es eine Gewohnheit seiner Frau gewesen war, im Vorübergehen mit den Fingern über Wände, Mauern, Gitter zu gleiten. Es war ihm, als täte das Weib, das zehn Schritte vor ihm ging, mit Absicht dasselbe, und er wußte doch zugleich, daß diese Empfindung vollkommen sinnlos war. Und doch schien ihm von diesem Augenblicke an in jeder Bewegung dieses Weibes etwas Gewolltes, etwas in Beziehung auf ihn Gewolltes zu liegen – ja, ihm war, als dächte diese Person, die da vor ihm einherging: Alles das tu' ich, wie es seine Frau getan.
 
Ein Unwille wachte in seiner Seele auf; er hatte einen Augenblick Lust, umzuwenden und seines Wegs zu gehen, als könnte er diesen Spott sich nicht gefallen lassen. Aber es war, als zöge sie ihn nach sich, und er folgte ihr immer weiter. Sie bog in die Wollzeile ein, dann in eine Seitengasse, deren Namen er nicht wußte; hier verschwand sie in einem der ersten Häuser, ohne sich noch einmal umgewandt zu haben.
 
Er blieb eine Weile vor dem Tor stehen; vielleicht käme sie wieder herunter. Er betrachtete die Fenster. Bald wurde im dritten Stock eines geöffnet. Es war die Frau, der er gefolgt war; er konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit nicht sehen, auch nicht die Richtung ihres Blicks, doch die Bewegung ihres Kopfes verriet ihm, daß sie nach oben schaute; dann stützte sie die Ellbogen auf das Fensterbrett und wandte den Kopf nach unten. Er eilte davon, er wollte nicht von ihr bemerkt sein. Aber wie er sich, durch die Straßen eilend, ihrer erinnerte, war es nicht irgendeine Fremde, die er heut zum ersten Male gesehen – nein, es war seine Frau, seine tote Frau, die in jener Straße, die Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt, herunterschaute.
 
Er vermochte es gar nicht, sich dort eine andere zu denken, und wieder war ihm, als wüßte diese Fremde selbst davon, was in ihm vorginge. Er verwandte große Mühe darauf, das alles aus seinen Sinnen zu jagen, aber es war ganz vergeblich. Endlich setzte er sich in ein Wirtshaus, aß und trank. Die Schwüle war außerordentlich. Nachdem Gustav mehr getrunken hatte, verloren jene Vorstellungen ihr Quälendes, ja sie traten beinahe tröstend hervor. Es war plötzlich ein Wesen da, ein ganz bestimmtes Wesen, das für ihn irgend etwas bedeutete – es war eine Frau, es war beinah seine Frau, und sie dachte an ihn, oder ihm war, als dächte sie an ihn.

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