lifedays-seite

moment in time

 
 
Literatur


04.3


Arthur Schnitzler

Masken und Wunder
Novellen



Der Tod des Junggesellen 1

Es wurde an die Türe geklopft, ganz leise, doch der Arzt erwachte sofort, machte Licht und erhob sich aus dem Bett. Er warf einen Blick auf seine Frau, die ruhig weiterschlief, nahm den Schlafrock um und trat ins Vorzimmer. Er erkannte die Alte nicht gleich, die mit dem grauen Tuch um den Kopf dastand.
 
»Unserm gnädigen Herrn ist plötzlich sehr schlecht geworden,« sagte sie, »der Herr Doktor möchte so gut sein und gleich hinkommen.«
 
Nun erkannte der Arzt die Stimme. Es war die der Wirtschafterin seines Freundes, des Junggesellen. Der erste Gedanke des Doktors war: Mein Freund ist fünfundfünfzig Jahre alt, das Herz ist schon seit zwei Jahren nicht in Ordnung, es könnte wohl etwas Ernstes sein.
 
Und er sagte: »Ich komme sofort, wollen Sie so lange warten?«
 
»Herr Doktor entschuldigen, ich muß noch geschwind zu zwei anderen Herren fahren.« Und sie nannte die Namen des Kaufmanns und des Dichters.
 
»Was haben Sie bei denen zu tun?«
 
»Der gnädige Herr will sie noch einmal sehen.«
 
»Noch – einmal – sehen?«
 
»Ja, Herr Doktor.«
 
Er läßt seine Freunde rufen, dachte der Arzt, so nahe fühlt er sich dem Tode ... Und er fragte: »Ist wer bei Ihrem Herrn?«
 
Die Alte erwiderte: »Freilich, Herr Doktor, der Johann rührt sich nicht fort.« Und sie ging.
 
Der Doktor trat ins Schlafzimmer zurück, und während er sich rasch und möglichst geräuschlos ankleidete, stieg etwas Bitteres in seiner Seele auf. Es war weniger der Schmerz, daß er vielleicht bald einen guten, alten Freund verlieren sollte, als die peinliche Empfindung, daß sie nun so weit waren, sie alle, die noch vor wenig Jahren jung gewesen.
 
In einem offenen Wagen, durch die milde, schwere Frühlingsnacht fuhr der Arzt in die nahe Gartenstadt, wo der Junggeselle wohnte. Er sah zum Fenster des Schlafzimmers hinauf, das weit offen stand, und aus dem ein blasser Lichtschein in die Nacht herausgeflimmert kam.
 
Der Arzt ging die Treppen hinauf, der Diener öffnete, grüßte ernst und senkte traurig die linke Hand.
 
»Wie?« fragte der Arzt mit stockendem Atem, »komm ich zu spät?«
 
»Ja, Herr Doktor,« erwiderte der Diener, »vor einer Viertelstunde ist der gnädige Herr gestorben.«
 
Der Arzt atmete tief auf und trat ins Zimmer. Sein toter Freund lag da, mit schmalen, bläulichen, halb geöffneten Lippen, die Arme über der weißen Decke ausgestreckt; der dünne Vollbart war zerrauft, in die Stirne, die blaß und feucht war, fielen ein paar graue Haarsträhnen. Vom Seidenschirm der elektrischen Lampe, die auf dem Nachtkästchen stand, breitete ein rötlicher Schatten sich über die Polster. Der Arzt betrachtete den Toten. Wann ist er das letztemal in unserem Haus gewesen? dachte er. Ich erinnere mich, es schneite an dem Abend. Im vergangenen Winter also. Man hat sich recht selten gesehen in der letzten Zeit.
 
Von draußen kam ein Geräusch vom Scharren der Pferde. Der Arzt wandte sich von dem Toten ab und sah drüben dünne Äste in die Nachtluft fließen.
 
Der Diener trat ein, und nun erkundigte sich der Arzt, wie alles gekommen sei.
 
Der Diener erzählte dem Arzt eine wohlbekannte Geschichte, von plötzlichem Übelbefinden, Atemnot, Herausspringen aus dem Bett, Auf- und Abgehen im Zimmer, Hineineilen zum Schreibtisch und Wiederzurückwanken ins Bett, von Durst und Stöhnen, von einem letzten Indiehöhefahren und Hinsinken in die Polster. Der Arzt nickte dazu, und seine rechte Hand hielt die Stirne des Toten berührt.
 
Ein Wagen fuhr vor. Der Arzt trat zum Fenster. Er sah den Kaufmann aussteigen, der einen fragenden Blick zu ihm heraufwarf. Der Arzt senkte unwillkürlich die Hand, wie früher der Diener, der ihn empfangen hatte. Der Kaufmann warf den Kopf zurück, als wollte er's nicht glauben, der Arzt zuckte die Achseln, trat vom Fenster fort und setzte sich, plötzlich ermüdet, auf einen Sessel zu Füßen des Toten hin.
 
Der Kaufmann trat ein, im offenen, gelben Überzieher, legte seinen Hut auf ein kleines Tischchen nahe der Tür und drückte dem Arzte die Hand. »Das ist ja furchtbar,« sagte er, »wie ist es denn geschehen?« Und er starrte den Toten mit mißtrauischen Augen an.
 
Der Arzt berichtete, was er wußte, und setzte hinzu: »Auch wenn ich zurecht gekommen wäre, so hätt' ich nicht helfen können.« »Denken Sie,« sagte der Kaufmann, »es sind heute gerade acht Tage, daß ich ihn zuletzt im Theater gesprochen habe. Ich wollte nachher mit ihm soupieren, aber er hatte wieder eine seiner geheimnisvollen Verabredungen.« »Hatte er die noch immer?« fragte der Arzt mit einem trüben Lächeln.

Wieder hielt ein Wagen. Der Kaufmann trat ans Fenster. Als er den Dichter aussteigen sah, zog er sich zurück, denn nicht einmal durch eine Miene wollte er der Künder der traurigen Neuigkeit sein. Der Arzt hatte aus seinem Etui eine Zigarette genommen und drehte sie verlegen hin und her. »Es ist eine Gewohnheit aus meiner Spitalszeit,« bemerkte er entschuldigend. »Wenn ich nachts ein Krankenzimmer verließ, das erste war immer, daß ich mir draußen eine Zigarette anzündete, ob ich nun eine Morphiuminjektion gemacht hatte oder eine Totenbeschau.« »Wissen Sie,« sagte der Kaufmann, »wie lang ich keinen Toten gesehen habe? Vierzehn Jahre – seit mein Vater auf der Bahre lag.« »Und – Ihre Frau?« »Meine Frau hab' ich wohl in den letzten Augenblicken gesehen, aber – nachher nicht mehr.«
 
Der Dichter erschien, reichte den anderen die Hand, einen unsichern Blick zum Bett gerichtet. Dann trat er entschlossen näher und betrachtete den Leichnam ernst, doch nicht ohne ein verachtungsvolles Zucken der Lippen. Also er, sprach es in seinem Sinn. Denn oft hatte er mit der Frage gespielt, wer von seinen näheren Bekannten bestimmt sein mochte, als der erste den letzten Weg zu gehen.
 
Die Wirtschafterin trat ein. Mit Tränen in den Augen sank sie vor dem Bette nieder, schluchzte und faltete die Hände. Der Dichter legte leicht und tröstend die Hand auf ihre Schulter.
 
Der Kaufmann und der Arzt standen am Fenster, die dunkle Frühlingsluft spielte um ihre Stirnen.
 
»Es ist eigentlich sonderbar,« begann der Kaufmann, »daß er um uns alle geschickt hat. Wollte er uns um sein Sterbebett versammelt sehen? Hatte er uns irgend etwas Wichtiges zu sagen?«
 
»Was mich anbelangt,« sagte der Doktor schmerzlich lächelnd, »so wär' es weiter nicht sonderbar, da ich ja Arzt bin. Und Sie,« wandte er sich an den Kaufmann, »waren wohl zuweilen sein geschäftlicher Beirat. So handelte es sich vielleicht um letztwillige Verfügungen, die er Ihnen persönlich anvertrauen wollte.«
 
»Das wäre möglich,« sagte der Kaufmann.
 
Die Wirtschafterin hatte sich entfernt, und die Freunde konnten hören, wie sie im Vorzimmer mit dem Diener redete. Der Dichter stand noch immer am Bett und hielt geheimnisvolle Zwiesprache mit dem Toten. »Er,« sagte der Kaufmann leise zum Arzt, »er, glaub ich, war in der letzten Zeit häufiger mit ihm zusammen. Vielleicht wird er uns Aufschluß geben können.« Der Dichter stand regungslos; er bohrte seine Blicke in die verschlossenen Augen des Toten. Die Hände, die den breitrandigen, grauen Hut hielten, hatte er am Rücken gekreuzt. Die beiden andern Herren wurden ungeduldig. Der Kaufmann trat näher und räusperte. »Vor drei Tagen,« trug der Dichter vor, »hab ich einen zweistündigen Spaziergang mit ihm gemacht, draußen auf den Weinbergen. Wollen Sie wissen, wovon er sprach? Von einer Reise nach Schweden, die er für den Sommer vorhatte, von der neuen Rembrandtmappe, die in London bei Watson herausgekommen ist und endlich von Santos Dumont. Er gab allerlei mathematisch-physikalische Erörterungen über das lenkbare Luftschiff, die ich, ehrlich gestanden, nicht vollkommen kapiert habe. Wahrhaftig er dachte nicht an den Tod. Allerdings dürfte es sich ja so verhalten, daß man in einem gewissen Alter wieder aufhört an den Tod zu denken.«
 
Der Arzt war ins Nebenzimmer getreten. Hier konnte er es wohl wagen, sich seine Zigarette anzuzünden. Es berührte ihn eigentümlich, gespensterhaft geradezu, als er auf dem Schreibtisch, in der bronzenen Schale, weiße Asche liegen sah. Warum bleib ich eigentlich noch da, dachte er, indem er sich auf dem Sessel vor dem Schreibtisch niederließ. Ich hätte am ehesten das Recht, fortzugehen, da ich doch offenbar nur als Arzt gerufen wurde. Denn mit unserer Freundschaft war es nicht weit her. In meinen Jahren, dachte er weiter, ist es für einen Menschen meiner Art wohl überhaupt nicht möglich, mit einem Menschen befreundet zu sein, der keinen Beruf hat, ja der niemals einen hatte. Wenn er nicht reich gewesen wäre, was hätte er wohl angefangen? Wahrscheinlich hätte er sich der Schriftstellerei ergeben; er war ja sehr geistreich. – Und er erinnerte sich mancher boshafttreffenden Bemerkung des Junggesellen, insbesondere über die Werke ihres gemeinsamen Freundes, des Dichters.
 
Der Dichter und der Kaufmann traten herein. Der Dichter  machte ein verletztes Gesicht, als er den Doktor auf dem verwaisten Schreibtischsessel sitzen sah, eine Zigarette in der Hand, die übrigens noch immer nicht angebrannt war, und er schloß die Türe hinter sich zu. Nun war man hier doch gewissermaßen in einer anderen Welt. »Haben Sie irgendeine Vermutung?« fragte der Kaufmann. »Inwiefern?« fragte der Dichter zerstreut. »Was ihn veranlaßt haben könnte, nach uns zu schicken, gerade nach uns!« Der Dichter fand es überflüssig nach einer besonderen Ursache zu forschen. »Unser Freund,« erklärte er, »fühlte eben den Tod herannahen, und wenn er auch ziemlich einsam lebte, wenigstens in der letzten Zeit, – in einer solchen Stunde regt sich in Naturen, die ursprünglich zur Geselligkeit geschaffen sind, wahrscheinlich das Bedürfnis, Menschen um sich zu sehen, die ihnen nahe standen.«
 
»Er hatte doch jedenfalls eine Geliebte,« bemerkte der Kaufmann. »Geliebte,« wiederholte der Dichter und zog die Augenbrauen verächtlich in die Höhe.
 
Jetzt gewahrte der Arzt, daß die mittlere Schreibtischlade halb geöffnet war. »Ob hier nicht sein Testament liegt,« sagte er. »Was kümmert uns das,« meinte der Kaufmann, »zum mindesten in diesem Augenblick. Übrigens lebt eine Schwester von ihm verheiratet in London.«
 
Der Diener trat ein. Er war so frei sich Ratschläge zu erbitten wegen der Aufbahrung, des Leichenbegängnisses, der Partezettel. Ein Testament sei wohl seines Wissens beim Notar des gnädigen Herrn hinterlegt, doch ob es Anordnungen über diese Dinge enthielte, sei ihm zweifelhaft. Der Dichter fand es dumpf und schwül im Zimmer. Er zog die schwere, rote Portiere von dem einen Fenster fort und öffnete beide Flügel. Ein breiter, dunkelblauer Streifen Frühlingsnacht floß herein. Der Arzt fragte den Diener, ob ihm nicht etwa bekannt sei, aus welchem Anlaß der Verstorbene nach ihnen habe senden lassen, denn wenn er es recht bedenke, in seiner Eigenschaft als Arzt sei er doch schon jahrelang nicht mehr in dieses Haus gerufen worden. Der Diener begrüßte die Frage wie eine erwartete, zog ein übergroßes Portefeuille aus seiner Rocktasche, entnahm ihm ein Blatt Papier und berichtete, daß der gnädige Herr schon vor sieben Jahren die Namen der Freunde aufgezeichnet hätte, die er an seinem Sterbebett versammelt wünschte. Also auch, wenn der gnädige Herr nicht mehr bei Bewußtsein gewesen wäre, er selbst aus eigener Machtvollkommenheit hätte sich erlaubt nach den Herren auszusenden.
 
Der Arzt hatte dem Diener den Zettel aus der Hand genommen und fand fünf Namen aufgeschrieben: außer denen der drei Anwesenden den eines vor zwei Jahren verstorbenen Freundes und den eines Unbekannten. Der Diener erläuterte, daß dieser letztere ein Fabrikant gewesen sei, in dessen Haus der Junggeselle vor neun oder zehn Jahren verkehrt hatte, und dessen Adresse in Verlust und Vergessenheit geraten wäre. Die Herren sahen einander an, befangen und erregt. »Wie ist das zu erklären?« fragte der Kaufmann. »Hatte er die Absicht eine Rede zu halten in seiner letzten Stunde?« »Sich selbst eine Leichenrede,« setzte der Dichter hinzu.

_____________________________


  lifedays-seite - moment in time