Der Tod
des Junggesellen 1
Es
wurde an die Türe
geklopft, ganz leise, doch der Arzt erwachte sofort, machte Licht und
erhob
sich aus dem Bett. Er warf einen Blick auf seine Frau, die ruhig
weiterschlief,
nahm den Schlafrock um und trat ins Vorzimmer. Er erkannte die Alte
nicht
gleich, die mit dem grauen Tuch um den Kopf dastand.
»Unserm
gnädigen Herrn ist
plötzlich sehr schlecht geworden,« sagte sie, »der Herr Doktor möchte
so gut
sein und gleich hinkommen.«
Nun
erkannte der Arzt die
Stimme. Es war die der Wirtschafterin seines Freundes, des
Junggesellen. Der
erste Gedanke des Doktors war: Mein Freund ist fünfundfünfzig Jahre
alt, das
Herz ist schon seit zwei Jahren nicht in Ordnung, es könnte wohl etwas
Ernstes
sein.
Und
er sagte: »Ich komme
sofort, wollen Sie so lange warten?«
»Herr
Doktor entschuldigen,
ich muß noch geschwind zu zwei anderen Herren fahren.« Und sie nannte
die Namen
des Kaufmanns und des Dichters.
»Was
haben Sie bei denen zu
tun?«
»Der
gnädige Herr will sie
noch einmal sehen.«
»Noch
– einmal – sehen?«
»Ja,
Herr Doktor.«
Er
läßt seine Freunde
rufen, dachte der Arzt, so nahe fühlt er sich dem Tode ... Und er
fragte: »Ist
wer bei Ihrem Herrn?«
Die
Alte erwiderte:
»Freilich, Herr Doktor, der Johann rührt sich nicht fort.« Und sie
ging.
Der
Doktor trat ins
Schlafzimmer zurück, und während er sich rasch und möglichst
geräuschlos
ankleidete, stieg etwas Bitteres in seiner Seele auf. Es war weniger
der
Schmerz, daß er vielleicht bald einen guten, alten Freund verlieren
sollte, als
die peinliche Empfindung, daß sie nun so weit waren, sie alle, die noch
vor
wenig Jahren jung gewesen.
In
einem offenen Wagen,
durch die milde, schwere Frühlingsnacht fuhr der Arzt in die nahe
Gartenstadt,
wo der Junggeselle wohnte. Er sah zum Fenster des Schlafzimmers hinauf,
das
weit offen stand, und aus dem ein blasser Lichtschein in die Nacht
herausgeflimmert kam.
Der
Arzt ging die Treppen
hinauf, der Diener öffnete, grüßte ernst und senkte traurig die linke
Hand.
»Wie?«
fragte der Arzt mit
stockendem Atem, »komm ich zu spät?«
»Ja,
Herr Doktor,« erwiderte
der Diener, »vor einer Viertelstunde ist der gnädige Herr gestorben.«
Der
Arzt atmete tief auf
und trat ins Zimmer. Sein toter Freund lag da, mit schmalen,
bläulichen, halb
geöffneten Lippen, die Arme über der weißen Decke ausgestreckt; der
dünne Vollbart
war zerrauft, in die Stirne, die blaß und feucht war, fielen ein paar
graue
Haarsträhnen. Vom Seidenschirm der elektrischen Lampe, die auf dem
Nachtkästchen stand, breitete ein rötlicher Schatten sich über die
Polster. Der
Arzt betrachtete den Toten. Wann ist er das letztemal in unserem Haus
gewesen?
dachte er. Ich erinnere mich, es schneite an dem Abend. Im vergangenen
Winter
also. Man hat sich recht selten gesehen in der letzten Zeit.
Von
draußen kam ein
Geräusch vom Scharren der Pferde. Der Arzt wandte sich von dem Toten ab
und sah
drüben dünne Äste in die Nachtluft fließen.
Der
Diener trat ein, und
nun erkundigte sich der Arzt, wie alles gekommen sei.
Der
Diener erzählte dem
Arzt eine wohlbekannte Geschichte, von plötzlichem Übelbefinden,
Atemnot, Herausspringen
aus dem Bett, Auf- und Abgehen im Zimmer, Hineineilen zum Schreibtisch
und
Wiederzurückwanken ins Bett, von Durst und Stöhnen, von einem letzten
Indiehöhefahren und Hinsinken in die Polster. Der Arzt nickte dazu, und
seine
rechte Hand hielt die Stirne des Toten berührt.
Ein
Wagen fuhr vor. Der
Arzt trat zum Fenster. Er sah den Kaufmann aussteigen, der einen
fragenden
Blick zu ihm heraufwarf. Der Arzt senkte unwillkürlich die Hand, wie
früher der
Diener, der ihn empfangen hatte. Der Kaufmann warf den Kopf zurück, als
wollte
er's nicht glauben, der Arzt zuckte die Achseln, trat vom Fenster fort
und
setzte sich, plötzlich ermüdet, auf einen Sessel zu Füßen des Toten
hin.
Der
Kaufmann trat ein, im
offenen, gelben Überzieher, legte seinen Hut auf ein kleines Tischchen
nahe der
Tür und drückte dem Arzte die Hand. »Das ist ja furchtbar,« sagte
er, »wie ist es denn geschehen?« Und er starrte den Toten mit
mißtrauischen
Augen an.
Der
Arzt berichtete, was er
wußte, und setzte hinzu: »Auch wenn ich zurecht gekommen wäre, so hätt'
ich
nicht helfen können.« »Denken Sie,« sagte der Kaufmann, »es sind heute
gerade
acht Tage, daß ich ihn zuletzt im Theater gesprochen habe. Ich wollte
nachher
mit ihm soupieren, aber er hatte wieder eine seiner geheimnisvollen
Verabredungen.« »Hatte er die noch immer?« fragte der Arzt mit einem
trüben
Lächeln.
Wieder
hielt ein Wagen. Der
Kaufmann trat ans Fenster. Als er den Dichter aussteigen sah, zog er
sich
zurück, denn nicht einmal durch eine Miene wollte er der Künder der
traurigen
Neuigkeit sein. Der Arzt hatte aus seinem Etui eine Zigarette genommen
und
drehte sie verlegen hin und her. »Es ist eine Gewohnheit aus meiner
Spitalszeit,« bemerkte er entschuldigend. »Wenn ich nachts ein
Krankenzimmer
verließ, das erste war immer, daß ich mir draußen eine Zigarette
anzündete, ob
ich nun eine Morphiuminjektion gemacht hatte oder eine Totenbeschau.«
»Wissen
Sie,« sagte der Kaufmann, »wie lang ich keinen Toten gesehen habe?
Vierzehn
Jahre – seit mein Vater auf der Bahre lag.« »Und – Ihre Frau?« »Meine
Frau hab'
ich wohl in den letzten Augenblicken gesehen, aber – nachher nicht
mehr.«
Der
Dichter erschien,
reichte den anderen die Hand, einen unsichern Blick zum Bett gerichtet.
Dann
trat er entschlossen näher und betrachtete den Leichnam ernst, doch
nicht ohne
ein verachtungsvolles Zucken der Lippen. Also er, sprach es in seinem
Sinn.
Denn oft hatte er mit der Frage gespielt, wer von seinen näheren
Bekannten
bestimmt sein mochte, als der erste den letzten Weg zu gehen.
Die
Wirtschafterin trat
ein. Mit Tränen in den Augen sank sie vor dem Bette nieder, schluchzte
und
faltete die Hände. Der Dichter legte leicht und tröstend die Hand auf
ihre
Schulter.
Der
Kaufmann und der Arzt
standen am Fenster, die dunkle Frühlingsluft spielte um ihre Stirnen.
»Es
ist eigentlich
sonderbar,« begann der Kaufmann, »daß er um uns alle geschickt hat.
Wollte er
uns um sein Sterbebett versammelt sehen? Hatte er uns irgend etwas
Wichtiges zu
sagen?«
»Was
mich anbelangt,« sagte
der Doktor schmerzlich lächelnd, »so wär' es weiter nicht sonderbar, da
ich ja
Arzt bin. Und Sie,« wandte er sich an den Kaufmann, »waren wohl
zuweilen sein
geschäftlicher Beirat. So handelte es sich vielleicht um letztwillige
Verfügungen, die er Ihnen persönlich anvertrauen wollte.«
»Das
wäre möglich,« sagte
der Kaufmann.
Die
Wirtschafterin hatte
sich entfernt, und die Freunde konnten hören, wie sie im Vorzimmer mit
dem
Diener redete. Der Dichter stand noch immer am Bett und hielt
geheimnisvolle
Zwiesprache mit dem Toten. »Er,« sagte der Kaufmann leise zum Arzt,
»er, glaub
ich, war in der letzten Zeit häufiger mit ihm zusammen. Vielleicht wird
er uns
Aufschluß geben können.« Der Dichter stand regungslos; er bohrte seine
Blicke
in die verschlossenen Augen des Toten. Die Hände, die den
breitrandigen, grauen
Hut hielten, hatte er am Rücken gekreuzt. Die beiden andern Herren
wurden
ungeduldig. Der Kaufmann trat näher und räusperte. »Vor drei Tagen,«
trug der
Dichter vor, »hab ich einen zweistündigen Spaziergang mit ihm gemacht,
draußen
auf den Weinbergen. Wollen Sie wissen, wovon er sprach? Von einer Reise
nach
Schweden, die er für den Sommer vorhatte, von der neuen Rembrandtmappe,
die in
London bei Watson herausgekommen ist und endlich von Santos Dumont. Er
gab
allerlei mathematisch-physikalische Erörterungen über das lenkbare
Luftschiff,
die ich, ehrlich gestanden, nicht vollkommen kapiert habe. Wahrhaftig
er dachte
nicht an den Tod. Allerdings dürfte es sich ja so verhalten, daß man in
einem
gewissen Alter wieder aufhört an den Tod zu denken.«
Der
Arzt war ins
Nebenzimmer getreten. Hier konnte er es wohl wagen, sich seine
Zigarette
anzuzünden. Es berührte ihn eigentümlich, gespensterhaft geradezu, als
er auf
dem Schreibtisch, in der bronzenen Schale, weiße Asche liegen sah.
Warum bleib
ich eigentlich noch da, dachte er, indem er sich auf dem Sessel vor dem
Schreibtisch niederließ. Ich hätte am ehesten das Recht, fortzugehen,
da ich
doch offenbar nur als Arzt gerufen wurde. Denn mit unserer Freundschaft
war es
nicht weit her. In meinen Jahren, dachte er weiter, ist es für einen
Menschen
meiner Art wohl überhaupt nicht möglich, mit einem Menschen befreundet
zu sein,
der keinen Beruf hat, ja der niemals einen hatte. Wenn er nicht reich
gewesen
wäre, was hätte er wohl angefangen? Wahrscheinlich hätte er sich der
Schriftstellerei ergeben; er war ja sehr geistreich. – Und er erinnerte
sich
mancher boshafttreffenden Bemerkung des Junggesellen, insbesondere über
die
Werke ihres gemeinsamen Freundes, des Dichters.
Der
Dichter und der
Kaufmann traten herein. Der Dichter machte ein verletztes
Gesicht, als er den Doktor
auf dem verwaisten Schreibtischsessel sitzen sah, eine Zigarette in der
Hand,
die übrigens noch immer nicht angebrannt war, und er schloß die Türe
hinter
sich zu. Nun war man hier doch gewissermaßen in einer anderen Welt.
»Haben Sie
irgendeine Vermutung?« fragte der Kaufmann. »Inwiefern?« fragte der
Dichter
zerstreut. »Was ihn veranlaßt haben könnte, nach uns zu schicken,
gerade nach
uns!« Der Dichter fand es überflüssig nach einer besonderen Ursache zu
forschen. »Unser Freund,« erklärte er, »fühlte eben den Tod herannahen,
und
wenn er auch ziemlich einsam lebte, wenigstens in der letzten Zeit, –
in einer
solchen Stunde regt sich in Naturen, die ursprünglich zur Geselligkeit
geschaffen sind, wahrscheinlich das Bedürfnis, Menschen um sich zu
sehen, die
ihnen nahe standen.«
»Er
hatte doch jedenfalls
eine Geliebte,« bemerkte der Kaufmann. »Geliebte,« wiederholte der
Dichter und
zog die Augenbrauen verächtlich in die Höhe.
Jetzt
gewahrte der Arzt,
daß die mittlere Schreibtischlade halb geöffnet war. »Ob hier nicht
sein
Testament liegt,« sagte er. »Was kümmert uns das,« meinte der Kaufmann,
»zum
mindesten in diesem Augenblick. Übrigens lebt eine Schwester von ihm
verheiratet in London.«
Der
Diener trat ein. Er war
so frei sich Ratschläge zu erbitten wegen der Aufbahrung, des
Leichenbegängnisses, der Partezettel. Ein Testament sei wohl seines
Wissens
beim Notar des gnädigen Herrn hinterlegt, doch ob es Anordnungen über
diese
Dinge enthielte, sei ihm zweifelhaft. Der Dichter fand es dumpf und
schwül im
Zimmer. Er zog die schwere, rote Portiere von dem einen Fenster fort
und
öffnete beide Flügel. Ein breiter, dunkelblauer Streifen Frühlingsnacht
floß
herein. Der Arzt fragte den Diener, ob ihm nicht etwa bekannt sei, aus
welchem
Anlaß der Verstorbene nach ihnen habe senden lassen, denn wenn er es
recht
bedenke, in seiner Eigenschaft als Arzt sei er doch schon jahrelang
nicht mehr
in dieses Haus gerufen worden. Der Diener begrüßte die Frage wie eine
erwartete, zog ein übergroßes Portefeuille aus seiner Rocktasche,
entnahm ihm
ein Blatt Papier und berichtete, daß der gnädige Herr schon vor sieben
Jahren
die Namen der Freunde aufgezeichnet hätte, die er an seinem Sterbebett
versammelt wünschte. Also auch, wenn der gnädige Herr nicht mehr bei
Bewußtsein
gewesen wäre, er selbst aus eigener Machtvollkommenheit hätte sich
erlaubt nach
den Herren auszusenden.
Der
Arzt hatte dem Diener
den Zettel aus der Hand genommen und fand fünf Namen aufgeschrieben:
außer
denen der drei Anwesenden den eines vor zwei Jahren verstorbenen
Freundes und
den eines Unbekannten. Der Diener erläuterte, daß dieser letztere ein
Fabrikant
gewesen sei, in dessen Haus der Junggeselle vor neun oder zehn Jahren
verkehrt
hatte, und dessen Adresse in Verlust und Vergessenheit geraten wäre.
Die Herren
sahen einander an, befangen und erregt. »Wie ist das zu erklären?«
fragte der
Kaufmann. »Hatte er die Absicht eine Rede zu halten in seiner letzten
Stunde?«
»Sich selbst eine Leichenrede,« setzte der Dichter hinzu.