Der tote Gabriel
Sie tanzte an ihm
vorüber, im Arme eines Herrn, den er
nicht kannte, neigte ganz leise den Kopf und lächelte. Ferdinand
Neumann
verbeugte sich tiefer, als es sonst seine Art war. Sie ist auch da,
dachte er
verwundert und fühlte sich mit einem Male freier als vorher. Wenn Irene
es über
sich vermochte, schon vier Wochen nach Gabriels Tod in weißem Kleide
mit einem
beliebigen unbekannten Herrn durch einen lichten Saal zu schweben, so
durfte er
sich's auch nicht länger übelnehmen, an diesen Ort der lauten Freude
gekommen
zu sein. Heute abend zum erstenmal nach vier Wochen stiller
Zurückgezogenheit
war er von dem Wunsch erfaßt worden, wieder unter Menschen zu gehen.
Zur
angenehmen Überraschung seiner Eltern, die sich ihres Sohnes tiefe
Verstimmung
über den Tod eines doch nur flüchtigen Bekannten kaum zu erklären
gewußt
hatten, war er zum Abendessen im Frack erschienen, hatte die Absicht
geäußert,
den Juristenball zu besuchen, und entfernte sich bald mit dem
angenehmen
Gefühl, den guten alten Leuten ohne besondere Mühe eine kleine Freude
bereitet
zu haben.
Im
Fiaker, der ihn nach den Sophiensälen führte, wurde
ihm wieder etwas beklommen ums Herz. Er dachte der Nacht, in der er von
Wilhelminens Fenster aus drüben am Stadtparkgitter eine dunkle Gestalt
hatte
auf und ab wandeln sehen; des Morgens, an dem er, noch im Bette
liegend, die
Nachricht von dem Selbstmord Gabriels in der Zeitung gefunden, der
Stunde, da
ihm Wilhelmine den ergreifenden Brief zu lesen gegeben, in dem Gabriel
von ihr,
ohne ein Wort des Vorwurfs, ewigen Abschied genommen hatte. Auch
während er über
die breite Treppe emporstieg und selbst im Saal beim Rauschen der Musik
war ihm
nicht heiterer zumute geworden; erst Irenens Anblick hatte seine
Stimmung
erhellt.
Er
kannte Irene schon einige Jahre, ohne je ein
sonderliches Interesse an ihr genommen zu haben, und wie allen
Bekannten des
Hauses war auch ihm ihre Neigung zu Gabriel kein
Geheimnis geblieben. Als Ferdinand ein paar Tage
vor Weihnachten im Hause ihrer Eltern zu Gaste gewesen war, hatte sie
mit ihrer
angenehmen, dunklen Stimme ein paar Lieder gesungen. Gabriel hatte sie
auf dem
Klavier begleitet, und Ferdinand erinnerte sich deutlich, daß er sich
gefragt
hatte: Warum heiratet denn der gute Junge nicht das liebe, einfache
Geschöpf,
statt sich an diese großartige Wilhelmine zu hängen, die ihn sicher
demnächst
betrügen wird? Daß gerade er vom Schicksal ausersehen war, diese Ahnung
wahr zu
machen, das hatte Ferdinand an jenem Tage freilich noch nicht geahnt.
Doch was
den wahren Anteil seiner Schuld an Gabriels Tod anbelangte, so hatte
Anastasius
Treuenhof, der Versteher aller irdischen und göttlichen Dinge, sofort
festgestellt, daß ihm in dieser ganzen Angelegenheit nicht die Rolle
eines
Individiums, sondern die eines Prinzips zugefallen, daß daher wohl zu
gelinder
Wehmut, keineswegs aber zu ernsthafter Reue ein Anlaß vorhanden sei.
Immerhin
war es ein peinlicher Augenblick für Ferdinand gewesen, als er mit
Wilhelmine
an Gabriels Grabe stand, auf dem noch die welkenden Kränze lagen, und
seine
Begleiterin plötzlich mit jenem Tonfall, den er von der Bühne her so
gut
kannte, zu ihm, dem Tränen über die Wangen liefen, die Worte sprach:
»Ja, du
Schuft, nun kannst du freilich weinen.« Eine Stunde später schwor sie
allerdings, daß um seinetwillen auch Bessere als Gabriel hätten sterben
dürfen,
und in den letzten Tagen schien es Ferdinand manchmal, als hätte sie
alles
Traurige, was geschehen war, einfach vergessen. Treuenhof wußte auch
diesen
seltsamen Umstand zu erklären, und zwar damit, daß die Frauen mit den
Urelementen verwandter als die Männer und daher von Anbeginn dazu
geschaffen
wären, das Unabänderliche mit Ruhe hinzunehmen.
Zum
zweitenmal tanzte Irene an Ferdinand vorüber, und
wieder lächelte sie. Aber ihr Lächeln schien ein anderes als das
erstemal;
beziehungsreicher, grüßender, und ihr Blick blieb auf Ferdinand haften,
während
sie schon wieder davonschwebte und mit ihrem Tänzer in der Menge
verschwand.
Als der Walzer zu Ende war, spazierte Ferdinand im Saal herum, fragte
sich, was
ihn eigentlich hergelockt hatte, und ob es der Mühe wert gewesen war,
die edle
Melancholie seines Daseins, der in der letzten Zeit die
leidenschaftlichen
Stunden in Wilhelminens Armen nur einen düstern Reiz mehr verliehen,
von der
rauschenden Banalität dieses Ballabends stören zu lassen. Und er bekam
plötzlich Sehnsucht, sich nicht nur von dem Balle zu entfernen, sondern
in den
allernächsten Tagen, vielleicht morgen, die Stadt zu verlassen und eine
Reise
nach dem Süden anzutreten, nach Sizilien oder Ägypten. Er überlegte
eben, ob er
vor seiner Abfahrt Wilhelminen Lebewohl sagen sollte – als plötzlich
Irene vor
ihm stand. Leicht neigte sie den Kopf und erwiderte seinen Gruß; er
reichte ihr
den Arm und führte sie durch das Gedränge im Saal die wenigen Stufen
hinauf zu
dem breiten Gang mit den gedeckten Tischen, der rings um den Tanzsaal
lief.
Eben fing die Musik wieder an und beim ersten Schwellen der Akkorde
sagte Irene
leise: »Er ist tot – und wir zwei sind da.« Ferdinand erschrak ein
wenig,
beschleunigte unwillkürlich seine Schritte und bemerkte endlich: »Es
ist heute
das erstemal seither, daß ich unter so vielen Menschen bin.«
»Für
mich ist's heute schon das drittemal,« erwiderte
Irene mit klarer Stimme. »Einmal bin ich im Theater gewesen und einmal
auf
einer Soiree.«
»War es amüsant?« fragte
Ferdinand.
»Ich weiß es nicht.
Irgendwer hat Klavier gespielt,
irgendein anderer hat komische Sachen vorgetragen, und dann hat man
getanzt.«
»Ja es ist immer
dasselbe,« bemerkte Ferdinand.
Sie standen vor einer
Tür. »Ich bin zur Quadrille
engagiert,« sagte Irene, »aber ich will sie nicht tanzen. Flüchten wir
auf die
Galerie.« Ferdinand führte Irene über die schmale, kühle Wendeltreppe
hinauf.
Er sah einzelne feine Puderstäubchen auf Irenens Schultern. Das
schwarze Haar
trug sie in einem schweren Knoten tief im Nacken. Ihr Arm lag leicht in
dem
seinen. Die Tür zur Galerie stand offen, in der ersten Loge saß ein
Kellner,
der sich nun eilig erhob.
»Ich will ein Glas
Champagner trinken,« sagte Irene.
O! dachte Ferdinand –
sollte sie interessanter sein, als
ich vermutete? Oder ist es Affektation?
Er
bestellte den Wein, dann rückte er ihr einen Sessel
zurecht, so daß man sie von unten nicht sehen konnte.
»Sie waren sein Freund?«
fragte Irene und sah ihm fest
ins Auge.
»Sein Freund? Das kann
man eigentlich nicht sagen.
Jedenfalls waren unsere Beziehungen in den letzten Jahren nur sehr
lose.« Und
er dachte: Wie sonderbar sie mich ansieht. Sollte sie ahnen, daß ich
... Doch
er sprach weiter: »Vor fünf oder sechs Jahren habe ich zugleich mit ihm
an der
Universität einige Vorlesungen gehört. Wir haben nämlich beide Jus
studiert,
überflüssigerweise. Dann, vor drei Jahren, im Herbst, haben wir
miteinander
eine Radpartie gemacht, von Innsbruck aus, wo wir uns ganz zufällig
getroffen
hatten. Über den Brenner. In Verona haben wir uns wieder getrennt. Ich
bin nach
Hause gereist, er nach Rom.«
Irene nickte manchmal,
als wenn sie lauter bekannte Dinge
zu hören bekäme. Ferdinand fuhr fort: »In Rom hat er übrigens sein
erstes Stück
geschrieben, vielmehr das erste, das aufgeführt wurde.«
»Ja,«
sagte Irene.
»Er hat nicht viel Glück
gehabt,« bemerkte Ferdinand. Der
Champagner stand auf dem Tisch. Ferdinand schenkte ein. Sie ließen die
Gläser
aneinanderklingen, und während sie tranken, sahen sie einander ernst
ins Auge,
als gälte das erste Glas dem Gedächtnis des Entschwundenen. Dann setzte
Irene
das Glas nieder und sagte ruhig: »Wegen der Bischof hat er sich
umgebracht.«
»Das wird behauptet,«
erwiderte Ferdinand einfach und
empfand Befriedigung darüber, daß er sich mit keiner Miene verriet.
Die Einleitungsklänge der
Quadrille schmetterten so
heftig, daß die Champagnerkelche leise bebten.
»Kennen Sie die Bischof
persönlich?« fragte Irene.
»Ja,« erwiderte
Ferdinand. Also, sie hat keine Ahnung,
dachte er. Natürlich. Wenn sie es ahnte, tränke sie wohl nicht hier
heroben mit
mir Champagner. Oder vielleicht erst recht ...?
»Ich habe die Bischof
neulich als Medea gesehen,« sagte
Irene. »Nur ihretwegen bin ich ins Theater gegangen. Seit der Premiere
des
Stückes von Gabriel im vorigen Winter hatte ich sie nicht auf der Bühne
gesehen. Damals hat die Geschichte wohl angefangen?«
Ferdinand zuckte die
Achseln, er wußte gar nichts. Und er
stellte fest: »Sie ist eine große Künstlerin.«
»Das ist wohl möglich,«
erwiderte Irene, »aber ich glaube
nicht, daß sie darum das Recht hat ...«
»Was
für ein Recht?« fragte Ferdinand, während er die
Gläser von neuem füllte.
»Das Recht, einen
Menschen in den Tod zu treiben,« schloß
Irene und blickte ins Leere.
»Ja,
mein Fräulein,« sagte Ferdinand bedächtig, »wo hier
einerseits das Recht, andererseits die Verantwortung anfängt, das läßt
sich
schwer entscheiden. Und wenn man die näheren Umstände nicht kennt, wie
kann man
da ... Jedenfalls gehört Fräulein Bischof zu den Wesen, die, wie soll
ich nur
sagen, mit den Elementargeistern verwandter sind als wir anderen
Menschen, und
man darf an solche Geschöpfe wahrscheinlich nicht das gleiche Maß legen
wie an
unsereinen.«
Irene hatte ihren kleinen
altmodischen Elfenbeinfächer
auf den Tisch gelegt, nahm ihn nun wieder auf und führte ihn an Wange
und
Stirn, wie zur Kühlung. Dann trank sie ihr Glas auf einen Zug aus und
sagte:
»Daß sie ihm nicht treu geblieben ist – nun, das ist ja vielleicht zu
verstehen. Aber warum ist sie nicht aufrichtig zu ihm gewesen? Warum
hat sie
ihm nicht gesagt: Es ist aus. Ich liebe einen andern, laß uns scheiden.
Es
hätte ihm gewiß sehr weh getan, aber in den Tod getrieben hätt' es ihn
nicht.«
»Wer weiß,« sagte
Ferdinand langsam.
»Gewiß nicht,«
wiederholte Irene hart. »Nur der Ekel war
es, der ihn dahin gejagt hat. Der Ekel. Daß er denken mußte: dieselben
Worte,
die ich heute gehört, dieselben Zärtlichkeiten, die ich heute empfangen
...«
Ein Zucken ging durch ihren Körper, ihr Blick schweifte über die
Brüstung in
den Saal hinaus, und sie schwieg.
Ferdinand sah sie an und
begriff nicht, daß sich
irgendein Mensch auf Erden Wilhelminens wegen umbringen konnte, der von
diesem
Mädchen geliebt war. Er zweifelte in diesem Moment auch stärker als je,
daß
Gabriel jemals Talent gehabt hätte. Freilich konnte er sich des Stückes
nur
dunkel entsinnen, in dem Wilhelmine voriges Jahr die Hauptrolle
gespielt hatte,
und nach dessen Mißerfolg sie, wie zur Entschädigung, Gabriels Geliebte
geworden war. Sehr leise sagte Irene jetzt, mit abgewandtem Blick: »Sie
haben
also in den letzten Jahren nicht mit ihm verkehrt?«
»Wenig,« erwiderte
Ferdinand. »Erst im letzten Herbst
sind wir wieder einige Male zusammengekommen. Ich bin ihm zufällig
einmal auf
dem Ring begegnet. Er war gerade in Gesellschaft der Bischof, und wir
haben
dann alle drei im Volksgarten miteinander soupiert. Es war ein sehr
gemütlicher
Abend. Man konnte noch im Freien sitzen, obwohl es schon Ende Oktober
war. Dann
sind wir noch ein paarmal zusammen gewesen nach diesem Abend – ein-
oder
zweimal sogar oben bei Fräulein Bischof. Ja, es hatte gewissermaßen den
Anschein, als wenn man einander wiedergefunden hätte nach langer Zeit.
Aber es
wurde nichts daraus.« Ferdinand sah an Irene vorbei und lächelte.
»Nun will ich Ihnen etwas
erzählen,« sagte Irene. »Ich
hatte die Absicht, Fräulein Bischof zu besuchen.«
»Wie?« rief Ferdinand und
betrachtete Irenens Stirn, die
sehr weiß war und höher, als Mädchenstirnen zu sein pflegen.
Die Quadrille war zu
Ende, und die Musik schwieg. Lärmend
von unten drang das Gewirr der Stimmen. Einige gleichgültige Worte, als
hätten
sie die Kraft sich von den anderen loszulösen, drangen deutlicher
herauf.
»Ich war sogar fest
entschlossen,« sagte Irene, während
sie den elfenbeinernen Fächer auf- und zuklappte. »Aber – denken Sie,
wie
kindisch, im letzten Moment versagte mir immer der Mut.«
»Warum wollten Sie sie
denn besuchen?« fragte Ferdinand.
»Warum? Das ist doch sehr
einfach. Ich wollte sie eben
von Angesicht zu Angesicht sehen, ihre Stimme hören, wollte wissen, wie
sie im
gewöhnlichen Leben spricht und sich bewegt, sie um allerlei alltägliche
Dinge
fragen. Begreifen Sie denn das nicht?« fügte sie plötzlich heftig
hinzu, lachte
kurz, trank einen Schluck aus ihrem Glase und redete weiter. »Es
interessiert
einen doch, wie diese Frauen eigentlich sind, diese geheimnisvollen,
die man
mit anderem Maße messen muß, wie Sie behaupten, die, für die gute
Menschen sich
umbringen, und die drei Tage später wieder auf der Bühne stehen, so
herrlich
und so groß, als hätte sich nichts auf der Welt verändert.«
Zwei Herren gingen
vorüber, blieben stehen, wandten sich
um und starrten Irene an.
Ferdinand war ärgerlich
und entschlossen, wenn diese
Ungezogenheit nur eine Sekunde länger andauerte, aufzustehen und die
beiden
Herren zur Rede zu stellen. Und er sah sich schon Karten wechseln,
Zeugen
empfangen, im Morgengrauen durch den Prater fahren, durch die Brust
getroffen
auf die feuchte Erde sinken, und endlich Wilhelminen mit irgendeinem
Komödianten an seinem Grabe stehen. Aber noch vor Ablauf der Sekunde,
die er
den Herren Frist gegönnt hatte, starrten sie nicht mehr und spazierten
weiter.
Und Ferdinand hörte wieder Irenens Stimme: »Jetzt hätte ich Mut,« sagte
sie mit
einem seltsamen, wie verzweifelten Lächeln.
»Wozu Mut?« fragte
Ferdinand.
»Mut, das Fräulein
Bischof zu besuchen.«
»Das Fräulein Bischof zu
besuchen ... jetzt –?«
»Ja, gerade jetzt. Was
denken Sie dazu?« Und sie wiegte
die Schultern im Takte der Musik. »Oder sollen wir Walzer tanzen?«
»Immerhin liegt es
näher,« meinte Ferdinand.