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Literatur


04.3


Arthur Schnitzler

Masken und Wunder
Novellen



Der tote Gabriel

Sie tanzte an ihm vorüber, im Arme eines Herrn, den er nicht kannte, neigte ganz leise den Kopf und lächelte. Ferdinand Neumann verbeugte sich tiefer, als es sonst seine Art war. Sie ist auch da, dachte er verwundert und fühlte sich mit einem Male freier als vorher. Wenn Irene es über sich vermochte, schon vier Wochen nach Gabriels Tod in weißem Kleide mit einem beliebigen unbekannten Herrn durch einen lichten Saal zu schweben, so durfte er sich's auch nicht länger übelnehmen, an diesen Ort der lauten Freude gekommen zu sein. Heute abend zum erstenmal nach vier Wochen stiller Zurückgezogenheit war er von dem Wunsch erfaßt worden, wieder unter Menschen zu gehen. Zur angenehmen Überraschung seiner Eltern, die sich ihres Sohnes tiefe Verstimmung über den Tod eines doch nur flüchtigen Bekannten kaum zu erklären gewußt hatten, war er zum Abendessen im Frack erschienen, hatte die Absicht geäußert, den Juristenball zu besuchen, und entfernte sich bald mit dem angenehmen Gefühl, den guten alten Leuten ohne besondere Mühe eine kleine Freude bereitet zu haben.
 
Im Fiaker, der ihn nach den Sophiensälen führte, wurde ihm wieder etwas beklommen ums Herz. Er dachte der Nacht, in der er von Wilhelminens Fenster aus drüben am Stadtparkgitter eine dunkle Gestalt hatte auf und ab wandeln sehen; des Morgens, an dem er, noch im Bette liegend, die Nachricht von dem Selbstmord Gabriels in der Zeitung gefunden, der Stunde, da ihm Wilhelmine den ergreifenden Brief zu lesen gegeben, in dem Gabriel von ihr, ohne ein Wort des Vorwurfs, ewigen Abschied genommen hatte. Auch während er über die breite Treppe emporstieg und selbst im Saal beim Rauschen der Musik war ihm nicht heiterer zumute geworden; erst Irenens Anblick hatte seine Stimmung erhellt.
 
Er kannte Irene schon einige Jahre, ohne je ein sonderliches Interesse an ihr genommen zu haben, und wie allen Bekannten des Hauses war auch ihm ihre Neigung zu Gabriel kein Geheimnis geblieben. Als Ferdinand ein paar Tage vor Weihnachten im Hause ihrer Eltern zu Gaste gewesen war, hatte sie mit ihrer angenehmen, dunklen Stimme ein paar Lieder gesungen. Gabriel hatte sie auf dem Klavier begleitet, und Ferdinand erinnerte sich deutlich, daß er sich gefragt hatte: Warum heiratet denn der gute Junge nicht das liebe, einfache Geschöpf, statt sich an diese großartige Wilhelmine zu hängen, die ihn sicher demnächst betrügen wird? Daß gerade er vom Schicksal ausersehen war, diese Ahnung wahr zu machen, das hatte Ferdinand an jenem Tage freilich noch nicht geahnt. Doch was den wahren Anteil seiner Schuld an Gabriels Tod anbelangte, so hatte Anastasius Treuenhof, der Versteher aller irdischen und göttlichen Dinge, sofort festgestellt, daß ihm in dieser ganzen Angelegenheit nicht die Rolle eines Individiums, sondern die eines Prinzips zugefallen, daß daher wohl zu gelinder Wehmut, keineswegs aber zu ernsthafter Reue ein Anlaß vorhanden sei. Immerhin war es ein peinlicher Augenblick für Ferdinand gewesen, als er mit Wilhelmine an Gabriels Grabe stand, auf dem noch die welkenden Kränze lagen, und seine Begleiterin plötzlich mit jenem Tonfall, den er von der Bühne her so gut kannte, zu ihm, dem Tränen über die Wangen liefen, die Worte sprach: »Ja, du Schuft, nun kannst du freilich weinen.« Eine Stunde später schwor sie allerdings, daß um seinetwillen auch Bessere als Gabriel hätten sterben dürfen, und in den letzten Tagen schien es Ferdinand manchmal, als hätte sie alles Traurige, was geschehen war, einfach vergessen. Treuenhof wußte auch diesen seltsamen Umstand zu erklären, und zwar damit, daß die Frauen mit den Urelementen verwandter als die Männer und daher von Anbeginn dazu geschaffen wären, das Unabänderliche mit Ruhe hinzunehmen.
 
Zum zweitenmal tanzte Irene an Ferdinand vorüber, und wieder lächelte sie. Aber ihr Lächeln schien ein anderes als das erstemal; beziehungsreicher, grüßender, und ihr Blick blieb auf Ferdinand haften, während sie schon wieder davonschwebte und mit ihrem Tänzer in der Menge verschwand. Als der Walzer zu Ende war, spazierte Ferdinand im Saal herum, fragte sich, was ihn eigentlich hergelockt hatte, und ob es der Mühe wert gewesen war, die edle Melancholie seines Daseins, der in der letzten Zeit die leidenschaftlichen Stunden in Wilhelminens Armen nur einen düstern Reiz mehr verliehen, von der rauschenden Banalität dieses Ballabends stören zu lassen. Und er bekam plötzlich Sehnsucht, sich nicht nur von dem Balle zu entfernen, sondern in den allernächsten Tagen, vielleicht morgen, die Stadt zu verlassen und eine Reise nach dem Süden anzutreten, nach Sizilien oder Ägypten. Er überlegte eben, ob er vor seiner Abfahrt Wilhelminen Lebewohl sagen sollte – als plötzlich Irene vor ihm stand. Leicht neigte sie den Kopf und erwiderte seinen Gruß; er reichte ihr den Arm und führte sie durch das Gedränge im Saal die wenigen Stufen hinauf zu dem breiten Gang mit den gedeckten Tischen, der rings um den Tanzsaal lief. Eben fing die Musik wieder an und beim ersten Schwellen der Akkorde sagte Irene leise: »Er ist tot – und wir zwei sind da.« Ferdinand erschrak ein wenig, beschleunigte unwillkürlich seine Schritte und bemerkte endlich: »Es ist heute das erstemal seither, daß ich unter so vielen Menschen bin.«
»Für mich ist's heute schon das drittemal,« erwiderte Irene mit klarer Stimme. »Einmal bin ich im Theater gewesen und einmal auf einer Soiree.«

»War es amüsant?« fragte Ferdinand.

»Ich weiß es nicht. Irgendwer hat Klavier gespielt, irgendein anderer hat komische Sachen vorgetragen, und dann hat man getanzt.«

»Ja es ist immer dasselbe,« bemerkte Ferdinand.

Sie standen vor einer Tür. »Ich bin zur Quadrille engagiert,« sagte Irene, »aber ich will sie nicht tanzen. Flüchten wir auf die Galerie.« Ferdinand führte Irene über die schmale, kühle Wendeltreppe hinauf. Er sah einzelne feine Puderstäubchen auf Irenens Schultern. Das schwarze Haar trug sie in einem schweren Knoten tief im Nacken. Ihr Arm lag leicht in dem seinen. Die Tür zur Galerie stand offen, in der ersten Loge saß ein Kellner, der sich nun eilig erhob.

»Ich will ein Glas Champagner trinken,« sagte Irene.

O! dachte Ferdinand – sollte sie interessanter sein, als ich vermutete? Oder ist es Affektation?
Er bestellte den Wein, dann rückte er ihr einen Sessel zurecht, so daß man sie von unten nicht sehen konnte.

»Sie waren sein Freund?« fragte Irene und sah ihm fest ins Auge.

»Sein Freund? Das kann man eigentlich nicht sagen. Jedenfalls waren unsere Beziehungen in den letzten Jahren nur sehr lose.« Und er dachte: Wie sonderbar sie mich ansieht. Sollte sie ahnen, daß ich ... Doch er sprach weiter: »Vor fünf oder sechs Jahren habe ich zugleich mit ihm an der Universität einige Vorlesungen gehört. Wir haben nämlich beide Jus studiert, überflüssigerweise. Dann, vor drei Jahren, im Herbst, haben wir miteinander eine Radpartie gemacht, von Innsbruck aus, wo wir uns ganz zufällig getroffen hatten. Über den Brenner. In Verona haben wir uns wieder getrennt. Ich bin nach Hause gereist, er nach Rom.«

Irene nickte manchmal, als wenn sie lauter bekannte Dinge zu hören bekäme. Ferdinand fuhr fort: »In Rom hat er übrigens sein erstes Stück geschrieben, vielmehr das erste, das aufgeführt wurde.«
 

»Ja,« sagte Irene.

»Er hat nicht viel Glück gehabt,« bemerkte Ferdinand. Der Champagner stand auf dem Tisch. Ferdinand schenkte ein. Sie ließen die Gläser aneinanderklingen, und während sie tranken, sahen sie einander ernst ins Auge, als gälte das erste Glas dem Gedächtnis des Entschwundenen. Dann setzte Irene das Glas nieder und sagte ruhig: »Wegen der Bischof hat er sich umgebracht.«

»Das wird behauptet,« erwiderte Ferdinand einfach und empfand Befriedigung darüber, daß er sich mit keiner Miene verriet.

Die Einleitungsklänge der Quadrille schmetterten so heftig, daß die Champagnerkelche leise bebten.

»Kennen Sie die Bischof persönlich?« fragte Irene.

»Ja,« erwiderte Ferdinand. Also, sie hat keine Ahnung, dachte er. Natürlich. Wenn sie es ahnte, tränke sie wohl nicht hier heroben mit mir Champagner. Oder vielleicht erst recht ...?

»Ich habe die Bischof neulich als Medea gesehen,« sagte Irene. »Nur ihretwegen bin ich ins Theater gegangen. Seit der Premiere des Stückes von Gabriel im vorigen Winter hatte ich sie nicht auf der Bühne gesehen. Damals hat die Geschichte wohl angefangen?«

Ferdinand zuckte die Achseln, er wußte gar nichts. Und er stellte fest: »Sie ist eine große Künstlerin.«

»Das ist wohl möglich,« erwiderte Irene, »aber ich glaube nicht, daß sie darum das Recht hat ...«
»Was für ein Recht?« fragte Ferdinand, während er die Gläser von neuem füllte.

»Das Recht, einen Menschen in den Tod zu treiben,« schloß Irene und blickte ins Leere.
 

»Ja, mein Fräulein,« sagte Ferdinand bedächtig, »wo hier einerseits das Recht, andererseits die Verantwortung anfängt, das läßt sich schwer entscheiden. Und wenn man die näheren Umstände nicht kennt, wie kann man da ... Jedenfalls gehört Fräulein Bischof zu den Wesen, die, wie soll ich nur sagen, mit den Elementargeistern verwandter sind als wir anderen Menschen, und man darf an solche Geschöpfe wahrscheinlich nicht das gleiche Maß legen wie an unsereinen.«

Irene hatte ihren kleinen altmodischen Elfenbeinfächer auf den Tisch gelegt, nahm ihn nun wieder auf und führte ihn an Wange und Stirn, wie zur Kühlung. Dann trank sie ihr Glas auf einen Zug aus und sagte: »Daß sie ihm nicht treu geblieben ist – nun, das ist ja vielleicht zu verstehen. Aber warum ist sie nicht aufrichtig zu ihm gewesen? Warum hat sie ihm nicht gesagt: Es ist aus. Ich liebe einen andern, laß uns scheiden. Es hätte ihm gewiß sehr weh getan, aber in den Tod getrieben hätt' es ihn nicht.«

»Wer weiß,« sagte Ferdinand langsam.

»Gewiß nicht,« wiederholte Irene hart. »Nur der Ekel war es, der ihn dahin gejagt hat. Der Ekel. Daß er denken mußte: dieselben Worte, die ich heute gehört, dieselben Zärtlichkeiten, die ich heute empfangen ...« Ein Zucken ging durch ihren Körper, ihr Blick schweifte über die Brüstung in den Saal hinaus, und sie schwieg.

Ferdinand sah sie an und begriff nicht, daß sich irgendein Mensch auf Erden Wilhelminens wegen umbringen konnte, der von diesem Mädchen geliebt war. Er zweifelte in diesem Moment auch stärker als je, daß Gabriel jemals Talent gehabt hätte. Freilich konnte er sich des Stückes nur dunkel entsinnen, in dem Wilhelmine voriges Jahr die Hauptrolle gespielt hatte, und nach dessen Mißerfolg sie, wie zur Entschädigung, Gabriels Geliebte geworden war. Sehr leise sagte Irene jetzt, mit abgewandtem Blick: »Sie haben also in den letzten Jahren nicht mit ihm verkehrt?«

»Wenig,« erwiderte Ferdinand. »Erst im letzten Herbst sind wir wieder einige Male zusammengekommen. Ich bin ihm zufällig einmal auf dem Ring begegnet. Er war gerade in Gesellschaft der Bischof, und wir haben dann alle drei im Volksgarten miteinander soupiert. Es war ein sehr gemütlicher Abend. Man konnte noch im Freien sitzen, obwohl es schon Ende Oktober war. Dann sind wir noch ein paarmal zusammen gewesen nach diesem Abend – ein- oder zweimal sogar oben bei Fräulein Bischof. Ja, es hatte gewissermaßen den Anschein, als wenn man einander wiedergefunden hätte nach langer Zeit. Aber es wurde nichts daraus.« Ferdinand sah an Irene vorbei und lächelte.

»Nun will ich Ihnen etwas erzählen,« sagte Irene. »Ich hatte die Absicht, Fräulein Bischof zu besuchen.«

»Wie?« rief Ferdinand und betrachtete Irenens Stirn, die sehr weiß war und höher, als Mädchenstirnen zu sein pflegen.

Die Quadrille war zu Ende, und die Musik schwieg. Lärmend von unten drang das Gewirr der Stimmen. Einige gleichgültige Worte, als hätten sie die Kraft sich von den anderen loszulösen, drangen deutlicher herauf.

»Ich war sogar fest entschlossen,« sagte Irene, während sie den elfenbeinernen Fächer auf- und zuklappte. »Aber – denken Sie, wie kindisch, im letzten Moment versagte mir immer der Mut.«

»Warum wollten Sie sie denn besuchen?« fragte Ferdinand.

»Warum? Das ist doch sehr einfach. Ich wollte sie eben von Angesicht zu Angesicht sehen, ihre Stimme hören, wollte wissen, wie sie im gewöhnlichen Leben spricht und sich bewegt, sie um allerlei alltägliche Dinge fragen. Begreifen Sie denn das nicht?« fügte sie plötzlich heftig hinzu, lachte kurz, trank einen Schluck aus ihrem Glase und redete weiter. »Es interessiert einen doch, wie diese Frauen eigentlich sind, diese geheimnisvollen, die man mit anderem Maße messen muß, wie Sie behaupten, die, für die gute Menschen sich umbringen, und die drei Tage später wieder auf der Bühne stehen, so herrlich und so groß, als hätte sich nichts auf der Welt verändert.«

Zwei Herren gingen vorüber, blieben stehen, wandten sich um und starrten Irene an.

Ferdinand war ärgerlich und entschlossen, wenn diese Ungezogenheit nur eine Sekunde länger andauerte, aufzustehen und die beiden Herren zur Rede zu stellen. Und er sah sich schon Karten wechseln, Zeugen empfangen, im Morgengrauen durch den Prater fahren, durch die Brust getroffen auf die feuchte Erde sinken, und endlich Wilhelminen mit irgendeinem Komödianten an seinem Grabe stehen. Aber noch vor Ablauf der Sekunde, die er den Herren Frist gegönnt hatte, starrten sie nicht mehr und spazierten weiter. Und Ferdinand hörte wieder Irenens Stimme: »Jetzt hätte ich Mut,« sagte sie mit einem seltsamen, wie verzweifelten Lächeln.

»Wozu Mut?« fragte Ferdinand.

»Mut, das Fräulein Bischof zu besuchen.«

»Das Fräulein Bischof zu besuchen ... jetzt –?«

»Ja, gerade jetzt. Was denken Sie dazu?« Und sie wiegte die Schultern im Takte der Musik. »Oder sollen wir Walzer tanzen?«

»Immerhin liegt es näher,« meinte Ferdinand.

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