Der
Cabuliwallah
(Der Obsthändler aus
Kabul)¨
(Indien,
New York 1916)
Meiner
fünf Jahre alten
Tochter ist es unmöglich, ohne Klatsch zu leben. Ich bin wirklich der
Ansicht,
sie hat in ihrem ganzen Leben noch keine Minute mit Stille
verschwendet. Ihre
Mutter fühlt sich dadurch oft gestört und unterbricht dann ihr
Plappern, aber
ich nicht. Mini still zu sehen ist unnatürlich, und ich kann es nicht
lange
ertragen. Und so kommt es, dass meine Gespräche mit ihr immer lebhaft
sind.
An
einem Morgen zum
Beispiel, als ich mich mitten im siebzehnten Kapitel meines Romans
befand,
stahl sich meine kleine Mini ins Zimmer, legte ihre Hand in meine und
sagte:
“Vater! Ramdayal der Türsteher nennt eine Krähe eine Crähe! Der hat
doch keine
Ahnung, oder?“
Bevor
ich ihr die
sprachlichen Unterschiede in der Welt erklären konnte, schwamm sie
schon in der
vollen Flut eines anderen Themas. “Was glaubst Du, Vater? Bhola sagt,
da ist
ein Elefant in den Wolken, der Wasser aus seinem Rüssel bläst, und
deswegen
regnet es!“
Und
als ich noch dasaß und
eine Antwort auf das zuletzt Gesagte vorbereitete, sauste sie neu los:
“Vater!
in welcher Beziehung steht Mutter zu Dir?“
“Meine
liebe kleine Schwägerin!“(wörtl. Schwester-im-Gesetz) , murmelte ich
unfreiwillig vor mich hin, arrangierte
dann aber mit ernstem Gesicht die Antwort: “Geh und spiel mit Bhola,
Mini! Ich
bin beschäftigt!“
Das
Fenster meines Zimmers
überblickt die Straße. Die Kleine hatte sich an meine Füße nahe an
meinen Tisch
gesetzt, spielte und trommelte sanft auf ihren Knien. Ich arbeitete
hart an
meinem siebzehnten Kapitel, in welchem Protrap Singh, der Held,
Kanchanlata,
die Heldin, in seine Arme gefangen hatte und gerade mit ihr aus dem
dritten
Stock der Burg flüchtete als plötzlich Mini ihr Spiel sein ließ, zum
Fenster
lief und rief:¨ “Ein Cabuliwallah! Ein Cabuliwallah!“ Tatsächlich war
unten auf
der Straße ein Cabuliwallah und ging langsam vorbei. Er trug die lose
erdige
Kleidung seines Volkes und einen hohen Turban; ein Sack war auf seinem
Rücken,
und er hielt Schachteln mit Weintrauben in seiner Hand.
Ich
kann nicht sagen, was
die Gefühle meiner Tochter beim Anblick dieses Mannes waren, aber sie
fing an,
ihn laut zu rufen. “Ah!“, dachte ich, “Er wird hereinkommen, und mein
siebzehntes Kapitel wird nie fertig werden!“ Exakt in diesem Moment
drehte sich
der Cabuliwallah um und sah zu dem Kind herauf. Als sie das bemerkte,
erschrak
sie völlig und flüchtete hinaus in den Schutz ihrer Mutter. Sie hatte
einen
Aberglauben, in dem Sack, den der große Mann trug, waren vielleicht
zwei, drei
Kinder wie sie selbst. Inzwischen kam der Hausierer durch die Tür in
den Gang
und grüßte mich mit einem lachelnden Gesicht.
Die
Position meines Helden
und meiner Heldin war so prekär, dass mein erster Impuls war,
abzubrechen und
etwas zu kaufen, schließlich war der Mann gerufen worden. Ich nahm ihm
ein paar
Kleinigkeiten ab und ein Gespräch entwickelte sich über Abdurrhaman,
die
Russen, die Engländer und die Grenzpolitik.
Als
er schon am Gehen war,
fragte er: “Und wo ist das kleine Mädchen, Sir?“
Und
ich war der Meinung,
sie müsse ihre falsche Furcht ablegen, und ließ sie herausbringen.
Sie
stand bei meinem Stuhl
und blickte auf den Cabuliwallah und den Sack. Er bot ihr Nüsse und
Rosinen an,
sie ließ sich aber nicht in Versuchung führen, schmiegte sich nur noch
näher an
mich, alle ihre Zweifel verstärkt.
Das
war ihr erstes Treffen.
Eines
Morgens allerdings,
nicht viele Tage später, ich wollte gerade das Haus verlassen, war ich
erstaunt,
Mini auf der Bank neben der Tür sitzen zu sehen; sie lachte und redete
mit dem
großen Cabuliwallah ihr zu Füßen. Es schien, als hätte meine kleine
Tochter ihr
ganzes Leben keinen geduldigeren Zuhörer gehabt, ihren Vater
ausgenommen. Und
schon war die Ecke ihres kleinen sari ausgefüllt mit Mandeln und
Rosinen, das
Geschenk ihres Besuchers. “Warum haben Sie ihr die gegeben?“, sagte
ich, nahm
ein 8-anna Stück heraus und reichte es ihm. Der Mann akzeptierte das
Geld ohne
Zögern und steckte es in seine Tasche.
Tja,
als ich eine Stunde
später zurückkam, stellte ich fest, dass die unglückliche Münze das
Doppelte
ihres Werts an Problemen verursacht hatte! Denn der Cabuliwallah hatte
es Mini
gegeben, und ihre Mutter hatte das helle runde Objekt bemerkt und das
Kind
bedrängt:¨ “Wo hast du das 8-anna Stück her?“
“Der
Cabuliwallah hat es
mir gegeben“, sagte Mini fröhlich.¨
“Der
Cabuliwallah hat es dir
gegeben!“, rief ihre Mutter höchst schockiert,¨
“Oh
Mini! Wie konntest du
es von ihm annehmen?“
In
dem Moment kam ich dazu
und rettete sie aus der drohenden Katastrophe, sodann ging ich daran,
meine
eigenen Fragen zu stellen.
Es
war nicht das erste oder
zweite Mal, dass die zwei sich trafen, fand ich heraus.
Der Cabuliwallah
hatte die Angst des Kindes durch wohlüberlegte Bestechung
mit Nüssen und
Mandeln überwunden, und die zwei waren nun die besten Freunde.
Da
gab es viele seltsame
Witze, die beide richtig amüsierten. Mini saß vor ihm, sah mit all
ihrer
zierlichen Würde an seiner riesenhaften Statur hinab und fing an, das
Gesicht
vor Lachen verzerrt: “O Cabuliwallah, Cabuliwallah, was hast Du in
Deinem
Sack?“
Und
er antwortete dann im
nasalen Akzent der Bergleute: “Einen Elefanten!“ Vielleicht kaum ein
Grund für
Fröhlichkeit, aber wie sie beide den Witz genossen! Für mich hatte
dieses kindliche
Gerede mit einem erwachsenen Mann stets etwas auf eigenartige Weise
Faszinierendes.
Darauf
ließ sich der
Cabuliwallah nicht lumpen und war nun an der Reihe:
“Gut,
Kleine, und wann
gehst Du zum Haus Deines Schwiegervaters?“ (wörtl.
<Vater-im-Gesetz>)
Nun
ist es so, dass die
meisten bengalischen Mädchen schon längst vom Haus des Schwiegervaters
gehört
haben; wir sind da ein wenig neumodisch und hatten diese Dinge von
unserem Kind
ferngehalten, und Mini muss von dieser Frage durchaus verwirrt worden
sein.
Aber sie zeigte es keineswegs und antwortete mit gekonntem Taktgefühl:
“Gehst
Du denn dorthin?“
Allerdings
ist es unter Männern
der Klasse des Cabuliwallah wohlbekannt, dass die Worte Haus des
Schwiegervaters eine doppelte Bedeutung haben. Es ist eine
beschönigende
Umschreibung für das Gefängnis, der Ort, an dem für uns gut gesorgt
ist, und
kostenlos. In diesem Sinn nahm der kräftige Hausierer die Frage meiner
Tochter.
“Ah“, sagte er dann und schüttelte seine Faust in Richtung eines
imaginären
Polizisten, “ich verhaue meinen Schwiegervater!“ Das hörte Mini,
stellte sich
den armen, unterlegenen Verwandten vor und verfiel in schallendes
Gelächter,
welchem sich ihr schrecklicher Freund anschloss.
Herbstmorgen
waren dies,
genau die Jahreszeit, zu der die Könige des Altertums in den Krieg
zogen; und
ich, der ich nie aus meiner kleinen Ecke Kalkuttas herauskam, ließ
meine
Vorstellungskraft über die ganze Welt wandern. Schon beim Namen eines
anderen
Landes ging mein Herz dort hinaus, und beim Anblick eines Fremden auf
der Straße
verfiel ich darin, ein Netz von Träumen zu weben, – die Berge, die
Schluchten
und die Wälder seines entfernten Zuhauses, die Anlage des Dorfes und
das freie
und unabhängige Leben in weit entfernter Wildnis.
Vielleicht
ist es so, dass
sich die Reiseszenen selbst vor mir heraufbeschwören und immer wieder
deswegen
höchst lebendig durch meine Vorstellung ziehen, weil ich solch eine
unbewegliche Existenz führe, dass mich ein Aufruf zur Reise wie ein
Blitz treffen würde. In der Gegenwart dieses Cabuliwallah wurde ich
sofort zum Fuß dürrer
Berggipfel transportiert, zwischen deren sich türmenden Höhen kleine
schmale
Schluchten hinein-und hinauszwängten. Ich konnte die Kette von Kamelen
in
Begleitung von Händlern mit Turbanen sehen; sie trugen Waren, ein paar
ihrer
wunderlichen alten Schusswaffen, ein paar ihrer Speere und reisten
hinunter Richtung Ebene. Ich konnte sehen –aber an einem solchen Punkt
unterbrach mich Minis Mutter und flehte mich an, mich vor dem Mann zu
hüten.
Unglücklicherweise
ist
Minis Mutter eine sehr furchtsame Lady. Jedesmal, wenn sie Lärm auf der
Straße
hört oder Leute zum Haus kommen sieht, kommt sie zu der
Schlussfolgerung, es wären
entweder Diebe, Betrunkene, Schlangen, Tiger, Malaria oder Kakerlaken,
Tausendfüßler oder ein englischer Seemann. Auch nach all den Jahren
Erfahrung
kann sie ihre Angst nicht überwinden. Sie war voller Zweifel über den
Cabuliwallah und bat mich regelmäßig, ein Auge auf ihn zu haben. Ich
versuchte,
ihre Furcht sanft wegzulachen, aber dann drehte sie es in die ernste
Richtung
und stellte mir feierliche Fragen.
Würden
etwa keine Kinder
entführt?
Sei
es denn nicht wahr,
dass in Kabul Sklaven gehalten werden?
Sei
es denn so sehr absurd,
dass dieser große Mann in der Lage ist, ein Kind
wegzutragen?
Ich
betonte, obwohl nicht
unmöglich, war es höchst unwahrscheinlich. Aber das reichte nicht und
ihr
Schrecken blieb. Da dieser aber unklar war, schien es nicht richtig,
dem Mann
das Haus zu verbieten, und die Innigkeit fuhr ungehindert fort.
Rahmun
der Cabuliwallah
hatte die Gewohnheit, einmal im Jahr, Mitte Januar, in sein Land
zurückzukehren,
und wenn die Zeit kam, war er sehr beschäftigt, ging von Haus zu Haus
und
sammelte seine Schulden ein. Dieses Jahr allerdings fand er regelmäßig
Zeit, um
zu kommen und Mini zu sehen.
Einem
Außenstehenden hätte
es scheinen können, dass es zwischen beiden eine gewisse Verabredung
gab, denn
wenn er morgens nicht konnte, erschien er
abends.
Sogar
mich machte es ab und
zu stutzig, diesen langen, lose bekleideten und vielbeladenen Mann in
der Ecke
eines dunklen Raumes zu überraschen; aber
wenn Mini dann
lachelnd mit ihrem
“O!
Cabuliwallah! Cabuliwallah!“ herlief
und die zwei
Freunde, im Alter so entfernt, in ihr übliches Gelächter und ihre alten
Witze
verfielen, fühlte ich mich wieder beruhigt.
Ein
paar Tage, bevor er geplant
hatte zu gehen, korrigierte ich eines Morgens meine Druckfahnen in
meinem
Arbeitszimmer. Das Wetter war kühl. Sonnenstrahlen berührten durch das
Fenster
meine Füße, und die geringfügige Wärme war sehr willkommen. Es war fast
acht
Uhr und die frühen Fußgänger gingen gerade nach Hause, die Köpfe
bedeckt. Mit
einem Mal hörte ich einen Aufruhr in der Straße, blickte hinaus und sah
Rahmun
gebunden zwischen zwei Polizisten weggeführt werdend, hinter ihnen eine
Traube
neugieriger Jungen. Blutflecken waren auf den Kleidern des Cabuliwallah,
und
einer der Polizisten trug ein Messer. Ich eilte hinaus, hielt sie an
und fragte,
was das alles zu bedeuten hätte. Teils von einem, teils von einem
anderen erfuhr ich,
ein gewisser Nachbar schuldete dem Hausierer etwas für einen
Rampuri-Schal,
hatte aber fälschlicherweise abgestritten, ihn gekauft zu haben. Im
Zuge der
Auseinandersetzung hatte Rahmun zugeschlagen. Der Gefangene fing nun in
der
Hitze seiner Aufregung an, seinem Feind alle möglichen Schimpfwörter an
den
Kopf zu werfen, als plötzlich meine kleine Mini in einer Veranda meines
Hauses
mit ihrem üblichen Ruf auftauchte:
“O
Cabuliwallah!
Cabuliwallah!“ Rahmuns Gesicht hellte sich auf, als er sich zu ihr
drehte.
Heute hatte er keinen Sack unter dem Arm, deswegen konnte sie ihn nicht
auf den
Elefanten ansprechen und ging deshalb sofort zur nächsten Frage über:
“Gehst Du
zum Haus des Schwiegervaters?“ Rahmun lachte und sagte: “Genau da gehe
ich hin,
Kleine!“ Dann sah er, dass die Antwort das Kind nicht amüsierte, und
hielt die
gefesselten Hände hoch.
“Ali,“
sagte er, “ich hätte
den alten Schwiegervater verhauen, aber meine Hände sind gebunden!“
Rahmun
wurde des mörderischen
Angriffs angeklagt und zu
ein paar Jahren Gefängnis verurteilt.