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Literatur


04.3


Drei Kurzgeschichten

 
Rabindranath Tagore




Der Cabuliwallah
(Der Obsthändler aus Kabul)¨
(Indien, New York 1916)
 
Meiner fünf Jahre alten Tochter ist es unmöglich, ohne Klatsch zu leben. Ich bin wirklich der Ansicht, sie hat in ihrem ganzen Leben noch keine Minute mit Stille verschwendet. Ihre Mutter fühlt sich dadurch oft gestört und unterbricht dann ihr Plappern, aber ich nicht. Mini still zu sehen ist unnatürlich, und ich kann es nicht lange ertragen. Und so kommt es, dass meine Gespräche mit ihr immer lebhaft sind.
 
An einem Morgen zum Beispiel, als ich mich mitten im siebzehnten Kapitel meines Romans befand, stahl sich meine kleine Mini ins Zimmer, legte ihre Hand in meine und sagte: “Vater! Ramdayal der Türsteher nennt eine Krähe eine Crähe! Der hat doch keine Ahnung, oder?“
 
Bevor ich ihr die sprachlichen Unterschiede in der Welt erklären konnte, schwamm sie schon in der vollen Flut eines anderen Themas. “Was glaubst Du, Vater? Bhola sagt, da ist ein Elefant in den Wolken, der Wasser aus seinem Rüssel bläst, und deswegen regnet es!“
 
Und als ich noch dasaß und eine Antwort auf das zuletzt Gesagte vorbereitete, sauste sie neu los: “Vater! in welcher Beziehung steht Mutter zu Dir?“
 
“Meine liebe kleine Schwägerin!“(wörtl. Schwester-im-Gesetz) , murmelte ich unfreiwillig vor mich hin, arrangierte dann aber mit ernstem Gesicht die Antwort: “Geh und spiel mit Bhola, Mini! Ich bin beschäftigt!“
 
Das Fenster meines Zimmers überblickt die Straße. Die Kleine hatte sich an meine Füße nahe an meinen Tisch gesetzt, spielte und trommelte sanft auf ihren Knien. Ich arbeitete hart an meinem siebzehnten Kapitel, in welchem Protrap Singh, der Held, Kanchanlata, die Heldin, in seine Arme gefangen hatte und gerade mit ihr aus dem dritten Stock der Burg flüchtete als plötzlich Mini ihr Spiel sein ließ, zum Fenster lief und rief:¨ “Ein Cabuliwallah! Ein Cabuliwallah!“ Tatsächlich war unten auf der Straße ein Cabuliwallah und ging langsam vorbei. Er trug die lose erdige Kleidung seines Volkes und einen hohen Turban; ein Sack war auf seinem Rücken, und er hielt Schachteln mit Weintrauben in seiner Hand.
 
Ich kann nicht sagen, was die Gefühle meiner Tochter beim Anblick dieses Mannes waren, aber sie fing an, ihn laut zu rufen. “Ah!“, dachte ich, “Er wird hereinkommen, und mein siebzehntes Kapitel wird nie fertig werden!“ Exakt in diesem Moment drehte sich der Cabuliwallah um und sah zu dem Kind herauf. Als sie das bemerkte, erschrak sie völlig und flüchtete hinaus in den Schutz ihrer Mutter. Sie hatte einen Aberglauben, in dem Sack, den der große Mann trug, waren vielleicht zwei, drei Kinder wie sie selbst. Inzwischen kam der Hausierer durch die Tür in den Gang und grüßte mich mit einem lachelnden Gesicht.
 
Die Position meines Helden und meiner Heldin war so prekär, dass mein erster Impuls war, abzubrechen und etwas zu kaufen, schließlich war der Mann gerufen worden. Ich nahm ihm ein paar Kleinigkeiten ab und ein Gespräch entwickelte sich über Abdurrhaman, die Russen, die Engländer und die Grenzpolitik.
 
Als er schon am Gehen war, fragte er: “Und wo ist das kleine Mädchen, Sir?“
 
Und ich war der Meinung, sie müsse ihre falsche Furcht ablegen, und ließ sie herausbringen.
 
Sie stand bei meinem Stuhl und blickte auf den Cabuliwallah und den Sack. Er bot ihr Nüsse und Rosinen an, sie ließ sich aber nicht in Versuchung führen, schmiegte sich nur noch näher an mich, alle ihre Zweifel verstärkt.
 
Das war ihr erstes Treffen.
 
Eines Morgens allerdings, nicht viele Tage später, ich wollte gerade das Haus verlassen, war ich erstaunt, Mini auf der Bank neben der Tür sitzen zu sehen; sie lachte und redete mit dem großen Cabuliwallah ihr zu Füßen. Es schien, als hätte meine kleine Tochter ihr ganzes Leben keinen geduldigeren Zuhörer gehabt, ihren Vater ausgenommen. Und schon war die Ecke ihres kleinen sari ausgefüllt mit Mandeln und Rosinen, das Geschenk ihres Besuchers. “Warum haben Sie ihr die gegeben?“, sagte ich, nahm ein 8-anna Stück heraus und reichte es ihm. Der Mann akzeptierte das Geld ohne Zögern und steckte es in seine Tasche.
 
Tja, als ich eine Stunde später zurückkam, stellte ich fest, dass die unglückliche Münze das Doppelte ihres Werts an Problemen verursacht hatte! Denn der Cabuliwallah hatte es Mini gegeben, und ihre Mutter hatte das helle runde Objekt bemerkt und das Kind bedrängt:¨ “Wo hast du das 8-anna Stück her?“
 
“Der Cabuliwallah hat es mir gegeben“, sagte Mini fröhlich.¨
“Der Cabuliwallah hat es dir gegeben!“, rief ihre Mutter höchst schockiert,¨
“Oh Mini! Wie konntest du es von ihm annehmen?“
 
In dem Moment kam ich dazu und rettete sie aus der drohenden Katastrophe, sodann ging ich daran, meine eigenen Fragen zu stellen.
 
Es war nicht das erste oder zweite Mal, dass die zwei sich trafen, fand ich  heraus. Der Cabuliwallah hatte die Angst des Kindes durch wohlüberlegte Bestechung mit Nüssen und Mandeln überwunden, und die zwei waren nun die besten Freunde.
 
Da gab es viele seltsame Witze, die beide richtig amüsierten. Mini saß vor ihm, sah mit all ihrer zierlichen Würde an seiner riesenhaften Statur hinab und fing an, das Gesicht vor Lachen verzerrt: “O Cabuliwallah, Cabuliwallah, was hast Du in Deinem Sack?“
 
Und er antwortete dann im nasalen Akzent der Bergleute: “Einen Elefanten!“ Vielleicht kaum ein Grund für Fröhlichkeit, aber wie sie beide den Witz genossen! Für mich hatte dieses kindliche Gerede mit einem erwachsenen Mann stets etwas auf eigenartige Weise Faszinierendes.
 
Darauf ließ sich der Cabuliwallah nicht lumpen und war nun an der Reihe:
“Gut, Kleine, und wann gehst Du zum Haus Deines Schwiegervaters?“ (wörtl. <Vater-im-Gesetz>)
 
Nun ist es so, dass die meisten bengalischen Mädchen schon längst vom Haus des Schwiegervaters gehört haben; wir sind da ein wenig neumodisch und hatten diese Dinge von unserem Kind ferngehalten, und Mini muss von dieser Frage durchaus verwirrt worden sein. Aber sie zeigte es keineswegs und antwortete mit gekonntem Taktgefühl: “Gehst Du denn dorthin?“
 
Allerdings ist es unter Männern der Klasse des Cabuliwallah wohlbekannt, dass die Worte Haus des Schwiegervaters eine doppelte Bedeutung haben. Es ist eine beschönigende Umschreibung für das Gefängnis, der Ort, an dem für uns gut gesorgt ist, und kostenlos. In diesem Sinn nahm der kräftige Hausierer die Frage meiner Tochter. “Ah“, sagte er dann und schüttelte seine Faust in Richtung eines imaginären Polizisten, “ich verhaue meinen Schwiegervater!“ Das hörte Mini, stellte sich den armen, unterlegenen Verwandten vor und verfiel in schallendes Gelächter, welchem sich ihr schrecklicher Freund anschloss.
 
Herbstmorgen waren dies, genau die Jahreszeit, zu der die Könige des Altertums in den Krieg zogen; und ich, der ich nie aus meiner kleinen Ecke Kalkuttas herauskam, ließ meine Vorstellungskraft über die ganze Welt wandern. Schon beim Namen eines anderen Landes ging mein Herz dort hinaus, und beim Anblick eines Fremden auf der Straße verfiel ich darin, ein Netz von Träumen zu weben, – die Berge, die Schluchten und die Wälder seines entfernten Zuhauses, die Anlage des Dorfes und das freie und unabhängige Leben in weit entfernter Wildnis.
 
Vielleicht ist es so, dass sich die Reiseszenen selbst vor mir heraufbeschwören und immer wieder deswegen höchst lebendig durch meine Vorstellung ziehen, weil ich solch eine unbewegliche Existenz führe, dass mich ein Aufruf zur Reise wie ein Blitz treffen würde. In der Gegenwart dieses Cabuliwallah wurde ich sofort zum Fuß dürrer Berggipfel transportiert, zwischen deren sich türmenden Höhen kleine schmale Schluchten hinein-und hinauszwängten. Ich konnte die Kette von Kamelen in Begleitung von Händlern mit Turbanen sehen; sie trugen Waren, ein paar ihrer wunderlichen alten Schusswaffen, ein paar ihrer Speere und reisten hinunter Richtung Ebene. Ich konnte sehen –aber an einem solchen Punkt unterbrach mich Minis Mutter und flehte mich an, mich vor dem Mann zu hüten.
 
Unglücklicherweise ist Minis Mutter eine sehr furchtsame Lady. Jedesmal, wenn sie Lärm auf der Straße hört oder Leute zum Haus kommen sieht, kommt sie zu der Schlussfolgerung, es wären entweder Diebe, Betrunkene, Schlangen, Tiger, Malaria oder Kakerlaken, Tausendfüßler oder ein englischer Seemann. Auch nach all den Jahren Erfahrung kann sie ihre Angst nicht überwinden. Sie war voller Zweifel über den Cabuliwallah und bat mich regelmäßig, ein Auge auf ihn zu haben. Ich versuchte, ihre Furcht sanft wegzulachen, aber dann drehte sie es in die ernste Richtung und stellte mir feierliche Fragen.
 
Würden etwa keine Kinder entführt?
Sei es denn nicht wahr, dass in Kabul Sklaven gehalten werden?
Sei es denn so sehr absurd, dass dieser große Mann in der Lage ist, ein Kind wegzutragen?
 
Ich betonte, obwohl nicht unmöglich, war es höchst unwahrscheinlich. Aber das reichte nicht und ihr Schrecken blieb. Da dieser aber unklar war, schien es nicht richtig, dem Mann das Haus zu verbieten, und die Innigkeit fuhr ungehindert fort.
 
Rahmun der Cabuliwallah hatte die Gewohnheit, einmal im Jahr, Mitte Januar, in sein Land zurückzukehren, und wenn die Zeit kam, war er sehr beschäftigt, ging von Haus zu Haus und sammelte seine Schulden ein. Dieses Jahr allerdings fand er regelmäßig Zeit, um zu kommen und Mini zu sehen.
 
Einem Außenstehenden hätte es scheinen können, dass es zwischen beiden eine gewisse Verabredung gab, denn wenn er morgens nicht konnte, erschien er abends.
 
Sogar mich machte es ab und zu stutzig, diesen langen, lose bekleideten und vielbeladenen Mann in der Ecke eines dunklen Raumes zu überraschen; aber wenn Mini dann lachelnd mit ihrem
“O! Cabuliwallah! Cabuliwallah!“ herlief und die zwei Freunde, im Alter so entfernt, in ihr übliches Gelächter und ihre alten Witze verfielen, fühlte ich mich wieder beruhigt.
 
Ein paar Tage, bevor er geplant hatte zu gehen, korrigierte ich eines Morgens meine Druckfahnen in meinem Arbeitszimmer. Das Wetter war kühl. Sonnenstrahlen berührten durch das Fenster meine Füße, und die geringfügige Wärme war sehr willkommen. Es war fast acht Uhr und die frühen Fußgänger gingen gerade nach Hause, die Köpfe bedeckt. Mit einem Mal hörte ich einen Aufruhr in der Straße, blickte hinaus und sah Rahmun gebunden zwischen zwei Polizisten weggeführt werdend, hinter ihnen eine Traube neugieriger Jungen. Blutflecken waren auf den Kleidern des Cabuliwallah, und einer der Polizisten trug ein Messer. Ich eilte hinaus, hielt sie an und fragte, was das alles zu bedeuten hätte. Teils von einem, teils von einem anderen erfuhr ich, ein gewisser Nachbar schuldete dem Hausierer etwas für einen Rampuri-Schal, hatte aber fälschlicherweise abgestritten, ihn gekauft zu haben. Im Zuge der Auseinandersetzung hatte Rahmun zugeschlagen. Der Gefangene fing nun in der Hitze seiner Aufregung an, seinem Feind alle möglichen Schimpfwörter an den Kopf zu werfen, als plötzlich meine kleine Mini in einer Veranda meines Hauses mit ihrem üblichen Ruf auftauchte:
 
“O Cabuliwallah! Cabuliwallah!“ Rahmuns Gesicht hellte sich auf, als er sich zu ihr drehte. Heute hatte er keinen Sack unter dem Arm, deswegen konnte sie ihn nicht auf den Elefanten ansprechen und ging deshalb sofort zur nächsten Frage über: “Gehst Du zum Haus des Schwiegervaters?“ Rahmun lachte und sagte: “Genau da gehe ich hin, Kleine!“ Dann sah er, dass die Antwort das Kind nicht amüsierte, und hielt die gefesselten Hände hoch.
 
“Ali,“ sagte er, “ich hätte den alten Schwiegervater verhauen, aber meine Hände sind gebunden!“
 
Rahmun wurde des mörderischen Angriffs angeklagt und zu ein paar Jahren Gefängnis verurteilt.











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