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Literatur


04.3

 
Drei Kurzgeschichten
 
Rabindranath Tagore




Die Anhängerin
(Indien, New York 1916)

I.
 
Zu einer Zeit, als meine Unbeliebtheit bei einem Teil meiner Leser den Nadir ihrer Herrlichkeit erreicht hatte und mein Name zur zentralen Umlaufbahn der Zeitschriften geworden war, auf der man sich mit ständiger Rotation aus Verunglimpfung durch den Raum bewegte, fühlte ich die Notwendigkeit, mich an irgendeinen ruhigen Ort zurückzuziehen und zu versuchen, meine eigene Existenz zu vergessen.
 
Auf dem Land, ein paar Meilen von Kalkutta entfernt, besitze ich ein Haus, wo ich unerkannt und unbehelligt bleiben kann. Die Dörfler dort haben sich bis jetzt noch keine Meinung über mich gebildet. Sie wissen, dass ich kein bloßer Urlauber oder Lustwandler bin; denn niemals empöre ich die Stille der Dorfnächte mit tumultartigen Geräuschen der Stadt. Ebensowenig halten sie mich für einen Asketen, denn das bisschen Bekanntschaft, das sie mit mir haben, gibt ihnen den Geschmack von Bequemlichkeit. Für sie bin ich auch kein Reisender; denn, obwohl ich von Natur aus Vagabund bin, ist meine Wanderung durch die Felder des Dorfes ziellos. Sie sind sich nicht einmal einigermaßen sicher, ob ich verheiratet bin oder nicht; denn sie haben mich nie mit meinen Kindern gesehen. Da sie mich daher in keines der Tier- oder Pflanzenreiche, die sie kennen, einordnen können, haben sie mich seit langem aufgegeben und stur alleingelassen.
 
Aber erst kürzlich erfuhr ich, dass es eine Person im Dorf gibt, die sich stark für mich interessiert. Unsere Bekanntschaft begann an einem schwülen Nachmittag im Juli. Den ganzen Morgen hatte es geregnet und die Luft war noch feucht und schwer von Nebel, wie Augenlider nach beendetem Weinen.
 
Ich saß faul herum und beobachtete eine gescheckte Kuh, wie sie auf dem Flussdamm graste. Die Nachmittagssonne spielte auf ihrer glänzenden Haut. Die schlichte Schönheit dieser Bekleidung aus Licht ließ mich müßig über des Menschen gewollte Verschwendung des Geldes wundern, mit dem er Schneiderläden betrieb, um seine eigene Haut ihrer natürlichen Bekleidung zu berauben.
 
Als ich so schaute und müßig grübelte, kam eine Frau mittleren Alters heran, machte vor mir einen Kniefall und berührte den Boden mit ihrer Stirn. In ihrem Umhang trug sie Blumensträuße, von denen sie mir einen mit gefalteten Händen darbot. Gleichzeitig sagte sie zu mir: “Das ist ein Opfer für meinen Gott.“
 
Und weg ging sie. So verblüfft war ich, als sie diese Worte äußerte, dass ich kaum einen flüchtigen Blick auf sie werfen konnte, bevor sie gegangen war. Das ganze Ereignis war gänzlich einfach, aber es hinterließ einen tiefen Eindruck in meinem Geist; und als ich mich wieder zurückdrehte, um auf das Vieh auf der Weide zu blicken, schien mir der Lebenshunger der Kuh, die mit tiefen Atemzügen auf dem saftigen Gras herumkaute und die Fliegen verscheuchte, erfüllt mit Geheimnissen.
 
Meine Leser mögen wohl ob meiner Albernheit lachen, aber mein Herz war voller Anbetung. Ich bot meine Verehrung der reinen Lebenslust, welche Gottes eigenes Leben ist. Dann pflückte ich einen zarten Spross vom Mangobaum und fütterte die Kuh mit der Hand, und als ich dies tat, hatte ich die Genugtuung, meinem Gott gefällig gewesen zu sein.
 
Als ich im nächsten Jahr ins Dorf zurückkehrte, war es Februar. Die kalte Jahreszeit war noch zu spüren. Die Morgensonne besuchte mein Zimmer und ich war dankbar für ihre Wärme. Ich war gerade beim Schreiben, als der Diener hereinkam, um mir mitzuteilen, dass eine Anhängerin des Vishnu-Kultes mich sehen wollte. Abwesend bat ich ihn, sie heraufzubringen, und schrieb weiter. Die Anhängerin betrat den Raum und verbeugte sich vor mir, wobei sie meine Füße berührte. Ich fand, es war dieselbe Frau, der ich im Jahr zuvor kurz begegnet war.
 
Nun konnte ich sie näher betrachten. Sie war über das Alter hinaus, in welchem die Frage nach der Schönheit einer Frau gestellt wird. Ihre Gestalt war überdurchschnittlich groß und sie war kräftig gebaut; zwar war ihr Körper leicht gebeugt von der ständigen verehrenden Haltung. Ihr Verhalten jedoch hatte nichts Schrumpfendes an sich. Das Bemerkenswerteste an ihr waren ihre Augen. Diese hatten gleichsam eine durchdringende Kraft, welche Distanz zu Nähe werden ließ.
 
Mit diesen ihren zwei großen Augen schien sie mich anzustoßen, als sie hereinkam.
 
“Was ist das?“, fragte sie, “Warum hast du mich vor deinen Thron bringen lassen, du mein Gott? Sonst sah ich dich unter den Bäumen, und das war viel besser. Das war der richtige Ort, dich zu treffen.“
 
Sie musste mich wohl unbemerkt gesehen haben, als ich im Garten herumging. Allerdings litt ich seit ein paar Tagen an einer Erkältung und war gezwungen, das Haus zu hüten und dem Abendhimmel von der Terrasse aus zu huldigen. Nach einer stillen Pause sagte die Anhängerin zu mir: “O mein¨Gott, gib mir ein paar Worte der Gute.“
 
Auf diese jähe Bitte war ich ziemlich unvorbereitet und antwortete ihr spontan: “Gute Worte gebe ich weder, noch empfange ich sie. Ich mache einfach meine Augen auf und bewahre die Ruhe, und kann dann sofort gleichzeitig hören und sehen, auch wenn kein Ton gesprochen wird. Momentan, wenn ich dich ansehe, ist es genauso gut, wie deiner Stimme zuzuhören.“
 
Während ich sprach, wurde die Anhängerin immer aufgeregter und rief: “Gott spricht zu mir, nicht nur mit Seinem Mund, sondern mit Seinem ganzen Körper.“
 
Ich sagte zu ihr: “Wenn ich ruhig bin, kann ich mit dem ganzen Körper hören. Ich bin von Kalkutta hierher gekommen, um diesem Ton zuzuhören.“
 
Die Anhängerin sagte: “Ja, das weiß ich, und deswegen kam ich hierher, um neben dir zu sitzen.“
 
Bevor sie sich verabschiedete, verbeugte sie sich erneut vor mir und berührte meine Füße. Ich konnte sehen, dass sie wegen der Bekleidung meiner Füße peinlich berührt war – sie wünschte sie sich bar.
 
Früh am nächsten Morgen ging ich hinaus und setzte mich auf meine Dachterrasse. Jenseits der südwärtigen Baumzeile konnte ich das weite Land sehen, frostig und öde. Ich beobachtete, wie die Sonne über dem Zuckerrohr im Osten aufging, hinter der Hügelgruppe auf der Dorfseite. Aus dem tiefen Schatten dieser Bäume führte unvermutet die Dorfstraße heraus. Sie erstreckte sich weiter vorwärts und wand sich auf ihrem Weg zu entfernten Dörfern am Horizont, bis sie sich im Grau des Nebels verlor.
 
Es war an diesem Morgen schwer zu sagen, ob die Sonne aufgegangen war oder nicht. Weißer Nebel schmiegte sich noch an die Baumwipfel. Ich sah, wie die Anhängerin durch das verschwommene Morgengrauen ging, wie ein Nebelgespenst des morgendlichen Zwielichts. Sie sang ihr Lied zu Gott und schlug dazu ihre Beckentrommeln.
 
Der dicke Schleier hob sich endlich; und die Sonne nahm wie der freundliche Dorfgroßvater mitten in all der Arbeit Platz, die in Haus und Feld vorsich ging.
 
Als ich mich gerade an meinen Schreibtisch gesetzt hatte, um den hungrigen Appetit meines Editors in Kalkutta zu beschwichtigen, tönten Schritte auf der Treppe, und die Anhängerin betrat vor sich hinsummend den Raum und verbeugte sich vor mir.
 
Ich hob meinen Kopf aus meinen Papieren.
Sie sagte zu mir: “Mein Gott, gestern nahm ich mir als geheiligte Speise das, was von deinem Essen übriggelassen wurde.“
 
Ich stutzte und fragte sie, wie sie das tun konnte.
“Oh“, sagte sie, “ich wartete abends, während du beim Dinner warst, bei deiner Tür und nahm mir etwas Essen vom Teller, als es herausgetragen wurde.“
 
Das überraschte mich, denn jeder im Dorf wusste, dass ich in Europa gewesen war und mit Europäern gegessen hatte. Ich war Vegetarier, ohne Zweifel, aber die Heiligkeit meines Kochs würde keiner Untersuchung standhalten, und die Orthodoxen betrachteten mein Essen als verschmutzt.
 
Als die Anhängerin die Zeichen meiner Überraschung bemerkte, sagte sie:
“Mein Gott, warum sollte ich dich überhaupt besuchen, wenn ich dein Essen nicht nehmen könnte?“
 
Ich fragte sie, was die Leute ihrer Kaste sagen würden. Sie erzählte mir, sie hatte die Neuigkeiten bereits weit im Dorf verbreitet. Die Leute ihrer Kaste hätten ihre Köpfe geschüttelt, aber waren sich einig, sie müsse ihren eigenen Weg gehen.
 
Ich fand heraus, dass die Anhängerin aus einer guten Familie vom Land stammte, und dass es ihrer Mutter finanziell gut ging und diese sich ihre Tochter zu Hause wünschte. Sie aber zog es vor, Bettelmönch zu sein. Ich fragte sie, wie sie zurechtkam. Sie sagte, ihre Anhänger hatten ihr ein Stück Land überlassen und dass sie ihr Essen hausierend erbettelte. Sie sagte zu mir: “Das Essen, was ich mit Betteln bekomme, ist göttlich.“
 
Nachdem ich über das, was sie sagte, nachgedacht hatte, verstand ich die Bedeutung. Wann immer wir unser Essen auf unsichere Weise als Almosen bekommen, gedenken wir Gott als den Spender. Aber wenn wir unser Essen regelmäßig zu Hause erhalten, tendieren wir dazu, es als unser eigenes von Rechts wegen zu betrachten.
 
Sehr gerne hätte ich etwas über ihren Ehemann erfahren gehabt. Da sie ihn aber nie erwähnte, auch nicht indirekt, fragte ich sie nicht.
 
Schnell bekam ich heraus, dass die Anhängerin überhaupt keinen Respekt vor dem Teil des Dorfes hatte, wo die oberen Kasten lebten.
 
“Die geben niemals“, sagte sie, “auch nur einen Farthing im Dienst Gottes; und doch haben sie den größten Anteil an Gottes Weltkugel. Aber die Armen beten und hungern.“
 
Ich fragte sie, warum sie nicht hinging und unter diesen gottlosen Leuten lebte, und ihnen zu einem besseren Leben verhalf. “Das“, sagte ich einigermaßen salbungsvoll, “wäre die höchste Form der göttlichen Anbetung.“

Predigten dieser Art hatte ich ab und zu gehört, und ich kopiere sie recht gern zum Nutzen der Allgemeinheit, wenn sich die Gelegenheit ergibt.
 
Die Anhängerin war allerdings nicht beeindruckt. Sie hob ihre großen runden Augen, sah mir direkt in die meinen und sagte:

“Du willst sagen, weil Gott mit den Sündern ist, daher, wenn du ihnen zu Diensten bist, dienst du Gott? Ist das so?“

“Ja “, antwortete ich, “das meine ich.“

“Natürlich“, antwortete sie fast ungeduldig, “natürlich ist Gott mit ihnen:
wie könnten sie sonst überhaupt weiterleben? Aber was bedeutet mir das? Mein Gott ist dort nicht. Mein Gott kann nicht unter ihnen verehrt werden, weil ich Ihn dort nicht finde. Ich suche Ihn, wo ich Ihn finden kann.“
 
Sie machte mir Ehrerbietung, während sie so sprach. Was sie sagen wollte, war tatsächlich folgendes. Eine bloße Doktrin von der Allgegenwärtigkeit Gottes hilft uns nicht. Dass Gott alles durchdringt – diese Wahrheit mag eine rein unberührbare Abstraktion sein, und daher für uns selbst unwirklich.

Wo ich Ihn sehen kann, da ist Seine Wirklichkeit in meiner Seele.

Ich brauche nicht erklären, dass die ganze Zeit, als sie ihre Hingabe über mich schüttete, sie es nicht für mich als Einzelperson tat. Ich war einfach einVehikel ihrer göttlichen Anbetung. Es lag nicht an mir, diese zu empfangen oder abzulehnen, denn sie gehörte nicht mir sondern Gott.
 
Als die Anhängerin wieder vorbeikam, fand sie mich einmal mehr mit meinen Büchern und Papieren beschäftigt.
 
“Was hast du getan“, sagte sie mit offensichtlichem Ärger, dass mein Gott dich so schuften lässt? Jedesmal, wenn ich komme, finde ich dich beim  Lesen oder Schreiben.“
 
“Gott hält¨ seine nutzlosen Leute beschäftigt“,¨ antwortete ich, sonst würden sie bald in Unheil geraten. Sie müssen all die unnützesten Dinge des Lebens tun. Das hält sie aus dem Ärger heraus.
 
Die Anhängerin erzählte mir, dass sie die Belastungen, von denen ich Tag für Tag umringt war, nicht ertragen konnte. Wenn sie mich sehen wollte, wurde ihr von den Dienern nicht erlaubt, geradewegs nach oben zu gehen. Wenn sie in Verehrung meine Füße berühren wollte, waren immer meine Socken im Weg. Und wenn sie ein einfaches Gespräch mit mir wünschte, fand sie meinen Geist verloren in einer Buchstabenwildnis.
 
Diesmal, bevor sie mich verließ, faltete sie ihre Hände und sagte: “Mein Gott! Diesen Morgen spürte ich deine Füße in meiner Brust. Oh, wie kühl! Und sie waren bar, nicht bedeckt. Ich hielt sie lange anbetend auf meinem Kopf. Das erfüllte mein Dasein. Und danach, was hatte es denn für einen Sinn, dich selbst zu besuchen? Warum kam ich überhaupt? Mein Lord, sag mir ehrlich, – war es nicht einfach nur Narrheit?“
 
In der Vase auf dem Tisch waren Blumen. Als sie gerade dort stand, brachte der Gärtner neue Blumen, um die alten zu ersetzen. Die Anhängerin sah zu, als er sie wechselte.
 
“Ist das alles?“, rief sie, “Bist du fertig mit den Blumen? Dann gib sie mir.“
 
Sie hielt die Blumen liebevoll auf der Handfläche und begann, sie mit gebeugtem Kopf zu betrachten. Nach wenigen Momenten der Stille hob sie wieder den Kopf und sagte zu mir: “Du siehst dir nie diese Blumen an; deswegen verderben sie für dich. Wenn du nur in sie hineinschauen würdest, würde dein Lesen und Schreiben in die Lüfte gehen.“
 
Sie band die Blumen im Ende ihres Umhangs zusammen, platzierte sie mit einer Geste der Verehrung oben auf ihren Kopf und sagte respektvoll:

“Lass mich meinen Gott bei mir tragen.“
 
Als sie so sprach, hatte ich das Gefühl, dass Blumen in unseren Zimmern nicht den ihnen zustehenden Lohn an liebender Pflege aus unseren Händen erhalten. Wenn wir sie in Vasen stecken, ist es eher, als wären sie eine Reihe frecher Schuljungen, aufgestellt um bestraft zu werden.
 
Denselben Abend kam die Anhängerin wieder und saß zu meinen Füßen auf der Dachterrasse.
 
“Ich habe die Blumen verschenkt“, sagte sie, “als ich morgens von Haus zu Haus gegangen bin, und habe Gottes Namen gesungen. Beni, der Vorsteher des Dorfes, lachte mich wegen meiner Verehrung aus und sagte: ‚Warum verschwendest du all diese Anbetung für Ihn? Weißt du nicht, dass Er landauf, landab beschimpft wird?’ Ist das wahr, mein Gott? Ist es wahr, dass sie dir zusetzen?“
 
Einen Moment lang schrumpfte ich zusammen. Es war schockierend herauszufinden, dass die Flecken der Druckerschwärze so weit reichen konnten.
 
Die Anhängerin sprach weiter: “Beni hatte die Vorstellung, er könne die Flamme meiner Verehrung mit einem Atemzug ausblasen! Aber das ist nicht nur ein Flämmchen: es ist ein brennendes Feuer. Warum schmähen sie dich, du mein Gott?“
 
Ich sagte: “Weil ich es verdiente. Ich nehme an, in meiner Habgier lungerte ich herum, um heimlich die Herzen der Leute zu stehlen.“
 
Die Anhängerin sagte: “Jetzt siehst du selbst, wie wenig ihre Herzen wert sind. Sie sind voller Gift und das wird deine Habgier kurieren.“
 
“Sobald ein Mann“, antwortete ich, “Habgier im Herzen hat, ist er immer am Rand der Niederlage. Die Habgier selbst versorgt seine Feinde mit Gift.“
 
“Unser barmherziger Gott“, erwiderte sie, “schlägt uns mit Seiner Hand und vertreibt alles Gift. Wer Gottes Schläge bis zum Schluss aushält, ist gerettet.“ 










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