Die
Anhängerin
(Indien,
New York 1916)
I.
Zu
einer Zeit, als meine
Unbeliebtheit bei einem Teil meiner Leser den Nadir ihrer Herrlichkeit
erreicht
hatte und mein Name zur zentralen Umlaufbahn der Zeitschriften geworden
war,
auf der man sich mit ständiger Rotation aus Verunglimpfung durch den
Raum
bewegte, fühlte ich die Notwendigkeit, mich an irgendeinen ruhigen Ort
zurückzuziehen
und zu versuchen, meine eigene Existenz zu vergessen.
Auf
dem Land, ein paar
Meilen von Kalkutta entfernt, besitze ich ein Haus, wo ich unerkannt
und unbehelligt
bleiben kann. Die Dörfler dort haben sich bis jetzt noch keine Meinung
über mich
gebildet. Sie wissen, dass ich kein bloßer Urlauber oder Lustwandler
bin; denn
niemals empöre ich die Stille der Dorfnächte mit tumultartigen
Geräuschen der
Stadt. Ebensowenig halten sie mich für einen Asketen, denn das bisschen
Bekanntschaft, das sie mit mir haben, gibt ihnen den Geschmack von
Bequemlichkeit. Für sie bin ich auch kein Reisender; denn, obwohl ich
von Natur
aus Vagabund bin, ist meine Wanderung durch die Felder des Dorfes
ziellos. Sie
sind sich nicht einmal einigermaßen sicher, ob ich verheiratet bin oder
nicht;
denn sie haben mich nie mit meinen Kindern gesehen. Da sie mich daher
in keines
der Tier- oder
Pflanzenreiche, die sie
kennen, einordnen können, haben sie mich seit langem aufgegeben und
stur
alleingelassen.
Aber
erst kürzlich erfuhr
ich, dass es eine Person im Dorf gibt, die sich stark für mich
interessiert.
Unsere Bekanntschaft begann an einem schwülen Nachmittag im Juli. Den
ganzen
Morgen hatte es geregnet und die Luft war noch feucht und schwer von
Nebel, wie
Augenlider nach beendetem Weinen.
Ich
saß faul herum und
beobachtete eine gescheckte Kuh, wie sie auf dem Flussdamm graste. Die
Nachmittagssonne
spielte auf ihrer glänzenden Haut. Die schlichte Schönheit dieser
Bekleidung
aus Licht ließ mich müßig über des Menschen gewollte Verschwendung des
Geldes
wundern, mit dem er Schneiderläden betrieb, um seine eigene Haut ihrer
natürlichen
Bekleidung zu berauben.
Als
ich so schaute und
müßig grübelte, kam eine Frau mittleren Alters heran, machte vor mir
einen
Kniefall und berührte den Boden mit ihrer Stirn. In ihrem Umhang trug
sie
Blumensträuße, von denen sie mir einen mit gefalteten Händen darbot.
Gleichzeitig sagte sie zu mir: “Das ist ein Opfer für meinen Gott.“
Und
weg ging sie. So verblüfft war ich, als sie diese Worte äußerte, dass
ich kaum einen flüchtigen Blick auf sie werfen
konnte, bevor sie gegangen war. Das ganze Ereignis war
gänzlich einfach, aber es hinterließ einen tiefen Eindruck in meinem
Geist; und als ich mich wieder zurückdrehte, um auf das Vieh auf der
Weide zu blicken, schien mir der
Lebenshunger der Kuh, die mit tiefen Atemzügen
auf dem saftigen Gras herumkaute und die Fliegen verscheuchte, erfüllt
mit Geheimnissen.
Meine
Leser mögen wohl ob meiner Albernheit lachen, aber mein Herz war voller
Anbetung. Ich bot meine Verehrung der reinen Lebenslust, welche Gottes
eigenes
Leben ist. Dann pflückte ich einen zarten Spross vom
Mangobaum und fütterte die Kuh mit der Hand, und als ich dies
tat, hatte ich die Genugtuung, meinem Gott gefällig gewesen zu sein.
Als
ich im nächsten Jahr
ins Dorf zurückkehrte, war es Februar. Die kalte Jahreszeit war noch zu
spüren.
Die Morgensonne besuchte mein Zimmer und ich war dankbar für ihre
Wärme. Ich
war gerade beim Schreiben, als der Diener hereinkam, um mir
mitzuteilen, dass
eine Anhängerin des Vishnu-Kultes mich sehen wollte. Abwesend bat ich
ihn, sie
heraufzubringen, und schrieb weiter. Die Anhängerin betrat den Raum und
verbeugte sich vor mir, wobei sie meine Füße berührte. Ich fand, es war
dieselbe Frau, der ich im Jahr zuvor kurz begegnet war.
Nun
konnte ich sie näher
betrachten. Sie war über das Alter hinaus, in welchem die Frage nach
der
Schönheit einer Frau gestellt wird. Ihre Gestalt war
überdurchschnittlich groß
und sie war kräftig gebaut; zwar war ihr Körper leicht gebeugt von der
ständigen
verehrenden Haltung. Ihr Verhalten jedoch hatte nichts Schrumpfendes an
sich.
Das Bemerkenswerteste an ihr waren ihre Augen. Diese hatten gleichsam
eine
durchdringende Kraft, welche Distanz zu Nähe werden ließ.
Mit
diesen ihren zwei
großen Augen schien sie mich anzustoßen, als sie hereinkam.
“Was
ist das?“, fragte sie,
“Warum hast du mich vor deinen Thron bringen lassen, du mein Gott?
Sonst sah
ich dich unter den Bäumen, und das war viel besser. Das war der
richtige Ort,
dich zu treffen.“
Sie
musste mich wohl
unbemerkt gesehen haben, als ich im Garten herumging. Allerdings litt
ich seit
ein paar Tagen an einer Erkältung und war gezwungen, das Haus zu hüten
und dem
Abendhimmel von der Terrasse aus zu huldigen. Nach einer stillen Pause
sagte
die Anhängerin zu mir: “O mein¨Gott, gib mir ein paar Worte der Gute.“
Auf
diese jähe Bitte war ich
ziemlich unvorbereitet und antwortete ihr spontan: “Gute Worte gebe ich
weder,
noch empfange ich sie. Ich mache einfach meine Augen auf und bewahre
die Ruhe,
und kann dann sofort gleichzeitig hören und sehen, auch wenn kein Ton
gesprochen wird. Momentan, wenn ich dich ansehe, ist es genauso gut,
wie deiner
Stimme zuzuhören.“
Während
ich sprach, wurde
die Anhängerin immer aufgeregter und rief: “Gott spricht zu mir, nicht
nur mit
Seinem Mund, sondern mit Seinem ganzen Körper.“
Ich
sagte zu ihr: “Wenn ich
ruhig bin, kann ich mit dem ganzen Körper hören. Ich bin von Kalkutta
hierher
gekommen, um diesem Ton zuzuhören.“
Die
Anhängerin sagte: “Ja,
das weiß ich, und deswegen kam ich hierher, um neben dir zu sitzen.“
Bevor
sie sich
verabschiedete, verbeugte sie sich erneut vor mir und berührte meine
Füße. Ich
konnte sehen, dass sie wegen der Bekleidung meiner Füße peinlich
berührt war –
sie wünschte sie sich bar.
Früh
am nächsten Morgen
ging ich hinaus und setzte mich auf meine Dachterrasse. Jenseits der
südwärtigen
Baumzeile konnte ich das weite Land sehen, frostig und öde. Ich
beobachtete,
wie die Sonne über dem Zuckerrohr im Osten aufging, hinter der
Hügelgruppe auf
der Dorfseite. Aus dem tiefen Schatten dieser Bäume führte unvermutet
die
Dorfstraße heraus. Sie erstreckte sich weiter vorwärts und wand sich
auf ihrem
Weg zu entfernten Dörfern am Horizont, bis sie sich im Grau des Nebels
verlor.
Es
war an diesem Morgen
schwer zu sagen, ob die Sonne aufgegangen war oder nicht. Weißer Nebel
schmiegte sich noch an die Baumwipfel. Ich sah, wie die Anhängerin
durch das
verschwommene Morgengrauen ging, wie ein Nebelgespenst des
morgendlichen
Zwielichts. Sie sang ihr Lied zu Gott und schlug dazu ihre
Beckentrommeln.
Der
dicke Schleier hob sich
endlich; und die Sonne nahm wie der freundliche Dorfgroßvater mitten in
all der
Arbeit Platz, die in Haus und Feld vorsich ging.
Als
ich mich gerade an
meinen Schreibtisch gesetzt hatte, um den hungrigen Appetit meines
Editors in
Kalkutta zu beschwichtigen, tönten Schritte auf der Treppe, und die
Anhängerin
betrat vor sich hinsummend den Raum und verbeugte sich vor mir.
Ich
hob meinen Kopf aus
meinen Papieren.
Sie
sagte zu mir: “Mein
Gott, gestern nahm ich mir als geheiligte Speise das, was von deinem
Essen
übriggelassen wurde.“
Ich
stutzte und fragte sie,
wie sie das tun konnte.
“Oh“,
sagte sie, “ich
wartete abends, während du beim Dinner warst, bei deiner Tür und nahm
mir etwas
Essen vom Teller, als es herausgetragen wurde.“
Das
überraschte mich, denn
jeder im Dorf wusste, dass ich in Europa gewesen war und mit Europäern
gegessen
hatte. Ich war Vegetarier, ohne Zweifel, aber die Heiligkeit meines
Kochs würde
keiner Untersuchung standhalten, und die Orthodoxen betrachteten mein
Essen als
verschmutzt.
Als
die Anhängerin die
Zeichen meiner Überraschung bemerkte, sagte sie:
“Mein
Gott, warum sollte
ich dich überhaupt besuchen, wenn ich dein Essen nicht
nehmen könnte?“
Ich
fragte sie, was die
Leute ihrer Kaste sagen würden. Sie erzählte mir, sie hatte die
Neuigkeiten bereits
weit im Dorf verbreitet. Die Leute ihrer Kaste
hätten ihre Köpfe
geschüttelt, aber waren sich einig, sie müsse ihren eigenen Weg gehen.
Ich
fand heraus, dass die
Anhängerin aus einer guten Familie vom Land stammte, und dass es ihrer
Mutter
finanziell gut ging und diese sich ihre Tochter zu Hause wünschte. Sie
aber zog
es vor, Bettelmönch zu sein. Ich fragte sie, wie sie zurechtkam. Sie
sagte,
ihre Anhänger hatten ihr ein Stück Land überlassen und dass sie ihr
Essen
hausierend erbettelte. Sie sagte zu mir: “Das Essen, was ich mit
Betteln
bekomme, ist göttlich.“
Nachdem
ich über das, was
sie sagte, nachgedacht hatte, verstand ich die Bedeutung. Wann immer
wir unser
Essen auf unsichere Weise als Almosen bekommen, gedenken wir Gott als
den
Spender. Aber wenn wir unser Essen regelmäßig zu Hause erhalten,
tendieren wir
dazu, es als unser eigenes von Rechts wegen zu betrachten.
Sehr
gerne hätte ich etwas
über ihren Ehemann erfahren gehabt. Da sie ihn aber nie erwähnte, auch
nicht indirekt,
fragte ich sie nicht.
Schnell
bekam ich heraus,
dass die Anhängerin überhaupt keinen Respekt vor dem Teil des Dorfes
hatte, wo
die oberen Kasten lebten.
“Die
geben niemals“, sagte
sie, “auch nur einen Farthing im Dienst Gottes; und doch haben sie den
größten
Anteil an Gottes Weltkugel. Aber die Armen beten und hungern.“
Ich
fragte sie, warum sie
nicht hinging und unter diesen gottlosen Leuten lebte, und ihnen zu
einem
besseren Leben verhalf. “Das“, sagte ich einigermaßen salbungsvoll,
“wäre die
höchste Form der göttlichen Anbetung.“
Predigten
dieser Art hatte
ich ab und zu gehört, und ich kopiere sie recht gern zum Nutzen der
Allgemeinheit, wenn sich die Gelegenheit ergibt.
Die
Anhängerin war
allerdings nicht beeindruckt. Sie hob ihre großen runden
Augen, sah mir
direkt in die meinen und sagte:
“Du
willst sagen, weil Gott
mit den Sündern ist, daher, wenn du ihnen zu Diensten bist, dienst du
Gott? Ist
das so?“
“Ja
“, antwortete ich, “das
meine ich.“
“Natürlich“,
antwortete sie
fast ungeduldig, “natürlich ist Gott mit ihnen:
wie
könnten sie sonst
überhaupt weiterleben? Aber was bedeutet mir das? Mein
Gott ist dort nicht.
Mein Gott kann nicht unter ihnen verehrt werden, weil
ich Ihn dort nicht
finde. Ich suche Ihn, wo ich Ihn finden kann.“
Sie
machte mir
Ehrerbietung, während sie so sprach. Was sie sagen wollte, war
tatsächlich
folgendes. Eine bloße Doktrin von der Allgegenwärtigkeit Gottes hilft
uns
nicht. Dass Gott alles durchdringt – diese Wahrheit mag eine rein
unberührbare
Abstraktion sein, und daher für uns selbst unwirklich.
Wo
ich Ihn sehen kann, da
ist Seine Wirklichkeit in meiner Seele.
Ich
brauche nicht erklären,
dass die ganze Zeit, als sie ihre Hingabe über mich schüttete, sie es
nicht für
mich als Einzelperson tat. Ich war einfach einVehikel ihrer göttlichen
Anbetung. Es lag nicht an mir, diese zu empfangen oder abzulehnen, denn
sie
gehörte nicht mir sondern Gott.
Als
die Anhängerin wieder
vorbeikam, fand sie mich einmal mehr mit meinen Büchern und Papieren
beschäftigt.
“Was
hast du getan“, sagte
sie mit offensichtlichem Ärger,
dass mein Gott dich so schuften lässt?
Jedesmal, wenn ich komme, finde ich dich beim Lesen oder
Schreiben.“
“Gott
hält¨ seine nutzlosen
Leute beschäftigt“,¨ antwortete ich, sonst würden
sie bald in Unheil
geraten. Sie müssen all die unnützesten Dinge des Lebens tun. Das hält
sie aus
dem Ärger heraus.
Die
Anhängerin erzählte
mir, dass sie die Belastungen, von denen ich Tag für Tag umringt war,
nicht
ertragen konnte. Wenn sie mich sehen wollte, wurde ihr von den Dienern
nicht
erlaubt, geradewegs nach oben zu gehen. Wenn sie in Verehrung meine
Füße
berühren wollte, waren immer meine Socken im Weg. Und wenn sie ein
einfaches
Gespräch mit mir wünschte, fand sie meinen Geist verloren in einer
Buchstabenwildnis.
Diesmal,
bevor sie mich
verließ, faltete sie ihre Hände und sagte: “Mein Gott! Diesen Morgen
spürte ich
deine Füße in meiner Brust. Oh, wie kühl! Und sie waren bar, nicht
bedeckt. Ich
hielt sie lange anbetend auf meinem Kopf. Das erfüllte mein Dasein. Und
danach,
was hatte es denn für einen Sinn, dich selbst zu besuchen? Warum kam
ich
überhaupt? Mein Lord, sag mir ehrlich, – war es nicht einfach nur
Narrheit?“
In
der Vase auf dem Tisch
waren Blumen. Als sie gerade dort stand, brachte der Gärtner neue
Blumen, um
die alten zu ersetzen. Die Anhängerin sah zu, als er sie wechselte.
“Ist
das alles?“, rief sie,
“Bist du fertig mit den Blumen? Dann gib sie mir.“
Sie
hielt die Blumen
liebevoll auf der Handfläche und begann, sie mit gebeugtem Kopf zu
betrachten.
Nach wenigen Momenten der Stille hob sie wieder den Kopf und sagte zu
mir: “Du
siehst dir nie diese Blumen an; deswegen verderben sie für dich. Wenn
du nur in
sie hineinschauen würdest, würde dein Lesen und Schreiben in die Lüfte
gehen.“
Sie
band die Blumen im Ende
ihres Umhangs zusammen, platzierte sie mit einer Geste der Verehrung
oben auf
ihren Kopf und sagte respektvoll:
“Lass
mich meinen Gott bei
mir tragen.“
Als
sie so sprach, hatte
ich das Gefühl, dass Blumen in unseren Zimmern nicht den ihnen
zustehenden Lohn
an liebender Pflege aus unseren Händen erhalten. Wenn wir sie in Vasen
stecken,
ist es eher, als wären sie eine Reihe frecher Schuljungen, aufgestellt
um
bestraft zu werden.
Denselben
Abend kam die
Anhängerin wieder und saß zu meinen Füßen auf der Dachterrasse.
“Ich
habe die Blumen
verschenkt“, sagte sie, “als ich morgens von Haus zu Haus gegangen bin,
und
habe Gottes Namen gesungen. Beni, der Vorsteher des Dorfes, lachte mich
wegen
meiner Verehrung aus und sagte: ‚Warum verschwendest du all diese
Anbetung für
Ihn? Weißt du nicht, dass Er landauf, landab beschimpft wird?’ Ist das
wahr,
mein Gott? Ist es wahr, dass sie dir zusetzen?“
Einen
Moment lang
schrumpfte ich zusammen. Es war schockierend herauszufinden, dass die
Flecken
der Druckerschwärze so weit reichen konnten.
Die
Anhängerin sprach
weiter: “Beni hatte die Vorstellung, er könne die Flamme meiner
Verehrung mit
einem Atemzug ausblasen! Aber das ist nicht nur ein Flämmchen: es ist
ein
brennendes Feuer. Warum schmähen sie dich, du mein Gott?“
Ich
sagte: “Weil ich es
verdiente. Ich nehme an, in meiner Habgier lungerte ich herum, um
heimlich die
Herzen der Leute zu stehlen.“
Die
Anhängerin sagte:
“Jetzt siehst du selbst, wie wenig ihre Herzen wert sind. Sie sind
voller Gift
und das wird deine Habgier kurieren.“
“Sobald
ein Mann“,
antwortete ich, “Habgier im Herzen hat, ist er immer am
Rand der Niederlage. Die
Habgier selbst versorgt seine Feinde mit Gift.“
“Unser
barmherziger Gott“,
erwiderte sie, “schlägt uns mit Seiner Hand und vertreibt alles Gift.
Wer Gottes
Schläge bis zum Schluss aushält, ist gerettet.“