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Literatur


04.3


Die Nacht der Erfüllung
Erzählungen

Rabindranath Tagore




Die ältere Schwester

 
I
 
Nachdem Tara den andern Frauen des Dorfes ausführlich berichtet, welch bösen, tyrannischen Gatten ihre unglückliche Nachbarin habe, und alle seine Missetaten aufgezählt hatte, sprach sie ihm kurz und bündig das Urteil: „Möge Feuer solchem Manne die Zunge verbrennen!“
 
Diese Worte verletzten Dschoygopal Babus Frau; es geziemte einem Weibe unter keinen Umständen, ein anderes Feuer als das einer Zigarre in eines Gatten Mund zu wünschen.
 
Als sie daher jenem Urteil sanft widersprach, rief die hartherzige Tara mit doppelter Heftigkeit: „Ich wollte lieber in sieben Leben nacheinander Witwe werden als die Frau eines solchen Mannes.“ Und damit hob sie die Versammlung auf und ging fort.
 
Sasi dachte bei sich: Ich kann mir keine Kränkung von seiten eines Gatten vorstellen, die das Herz so verhärten könnte. Und wie sie darüber nachdachte, wallte all die Zärtlichkeit ihres liebenden Herzens für ihren eigenen Gatten, der jetzt fern war, in ihr auf. Sie warf sich mit ausgestreckten Armen auf die Seite des Bettes, wo ihr Gatte zu liegen pflegte, sie küßte das leere Kissen und sog den Duft seines Hauptes ein.
 
Dann schloß sie die Tür, holte aus einem hölzernen Kästchen eine alte, fast ganz verblichene Photographie mit seinen Schriftzügen und saß lange da, in Anschaun versunken. So verbrachte sie die stille Mittagszeit, allein in ihrem Zimmer, alten Erinnerungen hingegeben, und manch heiße Sehnsuchtsträne rann über ihr Antlitz.
 
Die Ehe zwischen Sasikala und Dschoygopal war nicht mehr jung. Sie waren früh verheiratet und hatten Kinder. Die lange Gewohnheit des Umgangs hatte ihr Leben in gemächlicher Alltäglichkeit dahinfließen lassen. Auf keiner Seite hatte sich je eine Spur großer Leidenschaft gezeigt. Sie hatten sechzehn Jahre ununterbrochen zusammen gelebt, als ihr Gatte plötzlich aus geschäftlichen Gründen von Hause abgerufen wurde, und nun erwachte ein starkes Liebesbedürfnis in Sasis Herzen. Da die Trennung das Band zwischen ihnen straffer spannte, zog sich der Knoten noch fester, und die Leidenschaft, die Sasi bisher gar nicht in sich gespürt hatte, preßte ihr das Herz jetzt schmerzhaft zusammen.
 
So geschah es, daß Sasi nach so vielen langen Jahren, in ihrem Alter und obgleich sie längst Mutter von Kindern war, an diesem Frühlingsmittag auf ihrem vereinsamten Ehebett liegend, den süßen Traum bräutlicher Jugend zu träumen begann; die Musik jener Liebe, die sie bisher nie vernommen hatte, drang plötzlich an ihr Ohr und spann sie in ihren Zauber ein wie der murmelnde Sang eines Flusses. Sie wanderte den Fluß hinauf und sah an beiden Ufern manch goldenen Palast und manchen schattigen Hain; aber ihr Fuß fand unter den entschwundenen Glückshoffnungen keinen Halt mehr. Da sagte sie sich, daß, wenn ihr Gatte erst zurückkäme, ihr Leben nicht wieder so leer dahinrinnen, daß der Frühling nicht wieder vergeblich an ihre Tür klopfen sollte. Wie oft hatte sie mit müßigem Streit und kleinlichem Zank ihren Gatten gequält! Mit der ganzen Einfalt eines reuigen Herzens gelobte sie sich, ihm nie wieder Ungeduld zu zeigen, niemals sich seinen Wünschen zu widersetzen, alle seine Befehle gehorsam hinzunehmen und in allem, im Guten wie im Bösen, mit liebevollem Herzen seinen Willen zu tun; denn für sie war der Gatte das Ein und Alles, der höchste Gegenstand der Liebe, ja, ein Gott.
 
Sasikala war die einzige Tochter und das Schoßkind ihrer Eltern. Darum machte Dschoygopal, der selbst nur ein kleines Vermögen hatte, sich keine Sorgen um die Zukunft. Sein Schwiegervater hatte genug, daß sie in einem Dorfe mit fürstlichem Aufwand leben konnten.
 
Da wurde Sasikalas Vater noch in seinem Alter ein Sohn geboren. Man muß gestehen, daß Sasi von diesem unerwarteten unschicklichen und ungerechten Benehmen ihrer Eltern sehr schmerzlich berührt war, und auch Dschoygopal war nicht gerade erfreut darüber.
 
Die ganze Liebe der Eltern richtete sich jetzt auf diese späte Frucht ihres Alters, und als der neuangekommene, winzige, schläfrige Schwager mit seinen beiden schwachen kleinen Fäustchen alle Hoffnungen und Erwartungen Dschoygopals an sich riß, da nahm dieser eine Stelle in einem Teegarten in Assam an.
 
Seine Freunde rieten ihm dringend, doch mehr in der Nähe Beschäftigung zu suchen, aber sei es nun aus einem allgemeinen Gefühl des Grolls oder weil er die guten Aussichten auf schnelles Emporkommen in einem Teegarten kannte, Dschoygopal wollte auf niemanden hören. Er schickte Frau und Kinder zu seinem Schwiegervater und reiste nach Assam. Es war die erste Trennung der Gatten, seit sie verheiratet waren.
 
Dies Ereignis machte Sasikala sehr zornig auf ihren kleinen Bruder. Der Groll, der nicht über die Lippen kommen darf, frißt um so mehr am Herzen. Wenn der kleine Bursche nach Herzenslust sog und schlief, fand seine große Schwester hundert Gründe zur Unzufriedenheit. Bald war der Reis kalt, oder die Knaben kamen zu spät zur Schule, oder was es sonst war. Tag und Nacht plagte sie sich und andere mit ihren ärgerlichen Launen.
 
Aber nach kurzer Zeit starb die Mutter des Kindes. Vor ihrem Tode übergab sie den kleinen Sohn der Sorge ihrer Tochter.
 
Da eroberte das mutterlose Kind schnell das Herz seiner Schwester. Laut schreiend streckte er seine Ärmchen nach ihr aus und versuchte mit aller Anstrengung ihren Mund, Nase und Augen in sein eigenes kleines Mäulchen zu bekommen; er packte mit seinen kleinen Fäustchen ihr Haar und wollte es nicht wieder loslassen; wenn er vor Tagesanbruch erwachte, wälzte er sich zu ihr hinüber, und sie fühlte die wohlige Wärme seines Körperchens und hörte seinem Lallen wie dem Plätschern eines Bächleins zu; später nannte er sie Dschidschi und Dschidschima und tyrannisierte sie ganz regelrecht, indem er bald verbotene Dinge tat, bald von verbotenen Speisen naschte, bald an verbotene Orte lief. Da konnte Sasi ihm nicht länger widerstehen. Sie ergab sich bedingungslos diesem eigenwilligen kleinen Tyrannen. Seit das Kind keine Mutter mehr hatte, hatte es Macht über sie bekommen.
 
II
 
Der Name des Knaben war Nilmani. Als er zwei Jahre alt war, wurde sein Vater ernstlich krank. Dschoygopal erhielt einen Brief mit der Bitte, so schnell wie möglich zu kommen. Als er mit viel Mühe Urlaub erhalten hatte und ankam, lag Kaliprasanna schon im Sterben.
 
Vor seinem Tode übergab er seinen Sohn der Sorge Dschoygopals und vermachte seiner Tochter den vierten Teil seines Besitzes.
 
Nun gab Dschoygopal seine Stellung auf und kam nach Hause, um nach seinem Eigentum zu sehen.
 
Nach langer Trennung sahen sich die Gatten wieder. Wenn irgendein Ding zerbricht, so kann man die Teile wieder zusammenfügen. Aber wenn zwei Menschen getrennt werden, so fügen sie sich nach langer Trennung nie wieder an derselben Stelle und zur gleichen Zeit zusammen; denn die Seele ist ein lebendes Wesen und wächst und wandelt sich jeden Augenblick.
 
In Sasi weckte die Wiedervereinigung neue Gefühle. Die Erstarrung jahrelanger Gewohnheit in der früheren Zeit ihrer Ehe war durch die Sehnsucht der Trennungszeit gänzlich gelöst, und es war ihr jetzt, als ob ihr der Gatte enger als je wieder verbunden würde. Hatte sie sich doch im Herzen gelobt: was für Tage auch kommen und wie lange sie auch dauern möchten, nie sollte der Glanz dieser Liebe zu ihrem Gatten sich trüben.
 
Dschoygopal jedoch empfand anders bei dieser Wiedervereinigung. Als sie früher beständig zusammengewesen waren, hatten ihn seine Interessen und Eigenheiten an sein Weib gebunden. Sie war damals eine lebendige Wahrheit in seinem Leben, und das Gewebe seiner täglichen Gewohnheiten hätte einen großen Riß bekommen, wenn sie plötzlich gefehlt hätte. Daher fühlte er sich, als er zuerst sein Heim verließ, ganz verloren. Aber mit der Zeit wurde dieser Riß in seiner Gewohnheit durch eine neue Gewohnheit wieder zugeflickt.
 
Und dies war nicht alles. Früher hatte er ganz sorglos und träge dahingelebt. In den letzten beiden Jahren war der Trieb, seine Lage zu verbessern, in ihm so mächtig geworden, daß er an nichts anders dachte. In der Heftigkeit dieser neuen Leidenschaft schien ihm sein früheres Leben wie ein wesenloser Schatten. In der Natur der Frau werden die größten Veränderungen durch die Liebe bewirkt, in der des Mannes durch den Ehrgeiz.
 
Als Dschoygopal nach zwei Jahren zurückkehrte, fand er, daß seine Frau nicht ganz dieselbe geblieben war. Ihr Leben hatte durch seinen kleinen Schwager an Umfang gewonnen. Dieser Teil ihres Lebens war ihm ganz fremd – hier hatte er keine Gemeinschaft mit seinem Weibe. Sie gab sich alle Mühe, ihn an ihrer Liebe für das Kind teilnehmen zu lassen, aber man kann nicht sagen, daß es ihr gelang. Sasi kam wohl mit dem Kinde auf dem Arm zu ihm und hielt es ihm lächelnd entgegen – aber Nilmani umklammerte Sasis Nacken und verbarg sein Gesicht an ihrer Schulter und wollte von der andern Verwandtschaft nichts wissen. Sasi wollte, daß ihr kleiner Bruder Dschoygopal all die Künste vormachte, womit er die Herzen zu gewinnen pflegte. Aber Dschoygopal lag gar nichts daran. Wie konnte das Kind dann Lust dazu haben? Dschoygopal konnte gar nicht begreifen, was an diesem dickköpfigen Kinde mit dem ernsten, bräunlichen Gesicht sei, daß man so viel Liebe an ihn verschwenden solle.
 
Frauen verstehen solche Dinge schnell. Sasi verstand sofort, daß Dschoygopal Nilmani nicht leiden mochte. Und von nun an hielt sie ihren Bruder sorgfältig im Hintergrund, um ihn vor dem lieblosen, abweisenden Blick ihres Mannes zu schützen. So wurde das Kind für sie ein heimlich gehüteter Schatz, der Gegenstand ihrer einsamen Liebe.
 
Dschoygopal war sehr ärgerlich, wenn Nilmani schrie; daher suchte Sasi das Kind immer schnell zu beruhigen, indem sie es zärtlich an sich drückte und ihm liebkosend zusprach. Und wenn Nilmanis Schreien des Nachts Dschoygopal einmal im Schlafe störte und Dschoygopal gefoltert aufbegehrte und über das Kind schalt, so zitterte Sasi innerlich und fühlte sich gedemütigt und schuldig. Dann nahm sie das Kind auf ihren Schoß und setzte sich mit ihm in die entfernteste Ecke und schmeichelte es mit tausend zärtlich geflüsterten Liebesworten wie: „mein goldiger Schatz, mein Augenlicht, mein holdes Kleinod“ wieder in Schlaf.
 
Kinder zanken sich um hundert Kleinigkeiten. Sonst pflegte Sasi in solchen Fällen ihre Kinder zu bestrafen und ihres Bruders Partei zu nehmen, da er ja keine Mutter hatte. Jetzt veränderte sich mit dem Richter auch das Gesetz. Nilmani mußte oft unschuldig schwere Strafe erleiden, ohne daß Dschoygopal untersuchte, wer der Schuldige war. Dies Unrecht traf Sasi wie ein Dolch ins Herz; sie nahm ihren bestraften Bruder in ihr Zimmer und suchte, so gut sie konnte, mit Süßigkeiten und Spielsachen und durch Küsse und Liebkosungen sein gekränktes Herz zu trösten.
 
Je mehr Sasi Nilmani liebte, desto mehr ärgerte sich Dschoygopal über ihn. Und wiederum, je mehr Dschoygopal seine Abneigung gegen Nilmani zeigte, desto mehr badete Sasi das Kind in dem Nektar ihrer Liebe.
 
Und wenn Dschoygopal seine Frau rauh behandelte, so diente sie ihm mit schweigender Sanftmut und liebevoller Güte. Aber innerlich verletzten sie sich jeden Augenblick Nilmanis wegen.
 
Dies heimliche Aneinanderreiben bei einem solchen Konflikt ist viel schwerer zu ertragen als ein offener Zusammenstoß.


 
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