|
|
|
|
|
lifedays-seite
moment
in time
|
|
|
04.3
Die Nacht der
Erfüllung
Erzählungen
Rabindranath
Tagore
Die
ältere Schwester - Seite 2
III
Nilmanis
Kopf war das Größte an ihm. Es war, als ob
der Schöpfer eine große Blase durch ein dünnes Rohr aufgeblasen hätte.
Die
Ärzte fürchteten zuweilen, daß das Kind auch einmal schnell wie eine
Blase
dahinschwinden könnte. Es lernte sehr spät sprechen und gehen. Wenn man
sein ernstes, trauriges Gesicht sah, so hätte man
denken können, daß seine Eltern die ganze traurige Last ihres Alters
auf das
Haupt dieses kleinen Kindes abgeladen hätten.
Dank
der sorgfältigen Pflege seiner Schwester
überstand Nilmani die gefährliche Periode der Kinderkrankheiten und war
nun
schon fünf Jahre alt.
Im
Monat Kartik[13] am
Bhaiphoto-Tag[14] hatte
Sasi Nilmani wie einen kleinen
Babu herausgeputzt mit Rock und Tschadar[15] und
rotumsäumtem Lendentuch und war
dabei, das Bruderzeichen auf seine Stirn zu malen, als ihre freimütige
Nachbarin Tara hereinkam und anfing, mit ihr zu zanken.
„Es
hat keinen Zweck,“ rief sie, „dem Bruder mit so
viel Prunk und Staat das Bruderzeichen zu geben, wenn man ihn im
geheimen
seines Eigentums beraubt.“
Sasi
war wie vom Donner
gerührt. Staunen, Wut und Schmerz kämpften in ihr. Tara wiederholte ihr
das
Gerücht, Sasi und ihr Mann hätten sich den Plan ausgeheckt, das
Besitztum des
minderjährigen Nilmani wegen rückständiger Pacht zum Verkauf zu stellen
und es
durch einen Vetter Dschoygopals für sich ankaufen zu lassen. Als Sasi
dies
hörte, stieß sie den Fluch aus, daß denen, die eine so schreckliche
Lüge
verbreiteten, die Zunge gelähmt werden möge. Dann ging sie weinend zu
ihrem
Manne und erzählte ihm von der Klatscherei. Dschoygopal sagte: „Man
kann
heutzutage doch niemandem trauen. Upen ist der Sohn meiner Tante, und
ich
fühlte mich ganz sicher, als ich ihm die Sorge für das Besitztum
überließ. Wenn
ich nur den geringsten Verdacht gehabt hätte, so hätte es nicht
geschehen
können, daß er das Gut Hasilpur in Zahlungsrückstand geraten ließ und
es
nachher heimlich für sich ankaufte.“
„Willst
du ihn denn nicht verklagen?“ fragte Sasi
erstaunt.
„Den
eigenen Vetter verklagen!“ rief Dschoygopal.
„Außerdem würde es gar nichts nützen, es wäre bloße Geldverschwendung.“
Es
war Sasis vornehmste
Pflicht, den Worten ihres Gatten zu glauben, aber sie konnte es nicht.
Ihr
glückliches Heim, ihr liebendes Wirken im Hause wurde ihr verhaßt. Das
Familienleben, das einst ihre höchste Zuflucht gewesen war, war für sie
jetzt
nichts mehr als ein grausames Netz von Selbstsucht, das Bruder und
Schwester
von allen Seiten umstrickte. Sie war eine Frau und stand allein, wie
sollte sie
den hilflosen Nilmani retten? Je mehr sie grübelte, je mehr füllte sich
ihr
Herz mit Abscheu gegen ihren Gatten und mit unendlicher Liebe für ihren
gefährdeten kleinen Bruder. Wenn sie nur gewußt hätte, wie sie es
machen
sollte, so wäre sie gern zum Lat Saheb[16] gegangen,
ja sie hätte der Maharani[17] selbst
geschrieben, daß sie das
Eigentum ihres Bruders rettete. Die Maharani hätte sicher nicht
geduldet, daß
Nilmanis Gut Hasilpur mit einem jährlichen Einkommen von 758 Rupien
verkauft
würde.
Als
Sasi so bei sich überlegte, wie sie ihres Mannes
Vetter zur Rechenschaft ziehen könnte, indem sie sich an die Maharani
selbst
wandte,
wurde Nilmani plötzlich von Fieber und
Krämpfen ergriffen.
Dschoygopal
rief den Dorfarzt. Als Sasi ihn bat, einen
besseren Arzt zu holen, sagte Dschoygopal: „Ach was, Matilal versteht
seine
Sache ganz gut.“
Sasi
fiel ihm zu Füßen und beschwor ihn bei ihrem
Leben, worauf Dschoygopal sagte: „Gut, ich werde den Arzt aus der Stadt
schicken.“
Sasi
kauerte auf dem Bette mit Nilmani im Schoß; er
wollte sie auch keinen Augenblick aus den Augen lassen; er klammerte
sich an
sie, damit sie ihm nicht unter irgendeinem Vorwand entschlüpfte, selbst
im
Schlaf ließ er ihr Kleid nicht los.
So
verging der ganze Tag, und abends kam Dschoygopal
und sagte, daß der Doktor nicht zu Hause sei, er sei fort zu einem
entfernten
Kranken. Er fügte hinzu, er selbst müsse noch am selben Abend wegen
eines
Prozesses fortreisen und habe Matilal Bescheid gesagt, der sich
regelmäßig nach
dem Kranken umsehen wolle.
In
der Nacht begann Nilmani im Schlaf zu phantasieren.
Sobald der Morgen dämmerte, nahm
Sasi, ohne sich
im geringsten zu bedenken, ein Boot und fuhr mit ihrem kranken Bruder
zum Arzt.
Der Arzt war zu Hause – er war gar nicht aus der Stadt
fortgewesen.
Er
fand schnell ein Unterkommen für sie, und nachdem
er sie der Fürsorge einer ältlichen Witwe übergeben hatte, unternahm er
die
Behandlung des Knaben.
Am
nächsten Tage kam Dschoygopal. Kochend vor Wut
gebot er seiner Frau, sofort mit ihm nach Hause zurückzukehren.
„Und
wenn du mich kurz und klein schlägst, so kehre ich
doch nicht zurück“, erwiderte sie. „Ihr alle wollt meinen Nilmani
umbringen,
der nicht Vater noch Mutter, der niemand als mich hat, aber ich will
ihn
retten.“
„Dann
bleibst du hier und kommst nicht wieder in mein
Haus zurück“, rief Dschoygopal zornig.
Da
fuhr Sasi endlich auf. „Dein Haus! Das Haus gehört meinem Bruder!“
„Gut,
wir werden sehen“, sagte Dschoygopal. Die
Nachbarn erhoben einen großen Lärm über diesen Vorfall. „Wenn du mit
deinem
Mann zanken willst,“ sagte Tara, „so tu es zu Hause.
Wozu mußt du ihm davonlaufen? Er ist doch immer dein Gatte.“
Es
gelang Sasi, indem sie alles Geld, was sie bei sich
hatte, ausgab und ihre Schmucksachen verkaufte, ihren Bruder aus dem
Rachen des
Todes zu retten. Da hörte sie, daß ihr großes Besitztum Dwarigram, auf
dem ihr
Wohnhaus stand und dessen jährliche Einkünfte mehr als 1500 Rupien
betrugen,
mit Hilfe des Zemindars[18] von
Dschoygopal auf seinen eigenen
Namen umgeschrieben worden war. Jetzt gehörte also das ganze Besitztum
nicht
mehr ihrem Bruder, sondern ihnen.
Als
Nilmani sich von seiner Krankheit erholt hatte,
bat er immer wieder kläglich: „Laß uns nach Hause gehen, Schwester.“ Er
hatte
Heimweh nach seinen Neffen und Nichten, seinen Gespielen. Daher sagte
er immer
wieder: „Laß uns heimgehen, Schwester, in unser altes Haus zurück.“
Sasi
weinte, wenn er so bat. Wo war ihr Heim?
Aber
das Weinen nützte nichts. Ihr Bruder hatte
niemanden auf der Welt als sie. Das sagte sich
Sasi. So wischte sie denn ihre Tränen ab, ging in das Haus des
stellvertretenden Friedensrichters, Tarini Babu, und bat seine Gattin,
ihr zu
helfen.
Der
stellvertretende Friedensrichter kannte
Dschoygopal. Daß eine Frau ihr Haus verließ und wegen Eigentumssachen
mit ihrem
Manne Streit anfing, brachte ihn sehr gegen Sasi auf. Doch ließ er sich
nichts
merken, er schrieb sofort an Dschoygopal und hielt Sasi eine Zeitlang
hin.
Dschoygopal kam, setzte seine Frau und seinen Schwager mit Gewalt in
ein Boot
und brachte sie nach Hause.
So
waren die Gatten nach einer zweiten Trennung zum
zweitenmal wieder vereint. So wollte es Pradschapati[19].
Nilmani
war vollkommen glücklich, daß er nach langer
Abwesenheit seine alten Gespielen wieder hatte. Wie Sasi seine
ahnungslose
Freude sah, war es ihr, als ob ihr das Herz brechen wollte.
IV
Der
Friedensrichter bereiste während der kühlen
Jahreszeit das Land und schlug sein Zelt im
Dorf
auf, um zu jagen. Auf der Dorfwiese traf der Sahib Nilmani. Die andern
Knaben
gingen dem großen Herrn wie einem gefährlichen Untier weit aus dem
Wege. Aber
Nilmani blieb unerschrocken stehen und starrte den Sahib ernsthaft und
neugierig an.
Der
Sahib ging belustigt auf ihn zu und fragte auf
Bengalisch: „Du gehst in die Dorfschule?“
Der
Knabe nickte stumm. „Was für pustaks[20] liest
du?“ fragte der Sahib.
Da
Nilmani das Wort pustak nicht verstand, starrte er
den Friedensrichter nur weiter schweigend an. Zu Hause erzählte Nilmani
seiner
Schwester mit großer Begeisterung von dieser Begegnung.
Am
Mittag ging Dschoygopal, mit Beinkleidern, langem
Rock und Turban angetan, um dem Sahib seine Aufwartung zu machen. Ein
Schwarm
von Bittstellern, Dienern und Polizisten standen um ihn herum. Da der
Sahib die
Hitze fürchtete, hatte er sich draußen vor dem Zelt an einem kühlen
schattigen
Platz an den Gerichtstisch gesetzt, und nachdem er Dschoygopal einen
Stuhl
hatte bringen lassen, fragte er ihn, wie
alles im
Dorfe stände. Als Dschoygopal so vor aller Augen auf dem Ehrensitz
Platz nahm,
schwoll sein Selbstgefühl gewaltig, und er dachte, wie schön es wäre,
wenn
jetzt einer von den Tschakrabartis oder Nandis käme und ihn da sähe.
In
diesem Augenblick kam eine Frau, das Antlitz dicht
verhüllt und Nilmani an der Hand führend, geradewegs auf den
Friedensrichter
zu. „Sahib,“ sagte sie, „Ihrem Schutz übergebe ich meinen hilflosen
Bruder.
Retten Sie ihn.“ Der Sahib, der den ernsten Knaben mit dem großen Kopfe
sogleich wiedererkannte und sich sagte, daß die Frau sicher einer
angesehenen
Familie angehörte, stand sogleich auf und bat sie, in sein Zelt
einzutreten.
Doch
die Frau sagte: „Was ich zu sagen habe, will ich
hier sagen.“
Dschoygopal
erbleichte. Für die neugierigen
Dorfbewohner war die Geschichte ein Hauptspaß, und sie drängten sich
heran.
Aber sobald der Sahib seinen Stock erhob, machten sie sich davon.
Noch
immer die Hand des Bruders haltend, erzählte Sasi
die Geschichte dieses Waisenkindes von
Anfang an.
Sobald Dschoygopal versuchte, sie zu unterbrechen, donnerte ihn der
Friedensrichter mit zornrotem Gesicht an: „Schweig!“ und machte ihm mit
dem
Stock ein Zeichen, sich zu erheben und stehenzubleiben.
Dschoygopal,
der innerlich vor Wut schäumte, stand
stumm da. Nilmani schmiegte sich an seine Schwester und hörte scheu und
furchtsam zu.
Als
Sasi ihre Erzählung beendet hatte, richtete der
Sahib ein paar Fragen an Dschoygopal, und nachdem er seine Antworten
gehört
hatte, schwieg er eine ganze Weile. Dann wandte er sich an Sasi: „Gute
Frau,“
sagte er, „wenn auch diese Angelegenheit eigentlich nicht vor mein
Gericht
gehört, so können Sie doch gewiß sein, daß ich die nötigen Schritte tun
werde,
um Ihnen zu helfen. Sie können ohne Sorge mit Ihrem Bruder nach Hause
gehen.“
Doch
Sasi erwiderte: „Sahib, solange das Haus nicht
ihm gehört, wage ich nicht, ihn dahin zu bringen. Wenn Sie selbst nicht
Nilmani
bei sich behalten, wird niemand anders ihn retten können.“
„Und
was soll aus Ihnen werden?“ fragte der
Sahib.
„Ich
werde in meines Gatten Haus zurückkehren“, sagte
Sasi; „für mich ist nichts zu fürchten.“
Der
Sahib lächelte ein wenig zweifelnd, und da ihm
nichts anderes übrigblieb, so willigte er ein, diesen mageren, dunklen,
ernsten, gesetzten vornehmen bengalischen Knaben, dessen Hals dicht mit
Amuletten behängt war, in seine Obhut zu nehmen.
Als
Sasi fortgehen wollte, klammerte der Knabe sich an
ihr Kleid. „Hab' keine Angst, baba, – komm“, sagte der Sahib.
Während die
Tränen hinter ihrem Schleier flossen, sagte Sasi: „Ja, geh, mein
Bruder, mein
geliebter Bruder – du wirst deine Schwester wiedersehen!“
Damit
umarmte sie ihn, strich ihm noch einmal
liebkosend über Kopf und Rücken und riß sich dann eilig los, während
der Sahib
seinen linken Arm um ihn legte. Das Kind schrie auf: „Schwester, o
meine
Schwester!“ Sasi wandte sich jäh um und streckte noch einmal stumm den
Arm nach
ihm aus, als wollte sie ihn trösten, dann eilte sie mit brechendem
Herzen
davon.
Und
wieder trafen die
Gatten in dem altvertrauten Hause zusammen. So wollte es Pradschapati!
Aber
diese Vereinigung dauerte nicht lange. Denn bald
darauf hörten die Dorfbewohner eines Morgens, daß Sasi in der Nacht an
der
Cholera gestorben und sofort eingeäschert sei.
Niemand
äußerte ein Wort darüber. Nur die Nachbarin
Tara wollte mitunter mit etwas herausplatzen, aber die Leute brachten
sie
schnell mit erschrockenem „Pst“ zum Schweigen.
Sasi
hatte beim Abschied ihrem
Bruder versprochen, daß sie sich wiedersehen würden. Wo das Versprechen
erfüllt
wurde, kann niemand sagen.
|
lifedays-seite
- moment in time |
|
|
|
|
|
|
|