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04.3
SUBHA
Erzählungen
Rabindranath
Tagore
Als
man dem Mädchen den Namen Subhaschini[21] gab,
wer hätte da ahnen können, daß sie stumm sein würde? Ihre beiden
älteren
Schwestern hießen Sukeschini[22] und
Suhasini[23],
und um der Gleichförmigkeit willen nannte der Vater seine jüngste
Tochter
Subhaschini. Sie wurde der Kürze wegen Subha genannt.
Die
beiden älteren Schwestern waren mit den
gewöhnlichen Unkosten und Schwierigkeiten verheiratet, und nun lag die
jüngste
Tochter wie eine stille Last auf dem Herzen der Eltern. Alle Menschen
schienen
zu meinen, daß sie, da sie nicht sprach, auch nicht fühlte; sie
sprachen in
ihrer Gegenwart ganz offen über ihre Zukunft und ihre eigenen Sorgen
darüber.
Sie hatte schon in ihrer frühesten Kindheit verstanden, daß sie ein
Fluch für
ihr Vaterhaus war, daher zog
sie sich von den
andern zurück und versuchte, abseits zu leben. Wenn sie sie nur alle
vergessen
wollten! Sie fühlte, daß sie es dann hätte ertragen können. Aber wer
kann
seinen Schmerz vergessen? Tag und Nacht quälte der Gedanke an sie die
Eltern.
Besonders die Mutter empfand sie als ein körperliches Gebrechen an sich
selbst.
Für die Mutter ist die Tochter noch mehr ein Teil ihrer selbst als der
Sohn es
sein kann; und ein Fehler an ihr ist für sie eine Quelle persönlicher
Schmach.
Banikantha, Subhas Vater, liebte sie eigentlich noch mehr als seine
andern
Töchter; aber die Mutter betrachtete sie mit Abneigung als einen
Schandfleck am
eigenen Leibe.
Wenn
Subha auch keine Sprache hatte, so hatte sie doch
ein paar große, dunkle, von langen Wimpern beschattete Augen; und ihre
Lippen
bebten leise wie ein Blatt bei jedem Gedanken, der sie bewegte.
Wenn
wir unsere Gedanken in Worten ausdrücken wollen,
so ist die Vermittlung gar nicht leicht zu finden. Es bedarf erst der
Übersetzung, die oft ungenau ist, und dann werden wir mißverstanden.
Aber ein
Paar dunkle Augen brauchen nicht
übersetzt zu
werden, aus ihnen spricht die Seele unmittelbar. In ihnen eröffnet oder
verschließt sich uns der Gedanke, leuchtet uns klar entgegen oder tritt
düster
hervor, steht ruhig und gelassen da wie der untergehende Mond oder
schießt wie
der Blitz hervor und erhellt einen Augenblick alles um sich her. Sie,
die von
ihrer Geburt an keine andere Sprache gekannt haben als das Zittern
ihrer
Lippen, lernen eine Sprache der Augen, die unendlich ausdrucksvoll ist;
sie ist
tief wie das Meer, klar wie der Himmel, in ihr spielen Licht und
Schatten,
Morgen- und Abendröte. Die Stummen haben etwas von der einsamen Größe
der Natur
selbst. Daher war es fast, als ob die andern Kinder Subha fürchteten;
sie
spielten fast nie mit ihr. Sie war schweigend und ohne Gefährten wie
der stille
Mittag.
Das
Dorf, wo sie lebte, hieß Tschandipur. Sein Fluß,
der für einen Fluß Bengalens klein war, hielt sich in seinen engen
Grenzen, wie
ein Mädchen aus dem Mittelstande. Dieser geschäftige Streifen Wasser
floß nie
über seine Ufer, sondern erfüllte gewissenhaft seine Pflichten, als ob
er ein
Glied jeder Familie gewesen wäre, die an seinen
Ufern wohnte. Zu beiden Seiten waren Häuser und Bäume, die die Ufer
beschatteten. So wurde die Göttin des Flusses, wenn sie von ihrem
Königsthron
herabstieg, zur Gartengottheit jedes Heims und eilte, sich selbst
vergessend,
leichtfüßig und heiter von einer Aufgabe zur andern, unendlichen Segen
spendend.
Banikanthas
Gehöft lag dicht am Fluß. Die
vorüberfahrenden Schiffer konnten jede Hütte und jeden Schuppen
desselben
sehen. Ich weiß nicht, ob irgend jemand unter diesen Anzeichen von
Wohlstand
das kleine Mädchen bemerkte, die, wenn ihre Arbeit getan war, sich nach
dem
Flußufer schlich und dort saß. Denn hier vermißte sie die Gabe der
Sprache
nicht, hier sprach die Natur für sie. Das Murmeln des Baches, die
Stimmen der
Dorfleute, die Lieder der Schiffer, das Zwitschern der Vögel und das
Rauschen
der Bäume, alles floß zu einer Sprache
zusammen und wurde eins mit dem Zittern ihres Herzens. Es wurde zu
einer großen
Woge von Schall, die an ihr sehnsüchtiges Herz schlug. Dies Rauschen
und Raunen
in der Natur war die Sprache der armen Stummen, und in ihren dunklen
Augen fand
die Sprache der Welt um sie her ihren
Ausdruck. Von
den kleinen Heimchen, die im Gebüsch zirpten, bis zu den stillen
Sternen über
ihr war nichts, was nicht zu ihr sprach mit Zeichen und Gebärden,
Weinen und
Seufzen. Und in der tiefen Stille des Mittags, wenn die Schiffer und
Fischerleute zum Essen gegangen waren, wenn die Dorfbewohner schliefen
und die
Vögel verstummt waren, wenn die Fährboote müßig am Ufer lagen, wenn die
große,
geschäftige Welt mit ihrer Arbeit haltmachte und plötzlich schweigend
dastand
wie ein einsamer, furchtbarer Riese, dann saßen unter dem weiten
Himmelsdom, in
der feierlichen Mittagsstille, die beiden allein und schweigend da: die
stumme
Natur und das stumme Mädchen – die eine überströmt vom
Sonnenlichte, die
andere von einem kleinen Baum beschattet.
Aber
Subha war nicht ganz ohne Freunde. Im Stall waren
zwei Kühe, Sarbaschi und Panguli. Sie hatten nie von ihren Lippen ihren
Namen
gehört, aber sie kannten ihren Schritt. Wenn sie auch keine Worte
hatte, so
hatte sie doch ein liebevolles Murmeln für sie, und sie verstanden ihr
sanftes
Gemurmel besser als alle Worte. Wenn sie sie liebkoste oder schalt oder
sich
zärtlich an sie schmiegte, so verstanden diese Tiere
sie besser, als Menschen es hätten tun können.
Subha
kam zu ihnen in den Stall und schlang ihren Arm
um Sarbaschis Nacken; sie rieb ihre Wange an der ihrer Freundin, und
Panguli
sah sie mit ihren großen gütigen Augen an und leckte ihr Gesicht. Das
Mädchen
kam dreimal am Tage regelmäßig zur bestimmten Zeit zu ihnen, aber auch
dazwischen besuchte sie sie noch oft. Immer wenn sie Worte gehört
hatte, die
sie verletzten und ihr wehe taten, so kam sie zu diesen stummen
Freunden. Es
war, als ob sie in ihrem stillen, traurigen Blick ihre innere Not
läsen. Sie
drängten sich dicht an sie und rieben ihre Hörner sanft an ihren Armen
und
versuchten, sie in ihrer stummen, hilflosen Art zu trösten.
Außer
diesen beiden waren da noch ein paar Ziegen und
ein Kätzchen, aber so nahe standen sie Subha doch nicht, wenn sie sich
auch
ebenso anhänglich zeigten. Das Kätzchen sprang bei jeder Gelegenheit,
die sich
ihm bot, auf ihren Schoß, um dort sein Schläfchen zu halten, und
schnurrte
behaglich und dankbar, wenn Subhas weiche Finger ihm über Hals und
Rücken
strichen.
Subha
hatte aber auch unter
der höheren Tiergattung einen Kameraden, und es ist schwer zu sagen,
wie ihre
Beziehungen zueinander waren, denn er konnte sprechen, und diese Gabe
nahm
ihnen die Möglichkeit, sich miteinander in der allgemeinen Natursprache
zu
verständigen. Er war der Jüngste von den Gosains, namens Pratap, ein
träger
Bursche. Nach langer vergeblicher Mühe hatten seine Eltern die Hoffnung
aufgegeben, daß je etwas aus ihm werden und er es lernen würde, sich
selbst
durchzuschlagen. Nun haben Taugenichtse den Vorteil, daß sie, wenn auch
ihre
eigenen Verwandten nichts von ihnen wissen wollen, gewöhnlich bei allen
andern
sehr beliebt sind. Da sie durch keine Arbeit gebunden sind, werden sie
öffentliches Eigentum. Wie jede Stadt ihren freien Platz braucht, wo
alle atmen
können, so braucht jedes Dorf zwei bis drei solche Freiherren von
Müßiggang,
die Zeit für alle haben, so daß, wenn wir ein wenig faulenzen möchten
und einen
Gefährten brauchen, gleich einer zur Hand ist.
Prataps
Hauptehrgeiz richtete sich auf den Fischfang.
Damit wußte er eine Menge Zeit zu verbringen, und fast jeden Nachmittag
konnte man
ihn in dieser Beschäftigung finden. So kam es, daß er
häufig mit Subha zusammentraf. Bei allem, was er tat, hatte er gern
einen
Kameraden, und beim Fischfang ist ein stummer Kamerad der beste. Pratap
schätzte Subha wegen ihrer Schweigsamkeit, und da alle andern sie Subha
nannten, zeigte er ihr seine Zuneigung, indem er sie Su nannte.
Subha
saß dann unter einem Tamarindenbaum, und Pratap
warf nicht weit davon seine Angel aus. Er hatte immer etwas Betel
mitgebracht,
und Subha bereitete ihn ihm zu. Und wenn sie so dasaß und ihm lange
zusah,
stieg wohl in ihr der heiße Wunsch auf, ihm helfen, etwas Großes für
ihn tun zu
können, um zu beweisen, daß sie keine nutzlose Last in dieser Welt sei.
Aber
was sollte sie tun? Dann wandte sie sich in stillem Gebet an den
Schöpfer, er
möchte ihr plötzlich eine wunderbare Gabe verleihen, so daß Pratap
erstaunt
ausrufen müßte: „Potztausend, ich hätte mir nie träumen lassen, daß
unsre Su so
etwas könnte!“
Man
denke nur! Wenn Subha eine Wassernymphe gewesen
wäre, so wäre sie langsam aus dem Fluß emporgetaucht und hätte ihm den Edelstein
aus einer Schlangenkrone ans Ufer gebracht. Dann
hätte Pratap sein armseliges Fischen lassen und in die Unterwelt
hinabtauchen
können, und dort hätte er in einem silbernen Palaste auf einem goldenen
Bett – nun, wen gesehen? Wen sonst als die stumme kleine Su,
Banikanthas
Kind? Ja, unsre Su, die einzige Tochter der glänzenden
Juwelenstadt! –
Aber
das würde
nie geschehen, es war unmöglich. Nicht daß irgend etwas wirklich
unmöglich war,
aber Su war nicht im königlichen Palast von Patalpur[24],
sondern im Hause Banikanthas geboren, und so wußte sie kein Mittel,
Pratap in
Erstaunen zu setzen.
Allmählich
wuchs sie heran. Allmählich begann sie,
sich selbst zu finden. Ein nie gekanntes, unbestimmtes Gefühl
durchwogte sie,
wie die Flut des Meeres, wenn der Vollmond aufsteigt. Sie stand vor
sich selbst
wie vor etwas ganz Neuem, das sie sich nicht erklären konnte.
Einmal,
es war spät in einer Vollmondnacht, öffnete
sie langsam ihre Tür und blickte schüchtern hinaus. Die Natur, die
selbst auch
in ihrem Vollmond war wie die einsame Subha, sah auf die
schlafende Erde herab. Auch in ihr pulsierte starkes junges Leben;
Freude und
Traurigkeit füllte ihr Wesen zum Überquellen, sie war an den Grenzen
ihrer
grenzenlosen Einsamkeit angelangt, ja, sie war über sie hinausgekommen.
Das
Herz war ihr schwer, und die Sprache war ihr versagt! An das Gewand
dieser stummen
geängsteten Mutter klammerte sich ein stummes geängstetes Kind.
Der
Gedanke an Subhas Heirat erfüllte die Eltern mit
steter Sorge. Die Leute machten ihnen Vorwürfe und sprachen sogar
davon, daß
sie sie aus der Kaste ausstoßen würden. Banikantha war wohlhabend, sie
aßen
zweimal am Tage Fisch-Ragout, und infolgedessen fehlte es ihnen nicht
an
Feinden. Da nahmen die Frauen die Sache in die Hand, und Bani verreiste
auf ein
paar Tage. Bald kehrte er zurück und sagte: „Wir müssen nach Kalkutta
reisen.“
So
wurde denn die Reise in dieses fremde Land
vorbereitet. Subhas Herz war schwer von Tränen wie ein nebelumhüllter
Morgen.
Eine unbestimmte Angst hatte sich schon seit Tagen in ihr gesammelt,
und sie
ging ihren Eltern auf Schritt und Tritt nach wie ein stummes Tier. Mit
angstvoll geöffneten Augen forschte sie in ihrem
Gesicht, als ob sie ihr Schicksal in ihren Zügen lesen wollte. Aber sie
würdigten sie keines Wortes. Eines Nachmittags, während dies alles vor
sich
ging und als Subha einmal wie sonst Pratap beim Fischen zusah, rief er
lachend:
„Nun, Su, jetzt haben sie also glücklich einen Bräutigam für dich
eingefangen
und du wirst heiraten. Vergiß mich nur nicht ganz!“ Dann wandte er
seine
Aufmerksamkeit wieder den Fischen zu.
Wie
ein verwundetes Wild den Jäger in stummer
Todesangst anblickt, als fragte es ihn: Was habe ich dir getan? so
blickte
Subha Pratap an. An dem Tage saß sie nicht mehr unter dem Baum. Als
Banikantha
seinen Mittagsschlaf beendet hatte und in seinem Schlafzimmer saß und
rauchte,
stürzte Subha ihm plötzlich laut aufschluchzend zu Füßen und sah ihn
flehend
an. Banikantha versuchte, sie zu trösten, und auch seine Wange wurde
feucht von
Tränen.
Die
Reise nach Kalkutta war auf den folgenden Tag
festgesetzt. Subha ging in den Kuhstall, um den Gefährten ihrer
Kindheit
Lebewohl zu sagen. Sie ließ sie aus der Hand fressen; sie
umklammerte ihren Hals, sie sah ihnen ins Gesicht, und Tränen strömten
unaufhörlich aus ihren Augen und kündeten den stummen Freunden ihr
ganzes Leid.
Es war die zehnte Nacht des neuen Mondes. Subha ging hinaus und warf
sich auf
ihr Rasenlager neben dem geliebten Fluß. Es war, als ob sie ihren Arm
um die
Erde, ihre starke, schweigende Mutter, schlang und ihr sagen wollte:
‚Laß mich
nicht fort, Mutter. Leg deine Arme um mich, wie ich sie um dich lege,
und halte
mich fest.‘
Sie
waren in Kalkutta angelangt. In einem fremden
Hause putzte die Mutter Subha sorgfältig heraus. Sie steckte ihr Haar,
das
sonst frei um ihre Schultern gehangen hatte, in festen Flechten hoch,
behing
sie über und über mit Schmucksachen und tat ihr Bestes, ihre natürliche
Schönheit zu ersticken. Subhas Augen füllten sich mit Tränen. Die
Mutter schalt
sie rauh, denn sie fürchtete, die Augen könnten vom Weinen geschwollen
werden,
aber die Tränen wollten auf kein Schelten hören. Der Bräutigam kam mit
einem
Freunde, um sich die Braut anzusehen. Den Eltern war ganz schwindlig
vor Angst,
als sie den Gott nahen sahen, der
sich das Tier zu
seinem Opfer erwählen sollte. Hinter den Kulissen gab die Mutter der
Tochter noch
eindringlich ihre Verhaltungsmaßregeln und rief dadurch einen erneuten
Tränenausbruch hervor, bevor sie sie zur Musterung entließ. Der große
Mann sah
sie eine lange Weile forschend an, dann sagte er: „Gar nicht so übel.“
Er
nahm besonders Notiz von ihren Tränen und meinte,
sie müsse ein weiches Herz haben. Dadurch gewann sie in seinen Augen an
Wert,
denn er sagte sich, daß ein Mädchen, welches unglücklich sei, weil es
seine
Eltern verlassen sollte, auch eine treue und zärtliche Gattin werden
würde. Und
so dienten die Tränen des armen Kindes wie die Perlen der Muschel nur
dazu, sie
begehrenswerter zu machen.
Der
Kalender wurde befragt, und die Hochzeit fand an
einem glückverheißenden Tage statt. Nachdem Subhas Eltern ihre stumme
Tochter
den Händen eines andern übergeben hatten, kehrten sie nach Hause
zurück. Gott
sei Dank! Ihre Kaste war gerettet, und sie waren gerechtfertigt in
dieser und
der zukünftigen Welt! Der Bräutigam hatte seine Arbeit im westlichen
Teil des Landes, und bald nach der Hochzeit nahm er sein Weib mit sich
dorthin.
Es
waren noch nicht zehn Tage vergangen, als schon
jeder wußte, daß die junge Frau stumm war! Wenigstens war es nicht ihre
Schuld,
wenn irgend jemand es noch nicht wußte, denn sie versuchte niemand zu
täuschen.
Ihre Augen erzählten ihre ganze Geschichte, wenn auch niemand sie
verstand. Sie
sah auf jede Hand, sie fand nirgends eine Sprache; sie vermißte die
Gesichter,
die ihr von ihrer Geburt an vertraut waren und die die Sprache eines
stummen
Kindes verstanden hatten. In ihrem schweigenden Herzen tönte ein
endloses
stummes Weinen, das nur der Erforscher der Herzen hören konnte.
Ihr
Gebieter aber hielt noch einmal sorgfältig
Umschau, diesmal brauchte er sowohl seine Ohren wie seine Augen und
heiratete
eine zweite Frau, die sprechen konnte.
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