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Literatur


04.3

Die Nacht der Erfüllung
Erzählungen

Rabindranath Tagore



Der Ausgestossene
 
Gegen Abend hatte das Gewitter den Höhepunkt erreicht. Der Regen kam wütend herabgestürzt, wild krachte der Donner, und unaufhörlich zuckten die Blitze über den Himmel hin; es war, als ob in den Lüften eine Schlacht zwischen Göttern und Dämonen rase. Schwarze Wolken flatterten daher wie die Fahnen des Verderbens. Der Ganges war zu wilder Wut aufgepeitscht, und die Bäume an seinen Ufern schwankten seufzend und stöhnend hin und her.
 
In einem der Häuser am Fluß, in Tschandernagur, saß bei geschlossenen Türen und Fenstern ein Mann neben seiner Frau auf dem Bett und redete eindringlich auf sie ein. Eine irdene Lampe brannte neben ihnen.
 
Scharat, der Mann, sagte: „Ich wollte, du bliebst noch ein paar Tage hier, bis du ganz wiederhergestellt bist, dann könntest du frisch und gesund nach Hause zurückkehren.“
 
Kiran erwiderte: „Ich bin schon ganz wiederhergestellt. Es kann mir unmöglich schaden, wenn ich jetzt reise.“
 
Jeder Verheiratete wird sofort begreifen, daß die Unterhaltung nicht ganz so kurz war, wie ich sie berichtet habe. Die Sache selbst war nicht schwierig, aber die Gründe für und wider wollten sie zu keiner Entscheidung kommen lassen. Wie ein steuerloses Boot drehte sich die Diskussion immer um denselben Punkt, bis sie zuletzt in Gefahr kam, von einem Tränenstrom überflutet zu werden.
 
Scharat sagte: „Der Doktor meint, du solltest noch ein paar Tage hier bleiben.“
„Dein Doktor weiß natürlich alles“, erwiderte Kiran.
„Aber du weißt doch auch, daß gerade jetzt überall so viel Krankheiten sind!“ sagte Scharat. „Du tätest gut, noch ein paar Monate hierzubleiben.“
„Als ob hier alle Welt gesund wäre!“
 
Die Sache war die: Kiran war der allgemeine Liebling ihrer Verwandten und Freunde, so daß, als sie ernstlich erkrankte, alle in großer Sorge um sie waren. Die Besserwisser im Dorfe zwar fanden es lächerlich von ihrem Gatten, daß er sich um eine Frau so anstellte und sogar Luftveränderung für sie für nötig hielt. Als ob noch niemals eine Frau krank gewesen wäre! Und meinte er denn, daß an dem Ort, wohin er sie bringen wollte, die Leute unsterblich seien? Aber Scharat und seine Mutter hatten für solche Reden taube Ohren, ihnen war das Leben ihres Lieblings wichtiger als alle Weisheit eines Dorfes. Denn in solchen Fällen haben die Menschen immer ihren eigenen Maßstab.
 
So waren sie also nach Tschandernagur gereist und Kiran war genesen, wenn sie auch noch sehr schwach war. Ihr Gesichtchen war so schmal und blaß, daß der Gatte, wenn er sie ansah, von Mitleid erfüllt war, und der Gedanke, wie nahe sie daran gewesen war, ihm zu entgleiten, machte sein Herz erzittern.
 
Kiran liebte fröhliche Geselligkeit; das einsame Leben in der Villa am Fluß war gar nicht nach ihrem Geschmack. Es gab nichts zu tun, keine interessanten Nachbarn, und sie haßte es, sich den ganzen Tag mit Medizin und Krankenkost zu beschäftigen. Sie hatte genug von dem ewigen Aufwärmen und Einlöffeln. Dies war der Gegenstand, über den die Gatten sich unterhielten, als sie an diesem stürmischen Abend zusammen im Schlafzimmer saßen.
 
Solange Kiran sich zu Erörterungen herbeiließ, war ein ehrlicher Kampf möglich. Aber als sie nun aufhörte, ihm zu antworten, den Kopf zurückwarf und verzweifelt nach der andern Seite starrte, war der arme Mann entwaffnet. Er war schon im Begriff, sich bedingungslos zu ergeben, als ein Diener etwas durch die geschlossene Tür rief.
 
Scharat stand auf und öffnete die Tür. Der Diener berichtete, daß ein Boot im Sturm gekentert, und daß es einem der Insassen, einem jungen Brahmanenknaben, gelungen sei, ans Ufer zu schwimmen und in ihrem Garten zu landen.
 
Kiran war mit einem Male wieder sie selbst mit all ihrer liebreichen Hilfsbereitschaft. Sie machte sich sofort daran, trockenes Zeug für den Knaben herauszusuchen. Dann wärmte sie eine Tasse Milch und ließ ihn in ihr Zimmer kommen.
 
Der Knabe hatte langes, lockiges Haar, große ausdrucksvolle Augen, und noch keine Spur von Flaum auf dem Gesicht. Nachdem Kiran ihn genötigt hatte, etwas Milch zu trinken, mußte er ihr alles von sich erzählen. Er sagte ihr, daß er Nilkanta hieße und zu einer Schauspielertruppe gehöre. Sie waren unterwegs nach einer benachbarten Villa, um dort zu spielen, als das Boot plötzlich im Sturm gekentert war. Er hatte keine Ahnung, was aus seinen Gefährten geworden war. Er war ein guter Schwimmer, und seine Kräfte hatten gerade noch gereicht, um ans andere Ufer zu gelangen.
 
Der Knabe blieb bei ihnen. Daß er so mit genauer Not einem schrecklichen Tode entronnen war, erweckte Kirans warme Teilnahme für ihn. Scharat fand, daß die Ankunft des Knaben gerade in diesem Augenblick sich sehr glücklich traf, da seine Frau Unterhaltung haben und sich vielleicht bewegen lassen würde, noch eine Zeitlang zu bleiben. Auch ihre Schwiegermutter freute sich über die Aussicht, sich dem brahmanischen Gast wohltätig erweisen zu können. Und Nilkanta selbst war entzückt, daß er sowohl seinem Prinzipal wie dem Jenseits entronnen war und zugleich in dieser reichen Familie eine Heimat gefunden hatte.
 
Aber in kurzer Zeit wurden Scharat und seine Mutter andern Sinnes und sehnten sich danach, ihn wieder loszuwerden. Der Knabe fand ein geheimes Vergnügen daran, Scharats Pfeifen zu rauchen; er ging mit größter Seelenruhe im strömenden Regen mit Scharats seidenem Regenschirm davon, um einen Spaziergang durchs Dorf zu machen, und freundete sich mit jedem, den er traf, an. Dazu kam noch, daß er aus dem Dorf einen Bastardköter mitbrachte, den er so rücksichtslos verzog, daß er mit schmutzigen Pfoten hereinkam und Spuren seines Besuchs auf Scharats reiner Bettdecke zurückließ. Dann sammelte er eine treu ergebene Schar von Jungen jeden Standes und Alters um sich, und die Folge war, daß in der ganzen Nachbarschaft kein einziger Mango in dem Sommer mehr zur Reife kam.
 
Es war kein Zweifel, daß Kiran den Knaben verzog. Scharat machte ihr oft Vorstellungen deswegen, aber sie hörte nicht auf ihn. Sie putzte ihn geckenhaft heraus mit Scharats abgelegten Kleidern oder mit neuen, die sie ihm schenkte. Und weil sie sich zu ihm hingezogen fühlte und auch neugierig war, mehr über ihn zu erfahren, ließ sie ihn beständig in ihr Zimmer rufen. Wenn sie gebadet und zu Mittag gegessen hatte, pflegte sie auf ihrem Bett zu sitzen, ihre silberne Betelbüchse neben sich, und während das Mädchen ihr das Haar kämmte und trocknete, stand Nilkanta vor ihr und deklamierte Stücke aus seinen alten Rollen, wobei er durch Gesang und Gesten das Spiel belebte, während seine Koboldlocken ihn wild umflatterten. So gingen die langen Nachmittagstunden fröhlich hin. Kiran versuchte oft, Scharat zu überreden, sich als Zuhörer zu ihnen zu setzen, aber Scharat, der den Jungen von Herzen verabscheute, lehnte ab. Auch konnte Nilkanta seine Rolle nicht halb so gut spielen, wenn Scharat da war. Seine Mutter ließ sich mitunter bewegen zu kommen, in der Hoffnung, in den Vorträgen heilige Namen zu hören; aber die Neigung zu ihrem Mittagsschläfchen erwies sich stärker als ihre Andacht; sie nickte jedesmal bald ein.
 
Der Knabe bekam oft Knüffe und Ohrfeigen von Scharat, aber da das nichts war im Vergleich zu dem, was er bei der Schauspielertruppe gewohnt gewesen war, machte er sich nicht das geringste daraus. Er hatte aus den Erfahrungen, die er in seinem kurzen Leben gemacht hatte, den Schluß gezogen, daß das menschliche Leben aus Essen und Schlägen besteht, und daß die Schläge bei weitem überwiegen.
 
Es war schwer, Nilkantas Alter zu bestimmen. Für 14 oder 15 war sein Gesicht zu alt; für 17 oder 18 zu jung. Er war entweder ein frühreifer Knabe oder ein knabenhafter Jüngling. Die Sache war die, daß er, als er als ganz kleiner Junge zu der Schauspielertruppe kam, die Rollen der Radhika, der Damajanti, der Sita und der Gefährtin Bidjas gespielt hatte. Die Vorsehung war rücksichtsvoll genug gewesen, ihn genau so groß wachsen zu lassen, wie sein Direktor ihn brauchte, und dann sein Wachstum anzuhalten. Da jeder sah, wie klein er war, und er selbst sich auch sehr klein vorkam, wurde ihm nicht die seinem Alter gebührende Achtung zuteil.
 
Alles dies kam zusammen, um ihn mitunter als einen unreifen Siebzehnjährigen erscheinen zu lassen, und dann wieder als einen Vierzehnjährigen, der aber selbst für einen Siebzehnjährigen schon zu viel wußte. Und als keine Spur von Flaum auf seinem Gesicht sich zeigen wollte, wurde die Frage noch schwieriger. Entweder infolge des Rauchens oder weil er sich gewöhnt hatte, altklug zu reden, zogen sich Falten um seinen Mund, die ihn alt und hart erscheinen ließen, aber aus seinen großen Augen leuchtete Unschuld und Jugend. Ich glaube, sein Herz war jung geblieben, nur seine äußere Erscheinung war zu früh gereift in der Treibhausatmosphäre, die das grelle Licht der Öffentlichkeit um ihn geschaffen hatte.
 
In dem stillen Schutz von Scharats Haus und Garten in Tschandernagur hatte die Natur Muße, ungehindert ihr Werk zu tun. Er hatte unnatürlich lange im Zustande der Kindheit verharrt, jetzt glitt er unbemerkt und schnell aus diesem Stadium heraus und seine siebzehn oder achtzehn Jahre kamen zu ihrem Recht. Niemand bemerkte die Veränderung; sie zeigte sich zuerst darin, daß er sich schämte, wenn Kiran ihn wie einen Knaben behandelte. Als die lustige Kiran ihm eines Tages vorschlug, er solle die Rolle einer Gesellschafterin spielen, verletzte ihn der Gedanke, daß er Frauenkleider anziehen solle, obgleich er selbst nicht wußte, warum. Und als sie ihn rief, damit er ihr seine alten Rollen vorspiele, verschwand er.
 
Es kam ihm nie der Gedanke, daß er auch jetzt noch nicht etwas viel Besseres war als ein Bursche für alles bei einer herumziehenden Truppe. Er entschloß sich sogar, bei Scharats Geschäftsführer etwas Unterricht zu nehmen. Aber da Nilkanta der verzogene Liebling seiner Herrin war, konnte der Geschäftsführer ihn nicht ausstehen. Auch machte es die Gewohnheit seines unsteten Lebens ihm unmöglich, seine Gedanken längere Zeit auf eine Sache zu richten; bald begann das Alphabet einen verworrenen Tanz vor seinen Augen aufzuführen.
 
Er pflegte lange Zeit am Fluß zu sitzen, den Rücken an einen Tschampabaum gelehnt und das geöffnete Buch auf dem Schoß. Die Wellen seufzten zu seinen Füßen, Boote trieben an ihm vorüber, und Vögel zwitscherten um ihn herum und schwirrten rastlos über ihn hin. Welche Gedanken ihn bewegten, wenn er so dasaß und in sein Buch starrte, das wußte nur er, und vielleicht wußte er selbst es auch nicht. Er kam nie von einem Wort zum andern, aber der erhebende Gedanke, daß er tatsächlich ein Buch las, füllte seine Seele mit stolzer Freude.
 
Immer, wenn ein Boot vorbeikam, hob er sein Buch hoch und tat so, als ob er eifrig läse, indem er mit lauter Stimme deklamierte. Aber sobald die Zuhörer vorüber waren, ließ sein Eifer nach. Früher sang er seine Lieder mechanisch, aber jetzt erregten ihre Melodien seine Seele. Der Text war unbedeutend und voll von spielerischen Stabreimen. Und das Wenige, was an Sinn darin lag, ging über sein Verständnis. Doch wenn er sang:
 
Zweigeborener Vogel, ach, welch Unheil hat dich hergetragen?Was tat dir unsre Königin, daß du sie willst im Wald erschlagen?
 
so fühlte er sich in eine andere Welt versetzt, zu Wesen anderer Art. Diese vertraute Erde und sein eigenes armes Leben wurden zu Musik, und er selbst wurde ein anderer. Jenes Märchen von der Gans und der Königstochter warf ein Bild von unendlicher Schönheit auf den Spiegel seiner Seele. Es ist unmöglich zu sagen, welche Rolle er selbst in seiner Phantasie spielte, aber der arme und verlassene kleine Sklave der Schauspielertruppe war ganz vergessen.
 
Wenn ein armes verwahrlostes Kind sich am Abend hungrig und schmutzig in seinem elenden Heim schlafen legt und von Prinzen und Prinzessinnen und Märchenschätzen träumt, dann befreit sich in der dunklen Hütte mit ihrer trübe flackernden Kerze die Seele von den Banden der Armut und des Elends und schreitet in jugendlicher Schönheit und mit strahlendem Gewande kühn durch das Märchenreich, wo nichts unmöglich ist.
 
So schuf auch dieser herumgestoßene, heimatlose Knabe sich und seine Welt neu, wenn er durch die Melodien seiner Lieder schritt. Das plätschernde Wasser, die rauschenden Blätter, die zwitschernden Vögel; die Göttin, die ihm, dem Hilflosen, Verlassenen Obdach gegeben hatte, ihr Gesicht voller Anmut und Liebreiz, ihre wundervollen Arme mit den glänzenden Spangen, ihre rosigen Füße, zart wie Blumenknospen, alles dies wurde wie durch einen Zauber eins mit der Musik seines Liedes. Aber wenn das Lied zu Ende war, so schwand das Zauberbild, und er war wieder der Nilkanta der kleinen Wanderbühne mit seinen wilden Koboldlocken. Und dann kam Scharat herein, noch ganz erregt über die Klagen seines Nachbarn, dessen Mangobäume geplündert waren, und ohrfeigte und knuffte ihn. Und der Bursche Nilkanta, der Verführer der Dorfjugend, ging hinaus, um neues Unheil anzustiften zu Lande und zu Wasser und in der Luft, auf den Zweigen der Bäume.
 
Bald nach der Ankunft Nilkantas kam Scharats jüngerer Bruder Satisch, um seine Ferien in Tschandernagur zuzubringen. Kiran war entzückt, eine neue Unterhaltung zu finden. Sie und Satisch waren im gleichen Alter, und die Zeit verging ihnen angenehm mit Spiel und Streit und Verkleidungen und Lachen und selbst Weinen. Sie schlich sich von hinten an ihn heran und hielt ihm plötzlich die Augen zu, mit Scharlachpaste an den Fingern, sie schrieb „Affe“ auf seinen Rücken, oder schloß ihn unter schallendem Gelächter in sein Zimmer ein. Satisch seinerseits gab ihr nichts nach; er nahm ihr ihre Schlüssel und Ringe weg, mischte Pfeffer unter ihren Betel und band sie unbemerkt am Bettpfosten fest.
 
Gott mag wissen, was inzwischen in den armen Nilkanta gefahren war. Er war plötzlich so voll Bitterkeit, daß er sie an irgend jemandem oder irgend etwas auslassen mußte. Er verprügelte seine treu ergebenen Anhänger, so daß sie laut weinend davonliefen. Er stieß seinen Lieblingsköter, bis der Himmel von seinem Heulen widerhallte. Wenn er spazieren ging, bestreute er seinen Weg mit Zweigen und Blättern, die er mit seinem Stock von den Sträuchern am Wege hieb.


 
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