Gegen
Abend hatte das Gewitter den Höhepunkt erreicht.
Der Regen kam wütend herabgestürzt, wild krachte der Donner, und
unaufhörlich
zuckten die Blitze über den Himmel hin; es war, als ob in den Lüften
eine
Schlacht zwischen Göttern und Dämonen rase. Schwarze Wolken flatterten
daher
wie die Fahnen des Verderbens. Der Ganges war zu wilder Wut
aufgepeitscht, und
die Bäume an seinen Ufern schwankten seufzend und stöhnend hin und her.
In
einem der Häuser am Fluß, in Tschandernagur, saß
bei geschlossenen Türen und Fenstern ein Mann neben seiner Frau auf dem
Bett
und redete eindringlich auf sie ein. Eine irdene Lampe brannte neben
ihnen.
Scharat,
der Mann, sagte: „Ich wollte, du bliebst noch
ein paar Tage hier, bis du ganz wiederhergestellt bist, dann könntest
du frisch
und gesund nach Hause zurückkehren.“
Kiran
erwiderte: „Ich bin
schon ganz wiederhergestellt. Es kann mir unmöglich schaden, wenn ich
jetzt
reise.“
Jeder
Verheiratete wird sofort begreifen, daß die
Unterhaltung nicht ganz so kurz war, wie ich sie berichtet habe. Die
Sache
selbst war nicht schwierig, aber die Gründe für und wider wollten sie
zu keiner
Entscheidung kommen lassen. Wie ein steuerloses Boot drehte sich die
Diskussion
immer um denselben Punkt, bis sie zuletzt in Gefahr kam, von einem
Tränenstrom
überflutet zu werden.
Scharat
sagte: „Der Doktor meint, du solltest noch ein
paar Tage hier bleiben.“
„Dein
Doktor weiß natürlich alles“, erwiderte Kiran.
„Aber
du weißt doch auch, daß gerade jetzt überall so
viel Krankheiten sind!“ sagte Scharat. „Du tätest gut, noch ein paar
Monate
hierzubleiben.“
„Als
ob hier alle Welt gesund wäre!“
Die
Sache war die: Kiran war der allgemeine Liebling
ihrer Verwandten und Freunde, so daß, als sie ernstlich erkrankte, alle
in
großer Sorge um sie waren. Die Besserwisser im Dorfe zwar fanden
es lächerlich von ihrem Gatten, daß er sich um eine
Frau so anstellte und sogar Luftveränderung für sie für nötig hielt.
Als ob
noch niemals eine Frau krank gewesen wäre! Und meinte er denn, daß an
dem Ort,
wohin er sie bringen wollte, die Leute unsterblich seien? Aber Scharat
und
seine Mutter hatten für solche Reden taube Ohren, ihnen war das Leben
ihres
Lieblings wichtiger als alle Weisheit eines Dorfes. Denn in solchen
Fällen
haben die Menschen immer ihren eigenen Maßstab.
So
waren sie also nach Tschandernagur gereist und
Kiran war genesen, wenn sie auch noch sehr schwach war. Ihr Gesichtchen
war so
schmal und blaß, daß der Gatte, wenn er sie ansah, von Mitleid erfüllt
war, und
der Gedanke, wie nahe sie daran gewesen war, ihm zu entgleiten, machte
sein
Herz erzittern.
Kiran
liebte fröhliche Geselligkeit; das einsame Leben
in der Villa am Fluß war gar nicht nach ihrem Geschmack. Es gab nichts
zu tun,
keine interessanten Nachbarn, und sie haßte es, sich den ganzen Tag mit
Medizin
und Krankenkost zu beschäftigen. Sie hatte genug von dem ewigen
Aufwärmen und
Einlöffeln. Dies war der Gegenstand,
über den die Gatten sich unterhielten, als
sie an diesem stürmischen Abend zusammen im Schlafzimmer saßen.
Solange
Kiran sich zu Erörterungen herbeiließ, war ein
ehrlicher Kampf möglich. Aber als sie nun aufhörte, ihm zu antworten,
den Kopf
zurückwarf und verzweifelt nach der andern Seite starrte, war der arme
Mann
entwaffnet. Er war schon im Begriff, sich bedingungslos zu ergeben, als
ein
Diener etwas durch die geschlossene Tür rief.
Scharat
stand auf und öffnete die Tür. Der Diener
berichtete, daß ein Boot im Sturm gekentert, und daß es einem der
Insassen,
einem jungen Brahmanenknaben, gelungen sei, ans Ufer zu schwimmen und
in ihrem
Garten zu landen.
Kiran
war mit einem Male wieder sie selbst mit all
ihrer liebreichen Hilfsbereitschaft. Sie machte sich sofort daran,
trockenes
Zeug für den Knaben herauszusuchen. Dann wärmte sie eine Tasse Milch
und ließ
ihn in ihr Zimmer kommen.
Der
Knabe hatte langes, lockiges Haar, große
ausdrucksvolle Augen, und noch keine Spur von Flaum auf dem Gesicht.
Nachdem
Kiran ihn genötigt
hatte, etwas Milch zu trinken,
mußte er ihr alles von sich erzählen. Er sagte ihr, daß er Nilkanta
hieße und
zu einer Schauspielertruppe gehöre. Sie waren unterwegs nach einer
benachbarten
Villa, um dort zu spielen, als das Boot plötzlich im Sturm gekentert
war. Er
hatte keine Ahnung, was aus seinen Gefährten geworden war. Er war ein
guter
Schwimmer, und seine Kräfte hatten gerade noch gereicht, um ans andere
Ufer zu
gelangen.
Der
Knabe blieb bei ihnen. Daß er so mit genauer Not
einem schrecklichen Tode entronnen war, erweckte Kirans warme Teilnahme
für
ihn. Scharat fand, daß die Ankunft des Knaben gerade in diesem
Augenblick sich
sehr glücklich traf, da seine Frau Unterhaltung haben und sich
vielleicht
bewegen lassen würde, noch eine Zeitlang zu bleiben. Auch ihre
Schwiegermutter
freute sich über die Aussicht, sich dem brahmanischen Gast wohltätig
erweisen
zu können. Und Nilkanta selbst war entzückt, daß er sowohl seinem
Prinzipal wie
dem Jenseits entronnen war und zugleich in dieser reichen Familie eine
Heimat
gefunden hatte.
Aber
in kurzer Zeit wurden
Scharat und seine Mutter andern Sinnes und sehnten sich danach, ihn
wieder
loszuwerden. Der Knabe fand ein geheimes Vergnügen daran, Scharats
Pfeifen zu
rauchen; er ging mit größter Seelenruhe im strömenden Regen mit
Scharats
seidenem Regenschirm davon, um einen Spaziergang durchs Dorf zu machen,
und
freundete sich mit jedem, den er traf, an. Dazu kam noch, daß er aus
dem Dorf
einen Bastardköter mitbrachte, den er so rücksichtslos verzog, daß er
mit
schmutzigen Pfoten hereinkam und Spuren seines Besuchs auf Scharats
reiner Bettdecke
zurückließ. Dann sammelte er eine treu ergebene Schar von Jungen jeden
Standes
und Alters um sich, und die Folge war, daß in der ganzen Nachbarschaft
kein
einziger Mango in dem Sommer mehr zur Reife kam.
Es
war kein Zweifel, daß Kiran den Knaben verzog.
Scharat machte ihr oft Vorstellungen deswegen, aber sie hörte nicht auf
ihn.
Sie putzte ihn geckenhaft heraus mit Scharats abgelegten Kleidern oder
mit
neuen, die sie ihm schenkte. Und weil sie sich zu ihm hingezogen fühlte
und
auch neugierig war, mehr über ihn zu
erfahren, ließ
sie ihn beständig in ihr Zimmer rufen. Wenn sie gebadet und zu Mittag
gegessen
hatte, pflegte sie auf ihrem Bett zu sitzen, ihre silberne Betelbüchse
neben
sich, und während das Mädchen ihr das Haar kämmte und trocknete, stand
Nilkanta
vor ihr und deklamierte Stücke aus seinen alten Rollen, wobei er durch
Gesang
und Gesten das Spiel belebte, während seine Koboldlocken ihn wild
umflatterten.
So gingen die langen Nachmittagstunden fröhlich hin. Kiran versuchte
oft,
Scharat zu überreden, sich als Zuhörer zu ihnen zu setzen, aber
Scharat, der
den Jungen von Herzen verabscheute, lehnte ab. Auch konnte Nilkanta
seine Rolle
nicht halb so gut spielen, wenn Scharat da war. Seine Mutter ließ sich
mitunter
bewegen zu kommen, in der Hoffnung, in den Vorträgen heilige Namen zu
hören;
aber die Neigung zu ihrem Mittagsschläfchen erwies sich stärker als
ihre
Andacht; sie nickte jedesmal bald ein.
Der
Knabe bekam oft Knüffe und Ohrfeigen von Scharat,
aber da das nichts war im Vergleich zu dem, was er bei der
Schauspielertruppe
gewohnt gewesen war, machte er sich nicht das geringste daraus. Er
hatte aus
den Erfahrungen, die
er in seinem kurzen Leben
gemacht hatte, den Schluß gezogen, daß das menschliche Leben aus Essen
und
Schlägen besteht, und daß die Schläge bei weitem überwiegen.
Es
war schwer, Nilkantas Alter zu bestimmen. Für 14
oder 15 war sein Gesicht zu alt; für 17 oder 18 zu jung. Er war
entweder ein
frühreifer Knabe oder ein knabenhafter Jüngling. Die Sache war die, daß
er, als
er als ganz kleiner Junge zu der Schauspielertruppe kam, die Rollen der
Radhika, der Damajanti, der Sita und der Gefährtin Bidjas gespielt
hatte. Die
Vorsehung war rücksichtsvoll genug gewesen, ihn genau so groß wachsen
zu
lassen, wie sein Direktor ihn brauchte, und dann sein Wachstum
anzuhalten. Da
jeder sah, wie klein er war, und er selbst sich auch sehr klein vorkam,
wurde
ihm nicht die seinem Alter gebührende Achtung zuteil.
Alles
dies kam zusammen, um ihn mitunter als einen
unreifen Siebzehnjährigen erscheinen zu lassen, und dann wieder als
einen
Vierzehnjährigen, der aber selbst für einen Siebzehnjährigen schon zu
viel
wußte. Und als keine Spur von Flaum auf seinem Gesicht sich zeigen
wollte,
wurde die Frage noch schwieriger. Entweder
infolge
des Rauchens oder weil er sich gewöhnt hatte, altklug zu reden, zogen
sich
Falten um seinen Mund, die ihn alt und hart erscheinen ließen, aber aus
seinen
großen Augen leuchtete Unschuld und Jugend. Ich glaube, sein Herz war
jung
geblieben, nur seine äußere Erscheinung war zu früh gereift in der
Treibhausatmosphäre, die das grelle Licht der Öffentlichkeit um ihn
geschaffen
hatte.
In
dem stillen Schutz von Scharats Haus und Garten in
Tschandernagur hatte die Natur Muße, ungehindert ihr Werk zu tun. Er
hatte
unnatürlich lange im Zustande der Kindheit verharrt, jetzt glitt er
unbemerkt
und schnell aus diesem Stadium heraus und seine siebzehn oder achtzehn
Jahre
kamen zu ihrem Recht. Niemand bemerkte die Veränderung; sie zeigte sich
zuerst
darin, daß er sich schämte, wenn Kiran ihn wie einen Knaben behandelte.
Als die
lustige Kiran ihm eines Tages vorschlug, er solle die Rolle einer
Gesellschafterin spielen, verletzte ihn der Gedanke, daß er
Frauenkleider
anziehen solle, obgleich er selbst nicht wußte, warum. Und als sie ihn
rief,
damit er ihr seine alten Rollen vorspiele, verschwand er.
Es
kam ihm nie
der
Gedanke, daß er auch jetzt noch nicht etwas viel Besseres war als ein
Bursche
für alles bei einer herumziehenden Truppe. Er entschloß sich sogar, bei
Scharats Geschäftsführer etwas Unterricht zu nehmen. Aber da Nilkanta
der
verzogene Liebling seiner Herrin war, konnte der Geschäftsführer ihn
nicht
ausstehen. Auch machte es die Gewohnheit seines unsteten Lebens ihm
unmöglich,
seine Gedanken längere Zeit auf eine Sache zu richten; bald begann das
Alphabet
einen verworrenen Tanz vor seinen Augen aufzuführen.
Er
pflegte lange Zeit am Fluß zu sitzen, den Rücken an
einen Tschampabaum gelehnt und das geöffnete Buch auf dem Schoß. Die
Wellen
seufzten zu seinen Füßen, Boote trieben an ihm vorüber, und Vögel
zwitscherten
um ihn herum und schwirrten rastlos über ihn hin. Welche Gedanken ihn
bewegten,
wenn er so dasaß und in sein Buch starrte, das wußte nur er, und
vielleicht
wußte er selbst es auch nicht. Er kam nie von einem Wort zum andern,
aber der
erhebende Gedanke, daß er tatsächlich ein Buch las, füllte seine Seele
mit
stolzer Freude.
Immer,
wenn ein Boot vorbeikam, hob er sein Buch hoch
und tat so, als ob er eifrig läse, indem er
mit
lauter Stimme deklamierte. Aber sobald die Zuhörer vorüber waren, ließ
sein
Eifer nach. Früher sang er seine Lieder mechanisch, aber jetzt erregten
ihre
Melodien seine Seele. Der Text war unbedeutend und voll von
spielerischen
Stabreimen. Und das Wenige, was an Sinn darin lag, ging über sein
Verständnis.
Doch wenn er sang:
Zweigeborener
Vogel, ach, welch Unheil hat dich
hergetragen?Was tat dir unsre Königin, daß du sie willst im Wald
erschlagen?
so
fühlte er sich in eine andere Welt versetzt, zu
Wesen anderer Art. Diese vertraute Erde und sein eigenes armes Leben
wurden zu
Musik, und er selbst wurde ein anderer. Jenes Märchen von der Gans und
der
Königstochter warf ein Bild von unendlicher Schönheit auf den Spiegel
seiner
Seele. Es ist unmöglich zu sagen, welche Rolle er selbst in seiner
Phantasie
spielte, aber der arme und verlassene kleine Sklave der
Schauspielertruppe war
ganz vergessen.
Wenn
ein armes verwahrlostes Kind sich am Abend
hungrig und schmutzig in seinem elenden Heim schlafen legt und von
Prinzen und
Prinzessinnen und Märchenschätzen träumt, dann
befreit
sich in der dunklen Hütte mit ihrer trübe flackernden Kerze die Seele
von den
Banden der Armut und des Elends und schreitet in jugendlicher Schönheit
und mit
strahlendem Gewande kühn durch das Märchenreich, wo nichts unmöglich
ist.
So
schuf auch dieser herumgestoßene, heimatlose Knabe
sich und seine Welt neu, wenn er durch die Melodien seiner Lieder
schritt. Das
plätschernde Wasser, die rauschenden Blätter, die zwitschernden Vögel;
die
Göttin, die ihm, dem Hilflosen, Verlassenen Obdach gegeben hatte, ihr
Gesicht
voller Anmut und Liebreiz, ihre wundervollen Arme mit den glänzenden
Spangen,
ihre rosigen Füße, zart wie Blumenknospen, alles dies wurde wie durch
einen
Zauber eins mit der Musik seines Liedes. Aber wenn das Lied zu Ende
war, so
schwand das Zauberbild, und er war wieder der Nilkanta der kleinen
Wanderbühne
mit seinen wilden Koboldlocken. Und dann kam Scharat herein, noch ganz
erregt
über die Klagen seines Nachbarn, dessen Mangobäume geplündert waren,
und
ohrfeigte und knuffte ihn. Und der Bursche Nilkanta, der Verführer der
Dorfjugend, ging hinaus, um neues
Unheil
anzustiften zu Lande und zu Wasser und in der Luft, auf den Zweigen der
Bäume.
Bald
nach der Ankunft Nilkantas kam Scharats jüngerer
Bruder Satisch, um seine Ferien in Tschandernagur zuzubringen. Kiran
war
entzückt, eine neue Unterhaltung zu finden. Sie und Satisch waren im
gleichen
Alter, und die Zeit verging ihnen angenehm mit Spiel und Streit und
Verkleidungen und Lachen und selbst Weinen. Sie schlich sich von hinten
an ihn
heran und hielt ihm plötzlich die Augen zu, mit Scharlachpaste an den
Fingern,
sie schrieb „Affe“ auf seinen Rücken, oder schloß ihn unter schallendem
Gelächter in sein Zimmer ein. Satisch seinerseits gab ihr nichts nach;
er nahm
ihr ihre Schlüssel und Ringe weg, mischte Pfeffer unter ihren Betel und
band
sie unbemerkt am Bettpfosten fest.
Gott
mag wissen, was inzwischen in den armen Nilkanta
gefahren war. Er war plötzlich so voll Bitterkeit, daß er sie an irgend
jemandem oder irgend etwas auslassen mußte. Er verprügelte seine treu
ergebenen
Anhänger, so daß sie laut weinend davonliefen. Er stieß seinen
Lieblingsköter,
bis der Himmel von seinem
Heulen widerhallte. Wenn er
spazieren ging, bestreute er seinen Weg mit Zweigen und Blättern, die
er mit
seinem Stock von den Sträuchern am Wege hieb.