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04.3
Die
Nacht der Erfüllung
Erzählungen
Rabindranath
Tagore
Der
Ausgestossene - Seite 2
Kiran
mochte den Menschen gern etwas Gutes zu essen
vorsetzen. Nilkanta konnte im Essen Unglaubliches leisten und wies nie
einen
guten Bissen zurück, wie oft man ihn ihm auch bot. Daher ließ Kiran ihn
gern zu
sich rufen, damit er bei ihr aß; es machte ihr die größte Freude
zuzusehen, wie
dieser Brahmanenknabe sich ordentlich satt aß, und sie überhäufte ihn
mit
Leckerbissen. Nachdem Satisch gekommen war, hatte sie viel weniger Zeit
für
Nilkanta übrig und war selten dabei, wenn er sein Essen bekam. Sonst
hatte ihre
Abwesenheit seinen Appetit nicht beeinträchtigt, und er stand nicht
auf, bis er
seine Milch bis auf den letzten Tropfen getrunken und die Tasse noch
gründlich
mit Wasser nachgespült hatte. Aber jetzt war er unglücklich, wenn Kiran
nicht
dabei war, um ihn zu diesem oder jenem Gericht zu nötigen, und nichts
wollte
ihm schmecken. Er stand auf, ohne viel gegessen zu haben, und sagte
gepreßt:
„Ich bin nicht hungrig.“ Er
bildete sich ein, daß
Kiran von seiner dauernden Appetitlosigkeit hören würde; er malte sich
ihre
Besorgnis aus und hoffte, sie würde ihn rufen lassen und ihn zum Essen
drängen.
Aber nichts dergleichen geschah. Kiran erfuhr nie davon und ließ ihn
nicht
rufen, und das Mädchen aß alles auf, was er übrigließ. Dann löschte er
die
Lampe in seinem Zimmer aus, warf sich in der Dunkelheit aufs Bett und
drückte
krampfhaft schluchzend das Gesicht in die Kissen. Was war sein Kummer?
Wer
hatte ihm etwas getan? Und wer sollte ihm helfen? Endlich, wenn niemand
kam,
neigte sich der Schlaf mütterlich über ihn und besänftigte liebkosend
das wehe
Herz des mutterlosen Knaben.
Nilkanta
kam zu der festen Überzeugung, daß Satisch
Kiran gegen ihn einnahm. Wenn Kiran zerstreut war und ihm nicht wie
sonst
freundlich zunickte, zog er sofort daraus den Schluß, daß Satisch ihn
bei ihr
verleumdet hätte. Er betete jeden Tag zu den Göttern mit der ganzen
Inbrunst
seines Hasses, sie möchten ihn in seinem nächsten Leben als Satisch und
Satisch
als Nilkanta geboren werden lassen. Er glaubte, daß der Zorn eines
Brahmanen
nicht wirkungslos
sei, und je mehr er Satisch mit
dem Feuer seiner Flüche zu verzehren suchte, je mehr verzehrte sich
sein
eigenes Herz. Und dabei hörte er, wie Satisch oben mit seiner
Schwägerin
scherzte und lachte.
Nilkanta
wagte es nie, Satisch seine Feindschaft offen
zu zeigen. Aber er fand hundert kleine Gelegenheiten, ihn zu ärgern.
Wenn
Satisch beim Baden auf den Fluß hinausschwamm und seine Seife auf den
Stufen
des Badeplatzes liegen ließ, so war sie, wenn er zurückkam, allemal
verschwunden. Einmal schwamm ihm sein schöner gestreifter
Lieblingskittel
davon, und er glaubte, der Wind habe ihn ins Wasser geweht.
Eines
Tages wollte Kiran Satisch eine Unterhaltung
verschaffen und ließ Nilkanta rufen, daß er wie sonst seine Rollen
vordeklamierte. Aber er stand in finsterem Schweigen da. Ganz
überrascht fragte
ihn Kiran, was ihm fehle. Nilkanta gab keine Antwort. Und als sie ihn
noch
einmal drängte, er solle ein besonderes Lieblingsstück von ihr
vortragen, sagte
er: „Ich habe es vergessen“ und ging hinaus.
Endlich
kam die Zeit ihrer Rückkehr nach Hause.
Jeder war mit Packen beschäftigt. Satisch sollte mit
ihnen reisen. Aber zu Nilkanta sagte niemand ein Wort. Die Frage, ob er
mitgehen solle oder nicht, schien niemandem eingefallen zu sein.
Natürlich
war diese Frage von Kiran aufgeworfen
worden, und sie hatte den Vorschlag gemacht, ihn mitzunehmen. Aber
sowohl ihr
Gatte wie seine Mutter und sein Bruder waren so energisch dagegen
gewesen, daß
sie die Sache aufgab. Ein paar Tage vor der Abreise ließ sie den Knaben
rufen
und riet ihm mit freundlichen Worten, wieder zu den Seinen
zurückzukehren.
Er
hatte sich solange von ihr vernachlässigt gefühlt,
daß ihr gütiger Ton ihn jetzt überwältigte; er brach in Tränen aus.
Auch Kirans
Augen füllten sich mit Tränen. Ihr Gewissen sagte ihr, daß sie hier
gedankenlos
und selbstsüchtig ein Band geknüpft hatte, das nicht dauern konnte.
Aber
Satisch wurde unwillig, als er diesen großen
Jungen weinen sah. „Was steht der Narr da und heult, statt zu
sprechen?“ sagte
er. Und als Kiran ihn ein gefühlloses Geschöpf schalt, erwiderte er:
„Liebe
Schwester, das verstehst du nicht. Du bist zu gut und vertrauensvoll.
Dieser Bursche
kommt von Gott weiß wo hergelaufen
und wird wie ein König behandelt. Natürlich hat der Tiger nicht Lust,
wieder in
eine Maus verwandelt zu werden.[33] Und
augenscheinlich hat er sich gemerkt, daß dein Herz mit ein paar Tränen
leicht
zu rühren ist.“
Nilkanta
eilte hinaus. Er hätte ein Messer sein mögen,
um Satisch zu zerfleischen, eine Nadel, um ihn durch und durch zu
stechen, ein
Feuer, um ihn zu Asche zu verbrennen. Aber Satisch trug nicht einmal
eine Schramme
davon. Nur sein eigenes Herz blutete unaufhörlich.
Satisch
hatte ein großes Tintenfaß von Kalkutta
mitgebracht. Der Tintenbehälter steckte in einem Perlmutter-Boot, das
von einer
neusilbernen Gans gezogen wurde, die einen Federhalter trug. Er liebte
es sehr
und reinigte es jeden Tag sorgfältig mit einem alten seidenen
Taschentuch.
Kiran pflegte dem Vogel lachend auf seinen silbernen Schnabel zu
klopfen und zu
singen:
„Zweigeborner
Vogel, ach, welch Unglück hat dich
hergetragen?“ und
dann begannen die
beiden sich wie gewöhnlich zu necken.
Am
Tage vor ihrer Abreise fehlte das Tintenfaß und war
nirgends zu finden. Kiran sagte lachend: „Schwager, deine Gans ist
weggeflogen,
um deine Damajanti zu suchen[34].“
Aber
Satisch war in großer Wut. Er war fest überzeugt,
daß Nilkanta es gestohlen hätte, denn man hatte ihn am Abend vorher um
das
Zimmer herumlungern sehen. Er ließ den Angeschuldigten rufen. Kiran war
auch
da. „Du hast mein Tintenfaß gestohlen, du Dieb!“ brach er los. „Bring
es
sogleich her!“ Nilkanta hatte von Scharat alle Strafen und
Züchtigungen, ob sie
nun verdient waren oder unverdient, mit vollkommenem Gleichmut
hingenommen.
Aber als man ihn in Kirans Gegenwart einen Dieb schalt, flammten seine
Augen in
wildem Zorn auf, seine Brust wogte, und seine Kehle war wie
zugeschnürt. Wenn
Satisch noch ein Wort gesagt hätte, so hätte er sich wie eine wilde
Katze auf
ihn gestürzt und seine Nägel als Krallen gebraucht.
Kiran
war sehr unglücklich über diese Szene. Sie
führte den Knaben hinaus in ein anderes Zimmer und
sagte in ihrem liebevollen, gütigen Ton: „Nilu, wenn du das Tintenfaß
wirklich
genommen hast, gib es mir ganz still zurück; dann will ich schon dafür
sorgen,
daß dir niemand ein Wort darüber sagt.“ Große Tränen rannen über die
Wangen des
Knaben, bis er endlich bitterlich weinend sein Gesicht in den Händen
verbarg.
Kiran ging zu den andern zurück und sagte: „Ich bin sicher, daß
Nilkanta das
Tintenfaß nicht genommen hat.“ Aber Scharat und Satisch waren ebenso
fest
überzeugt, daß kein anderer als Nilkanta es getan hätte. „Ganz gewiß
nicht!“
versicherte Kiran. Scharat wollte mit dem Jungen ein Kreuzverhör
anstellen,
aber seine Frau ließ es nicht zu.
Dann
machte Satisch den Vorschlag, sein Zimmer und
seinen Koffer zu untersuchen. „Wenn ihr das zu tun wagt,“ sagte Kiran,
„so
werde ich euch nie in meinem Leben verzeihen. Ihr sollt diesem armen
unschuldigen Knaben nicht nachspionieren.“ Und dabei füllten sich ihre
Augen
mit Tränen. Das entschied die Sache und bewirkte, daß man Nilkanta in
Ruhe
ließ.
Kirans
Herz quoll über von
Mitleid mit dem armen heimatlosen Jungen, den man so hatte kränken
wollen. Sie
kaufte zwei neue Anzüge und ein Paar Schuhe, und mit diesen Sachen und
mit
einer Banknote ging sie am Abend leise in Nilkantas Zimmer.
Sie
wollte ihm
diese Abschiedsgeschenke als Überraschung in den Koffer legen. Der
Koffer
selbst war auch ein Geschenk von ihr.
Aus
ihrem Schlüsselbund suchte sie einen aus, der
paßte, und öffnete geräuschlos den Koffer. Er war so vollgestopft mit
verschiedenen Dingen, daß die neuen Kleidungsstücke nicht mehr Platz
darin
hatten. Daher schien es ihr besser, alles herauszunehmen und den Koffer
für ihn
zu packen. Zuerst kamen Messer, Kreisel, Rollen mit Drachenschnur,
Bambuszweige, polierte Muscheln zum Schälen von unreifen Mangos, Böden
von
zerbrochenen Gläsern, kurz all solche Dinge, woran ein Knabenherz
hängt. Dann
kam eine Schicht Wäsche, rein und schmutzig durcheinander. Und ganz
unten,
unter der Wäsche, lag das vermißte Tintenfaß mit Gans und allem!
Kiran
stieg das Blut heiß in die Wangen, sie sank
wie betäubt neben dem Koffer nieder, das Tintenfaß in
der Hand, ganz verwirrt und ratlos.
Inzwischen
war Nilkanta von hinten ins Zimmer
gekommen, ohne daß Kiran ihn bemerkte. Er hatte alles gesehen und
glaubte, daß
Kiran sich bei ihm eingeschlichen habe, um ihn als Dieb zu entlarven,
und daß
seine Tat nun entdeckt sei. Wie konnte er je hoffen, sie zu überzeugen,
daß er
kein Dieb sei und daß nur Rachsucht ihn bewogen hatte, das Tintenfaß
wegzunehmen mit der Absicht, es bei nächster Gelegenheit in den Fluß zu
werfen?
In einem schwachen Augenblick hatte er es statt dessen in seinem Koffer
versteckt. „Ich bin kein Dieb!“ rief es in ihm; „ein Dieb bin ich
nicht!“ Was
war er denn? Was hätte er sagen können? Er hatte gestohlen und war doch
kein
Dieb! Er würde Kiran nie begreiflich machen können, welch schweres
Unrecht sie
ihm tat, wenn sie ihn für einen Dieb hielt! Und wie konnte er es je
vergessen,
daß sie versucht hatte, ihm nachzuspionieren?
Endlich
legte Kiran mit einem tiefen Seufzer das
Tintenfaß in den Koffer zurück, und als sei
sie
selbst der Dieb, verbarg sie es wieder unter der Wäsche und den anderen
Dingen,
und obenauf legte sie die Geschenke und die Banknote, die sie
mitgebracht
hatte.
Am
nächsten Tage war der Knabe nirgends zu finden. Die
Leute im Dorf hatten ihn nicht gesehen, die Polizei konnte keine Spur
von ihm
entdecken. „Nun laßt uns doch einmal unsere Neugierde befriedigen und
seinen
Koffer ansehen“, meinte Scharat. Aber Kiran ließ es nicht zu.
Sie
ließ den Koffer auf ihr Zimmer bringen, und
nachdem sie das Tintenfaß herausgenommen hatte, warf sie es in den
Fluß.
Die
ganze Familie kehrte nach Hause zurück. Am
nächsten Tage lag der Garten verlassen da. Nur Nilkantas hungriger
kleiner
Köter lief suchend am Flußufer auf und ab und heulte und heulte, als ob
ihm das
Herz brechen wollte.
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